Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum



Lo Schiavo (Der Sklave)

Dramma lirico in vier Akten

Libretto von Rodolfo Paravicini nach einem Entwurf von Alfredo Visconde de Taunay d'Escragnolle

Musik von Antônio Carlos Gomes

in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 50' (eine Pause)

Premiere im Stadttheater Gießen am 29. Januar 2011

 



Stadttheater Gießen
(Homepage)

Italienischer Verismo aus Brasilien

Von Thomas Molke / Fotos von Rolf K. Wegst

Brasilien gilt zwar durchaus als Land der Musik. Dabei mag man aber eher an Samba-Klänge und Karneval in Rio de Janeiro denken, weniger an die Oper. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn das 19. Jahrhundert hat einen sehr bedeutenden klassischen Komponisten hervorgebracht, der nach jahrelangen Studien und beachtlichen Erfolgen in Italien in seine Heimat zurückkehrte und die europäische Oper dort salonfähig machte: Antônio Carlos Gomes. Zurück in Brasilien widmete er sich den Themen seiner Heimat und schuf ein Werk, welches zwar erst ein Jahr nach der Unterzeichnung der "Lei Áurea", die die Sklaverei im größten der südamerikanischen Länder zumindest auf dem Papier endgültig abschaffte, zur Uraufführung kam, dem enthusiastischen Freiheitskampf der Brasilianer aber kaum einen besseren musikalischen Ausdruck geben konnte: Lo Schiavo. Dabei komponierte Gomes, geprägt von Größen wie Donizetti, Bellini, Mercadante und vor allem Verdi, auf der Schwelle zwischen gefühlsgetränkter italienischer Romantik und purem Verismo und nahm so wichtige Komponisten wie Ponchielli, Giordano und Mascagni voraus. Daher ist es sehr erstaunlich, dass Lo Schiavo bis jetzt noch nicht den Weg auf die deutschen Opernbühnen geschafft hat. Nur das Stadttheater Bern wagte 1977 die europäische Erstaufführung dieser großen tragischen Oper. Höchste Zeit also, dass dieser zu Unrecht vergessene Komponist auch in Deutschland einen festen Platz findet. Das Stadttheater Gießen macht hier einen lobenswerten Anfang.

Bild zum Vergrößern

Ilàra (Virginia Todisco) und Americo (Adrian Xhema) schwören sich ewige Liebe.

Erzählt wird die Geschichte des Sklaven Iberè, des Anführers der Tamojo, eines brasilianischen Ureinwohnerstammes, zur Zeit der Kämpfe zwischen Portugiesen und Franzosen um 1567. Dieser arbeitet zunächst auf der Plantage des portugiesischen Grafen Rodrigo. Der Graf verheiratet ihn mit der Sklavin Ilàra, die den Sohn des Grafen, Americo, liebt, und verkauft beide Sklaven an die französische Gräfin de Boissy, damit sein Sohn Ilàra vergisst. Die Gräfin lässt bei einem rauschenden Fest alle Sklaven frei, und so landen Iberè und Ilàra in bitterster Armut, was Iberè veranlasst, sich dem Kampf gegen die portugiesischen Besatzer anzuschließen. Während Iberè verzweifelt um die Liebe seiner Frau kämpft, kann Ilàra ihren Americo, dem sie ewige Treue geschworen hat, nicht vergessen und weist die Avancen ihres Ehemannes konstant zurück. Als Americo schließlich den Rebellen in die Hände fällt, hat Iberè die Möglichkeit, den Rivalen auszuschalten. Aber aus Liebe zu Ilàra lässt er ihn frei und ermöglicht ihm gemeinsam mit seiner Frau die Flucht. Er selbst opfert sich den aufgebrachten Kampfgefährten.

Bild zum Vergrößern

Iberè (Adrian Gans, links) und Ilàra (Virginia Todisco) werden vom Conte Rodrigo (Stephan Bootz, ganz rechts) zwangsverheiratet. Gianfèra (Chi Kyung Kim) schaut amüsiert zu.

