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Verstörend und aufrüttelnd
Von Ursula Decker-Bönniger
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Fotos von Pedro Malinowski
Als Benjamin Britten den Kompositionsauftrag zum War Requiem bekam, waren die leidvollen Kriegserinnerungen noch ungebrochen. Das tonal gehaltene und dissonant durchmischte, großbesetzte Oratorium für drei Solisten, Kammerorchester, Chor und großes Orchester, für Jungenchor und Orgel war eine Auftragskomposition an den zeitweilig von den eigenen Landsleuten wegen seiner streng pazifistischen Antikriegshaltung angefeindeten Britten und wurde 1962 anlässlich der Wiedereinweihung der im 2. Weltkrieg zerstörten Coventry Cathedral uraufgeführt. Die Kombination aus lateinischen, liturgischen Texten und englischen Gedichten des 1918 in Nordfrankreich gefallenen Wilfried Owen sollte eine Anklage sein, eine Warnung an die Nachwelt.
Elisabeth Stöppler hat diesen Auftrag ernst genommen und setzt sich in einer düsteren, analytisch durchdachten, aufrüttelnden und einfühlsamen Inszenierung, die den naiv verstörenden und verstörten Kinderblick ebenso wie die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt rückt, mit dem Thema Krieg und Gewalt auseinander.
Die Besonderheit an Stöpplers Weg, das Oratorium mit szenischen Darstellungen zu erweitern bzw. uns vor Augen zu führen, liegt vor allem im spürbaren Teamwork von Bühne, Kostümen, Dramaturgie, Regie und musikalischer Leitung, in der einfühlsamen, filmmusikalische Techniken aufgreifenden Verknüpfung von Bild und Musik. Bis ins kleinste Detail wird der harmonisch-rhythmische, emotionale Gehalt von Brittens Musik aufgespürt. Nicht nur Solisten, sondern auch das Kammerorchester und die chorischen Menschenmassen sind schauspielerisch in die auf der Bühne wechselnden Handlungsorte und das szenische Geschehen mit einbezogen. Es entsteht ein packendes, einem Filmopus ähnelndes Gesamtkunstwerk, das den Fokus des Publikums mal aufs Auge, mal aufs Ohr lenkt.
Zu Beginn hat sich eine typische Kleinfamilie vor dem Fernseher versammelt. Zärtlich streicht und bürstet die Mutter die frisch gewaschenen Haare der im Bademantel vor dem Sofa hockenden Tochter, während der Vater einen Blick in die Zeitung wirft und sich Sohnemann in die Spielkonsole vertieft. Alle verfolgen mehr oder weniger aufmerksam die BBC-Nachrichten. Plötzlich nehmen die hier und da eingeblendeten Kriegsgeräusche zu, Nicht enden wollende MG-Salven wechseln vom Fernseher zu den Raumlautsprechern. Das traute, friedvolle, die Nachrichten distanziert betrachtende Beisammensein wechselt spätestens in dem Moment in Neugier, Bestürzung und Wehklagen, als ein toter Soldat unter hektischer Medienpräsenz aus dem Kammerorchestergraben in das Wohnzimmer im wahrsten Sinne des Wortes einfällt. Leise, langsam und wie eine trauernde Anklage setzen sich sodann das große Orchester und der an einen responsorialen Wechselgesang erinnernden Chor mit dem lateinischen Requiem aeternam in Bewegung.
Ähnlich der dramatischen Grundidee des Oratoriums, der Kombination aus religiösen Texten der lateinischer Totenmesse und neun sehr persönlichen Antikriegsgedichten des englischen Dichters Wilfred Owen, lässt Elisabeth Stöppler in immer neuen Situationen und unter permanenter, auf Leinwände projizierter Medienpräsenz wirkungsvoll naive Allmachtsfantasien auf Bilder von Blutvergießen, Tod und persönlichem Leid prallen. Es wird das Bild einer modernen, auf persönlichen Erfolg und Selbstverwirklichung konzentrierten Gesellschaft gezeichnet, die zur Erreichung ihrer Ziele vor Gewalt nicht zurückschreckt.
Zugleich wechseln die Rollenzuweisungen der Gesangssolisten. Der anfangs pazifistisch eingestellte, im Dies Irae über den Tod seines Sohnes verzweifelte Vater mutiert im Sanctus aus Eifersucht zum Mörder. Seine im Requiem aeternam um ihren Sohn trauernde, Abschied nehmende Ehefrau sonnt sich im Sanctus - in ein verführendes, britisches Flaggengewand mit langer Schleppe gehüllt und mit wunderbar rot schillernder, soldatischer Kopfbedeckung ausgestattet in nationalstolzen Eitelkeiten. Der verantwortungslos mit Waffen spielende Sohn wird im Offertorium in ödipaler Allmachtsfantasie zum Vatermörder, als im Owen-Text ironisch die biblische Erzählung über Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn Isaac zu opfern, aufgegriffen wird. Kurze Zeit später wird das Kind auch den Soldaten erstechen.
Stöpplers Inszenierung bezieht in ihre spannungsvolle, hochemotionale, kritische Auseinandersetzung auch die Rolle der Kirche mit ein. Zu Projektionen blutüberströmter Leichen wird auf das Symbol eucharistischer Wandlung angespielt, indem eine Frau einen Eimer anklagend in die Höhe hebt oder das Kind stellvertretend für alle im Krieg geopferten Söhne mit Dornenkrone projiziert wird. Es gibt zwar Ruhemomente, aber keine Distanz, keine Intimität. Immer wieder folgen Tod und Auferstehung unmittelbar aufeinander, fordern Trillerpfeifen, Kinderlieder und nicht zuletzt Brittens Komposition die Aufmerksamkeit des Betrachters.
Geschrieben für drei besondere Solisten, - den deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, die russische Sopranistin Galina Vishnevskaya und den britischen Tenor Peter Pears -, lässt Britten sein Werk quasi als weitere Geste der Versöhnung auf einem F-Dur Akkord enden. In der Stöppler-Inszenierung beginnen die Beteiligten sich mit schamhaft verstörtem Blick bis auf die weiße Unterwäsche auszuziehen, derweil Tenor und Bariton am Ende des Libera me im Duett die leise, intim gehaltene Aufforderung Let us sleep now vortragen. Das Ganze endet mit einem fragenden, stumm ins Publikum gerichteten Blick der Tochter.
Gesangssolisten, Kammer- und großes Orchester, Schauspieler, Kameramann und vor allem die verschiedenen Chöre offenbaren unter der musikalischen Leitung von Rasmus Baumann ein packendes, ausdrucksstarkes, großartiges Gesamtkunstwerk, das dynamisch und detailliert den musikalischen Bogen spannt. Die Chöre überzeugen mit rhythmisch präzisen, intonationssicheren Darbietungen. Eindringlich gestaltet die Sopranistin Petra Schmidt das Lacrimosa. Zwischen Verzweiflung und individuellem Aufbegehren schwankend trägt Tenor William Saetre die anklagenden Owen-Texte vor. Fesselnd und sehr differenziert im Ausdruck stellt Björn Waag, mit seinem lyrischen, klaren, klangschönen Bariton den widersprüchlichen Charakter des Soldaten dar. Vor allem seine kammermusikalischen Bekenntnisse gehen unter die Haut.
Ein unvergessliches Gesamtkunstwerk mit einem faszinierenden Chor und tollen Sängern.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Video
Choreinstudierung
Choreinstudierung Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Sopran / Mutter
Tenor / Vater
Bariton / Soldat
Grace
Ben
Filmer (Live-Video)
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