Regisseur Joachim Rathke hat die Handlung des Stückes in die Jetztzeit verlegt. Zwar ist zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei in Brasilien schon lange abgeschafft, aber durch eine neue, nicht weniger perfide Art der Unterdrückung ersetzt worden: der Lohnsklaverei. So wird während der Ouvertüre ein riesiger Theaterprospekt mit einem Foto der berühmten brasilianischen Statue Cristo Redentor auf dem Berg Corcovado sichtbar, die in der linken Hand einen Kaffeebecher hält. Über dem Prospekt befindet sich die brasilianische Reklame: "Se deus tomasse café, o café redentor" ("Wenn Gott einen Kaffee trinkt, dann im Café Redentor"). Die Plantage ist also in eine Fabrik umgewandelt worden, in der Kaffeebohnen für die Touristenmetropole am Zuckerhut produziert werden. Die sich in der Fabrikhalle abspielende Handlung dürfte aber doch eher aus vergangener Zeit stammen. Wenn sich der Bühnenprospekt hebt, werden nämlich Arbeiter in gelben Jacken sichtbar, die vor den Augen des Aufsehers Gianfèra (Chi Kyung Kim) gerade eine Sklavin vergewaltigt haben. In großem Kontrast dazu steht eine Marienstatue in einer Nische auf der linken Seite der Bühne. Die Sklaven tragen hellblaue Kittel, mit einer goldenen Kaffeebohne. Als Iberè (Adrian Gans) vom Aufseher beschuldigt wird, unter den Sklaven einen Aufstand provozieren zu wollen, und ausgepeitscht werden soll, greift Americo (Adrian Xhema) ein. In einem blau gestreiften Polohemd mit einem Golfschläger in der Hand tritt er zwar eher wie ein Dandy auf, beweist aber Gianfèra gegenüber absolute Autorität und verhindert eine Züchtigung Iberès. Der folgende Freundschaftsschwur zwischen den beiden erinnert doch sehr an Marquis Posa und Don Carlo in Verdis gleichnamiger Oper. Auch das innige Duett zwischen Americo und der Sklavin Ilàra (Virginia Todisco), in dem sie sich ewige Treue schwören, stellt einen musikalischen Glanzpunkt des ersten Aktes dar, den Virginia Todisco und Adrian Xhema mit einer sehr romantischen Untermalung des Orchesters unter Carlos Spierer zum besten geben. Der Revolver, den Americo Ilàra als Zeichen der Treue übergibt, wird im weiteren Verlauf der Handlung noch von Bedeutung sein. Nach so viel Romantik endet der erste Akt ziemlich brutal, wenn der Graf Rodrigo (Stefan Bootz) Ilàra mit Iberè zwangsverheiratet und verkauft.

Bild zum Vergößern

Die Contessa di Boissy (Carla Maffioletti) schenkt als Madonna den Sklaven die Freiheit.

Der zweite Akt spielt bei den französischen Besatzern. Bühnenbildner Bernhard Niechotz hat dafür die Fabrikhalle des ersten Aktes größtenteils beibehalten. Die Sklaverei ist also die gleiche, egal, ob man den Portugiesen oder den Franzosen dient. Dennoch wird durch das rosafarbene feine Mobiliar und das Outfit der Gräfin di Boissy (Carla Maffioletti) deutlich, dass hier schon ein anderer Wind weht. Man gibt sich wesentlich feiner. Die Gräfin zwitschert wie ein Singvögelchen zarte Koloraturen, wobei Carla Maffioletti in den Höhen an ihre Grenzen stößt. Ihr Spiel ist dabei aber bezaubernd schön. In Anlehnung an die französische Grand Opéra hat Gomes an dieser Stelle auch ein die Handlung retardierendes Ballett eingebaut, was ebenfalls im Kontrast zum ersten Akt steht. Warum Joachim Rathke an dieser Stelle eine Sambagruppe auftreten lässt, bleibt diskutabel, zumal die Musik einerseits in keiner Weise an Samba erinnert und andererseits die den Samba andeutenden Bewegungen zur Musik ziemlich aufgesetzt wirken. Ein regelrecht großartiges Tableau schafft Rathke aber in der Szene, in der die Gräfin die Freilassung der Sklaven beschließt. In der gleichen Kostümierung wie die in der Nische befindliche Marienstatue schwebt Carla Maffioletti in einem goldenen Käfig über die Bühne. Die übertriebenen Gesten, die sie dabei ausführt, werden vom Chor übernommen. Zynisch wirkt, dass ihr Schleier den gleichen Blauton hat wie die Kittel der Sklaven. Die Sklaven legen zwar die Kittel ab und werden in ein grelles Sonnenlicht entlassen. Die so erlangte Freiheit wird ihnen aber nichts nützen.

Bild zum Vergößern

Ilàra (Virginia Todisco) träumt von Americo.

Nach der Pause zeigt eine Müllkippe auf einem schwarz-weißen Bühnenprospekt wohin die Freiheit Iberè und Ilàra geführt hat: ins Elend. Sie hausen nun in einem ausgetrockneten Kanal, wobei das überdimensionale Kanalrohr den Eingang zu ihrer Wohnung darstellt. Virginia Todisco besingt mit betörend schönem Sopran von ihrer Sehnsucht nach Americo, den sie verzweifelt wiedersehen möchte. Dabei hält sie die Pistole als Pfand der Liebe in der Hand und träumt sich zwischen der auf der Müllkippe aufgehängten Wäsche in eine andere Welt. Auch Iberè ist unglücklich, weil sie seine Liebe nicht erwidert und noch nicht einmal seine Freundschaft annimmt. Stattdessen stellt sie es ihm frei, sie mit Americos Pistole zu erschießen, die er nach der Auseinandersetzung an sich nimmt. Sehr bewegend bricht Adrians Gans' voluminöser Bariton in der folgenden Arie, wenn er in seiner Verzweiflung zu weinen beginnt. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich den Rebellen anzuschließen. Als Zeichen des Aufstandes tragen alle rote Kapuzenpullis. Und wieder taucht der Blauton der Sklaverei auf: dieses Mal in Form der Fahnen, die aus blauen Mülltüten bestehen.

Bild zum Vergrößern

Iberè (Adrian Gans) ist verzweifelt, weil Ilàra ihn niemals lieben wird.

Als Übergang vom dritten zum vierten Akt folgt nun ein Zwischenspiel, dass dem berühmten Intermezzo aus der Cavalleria Rusticana in nichts nach steht. Mit Ilàras Kleid in den Armen träumt Iberè von einer glücklichen Zukunft mit seiner Frau. Die poetische Naturbeschreibung, die in diesem Interludium die Morgendämmerung ankündigt, scheint eine Prise "Brasilianità" in sich zu bergen. Joachim Rathke lässt Kinder auftreten, die nach einem kurzen Spiel auf der Müllkippe die herumliegenden Müllsäcke aufpusten und wie Luftballons steigen lassen: eine Illusion von einer besseren Welt. Aus diesem Traum wird Iberè gerissen, als die Rebellen Americo gefangen nehmen. Jetzt hätte Iberè Gelegenheit, den Rivalen auszuschalten. Aber Ilàra will lieber mit Americo sterben. In dieser Ausweglosigkeit ermöglicht Iberè den Liebenden die Flucht. Er selbst bleibt zurück mit dem Pfand der Liebe, der Pistole Americos. Mit dieser richtet er sich, als sich der wütende Mob auf ihn stürzen will.

Bild zum Vergrößern

Iberè (Adrian Gans, links) hat Americo (Adrian Xhema, rechts) in seiner Gewalt.

Gesanglich bewegt sich die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Virginia Todisco übertönt mit strahlendem Sopran als Ilàra in den Tutti sowohl den Chor als auch das fulminant aufspielende Orchester. In den lyrischen Passagen gelingen ihr ebenfalls sehr bewegende Momente. Adrian Xhema, Gast vom Staatstheater am Gärtnerplatz in München, ruft mit der vielleicht einzigen bekannten Arie "Quando nascesti tu" im 2. Akt den ersten Szenenapplaus hervor, da er diese Arie zwar mimisch etwas angestrengt, aber stimmlich hervorragend bewältigt. Auch im ersten und letzten Akt glänzt  er mit seinem kräftigen Tenor. Stimmlich und optisch eine Idealbesetzung ist Adrian Gans als Iberè. Mit sehr fundiertem Bariton macht er die Titelpartie zum Sympathieträger des Stückes. Denn auch wenn es der operntypische Konflikt zwischen Tenor, Sopran und Bariton ist, muss man bei diesem Werk festhalten, dass der Bariton ausnahmsweise mal nicht der Böse ist. Chor und Extrachor unter der Leitung von Jan Hoffmann ertönen sehr homogen, klingen in einzelnen Passagen jedoch fast zu voluminös für das kleine Haus. Die Ensemblemitglieder Stephan Bootz als Conte Rodrigo und Goitacà, Carla Maffioletti als Contessa di Boissy und Chi Kyung Kim als Gianfèra runden die hervorragende Sängerleistung ab. Carlos Spierer zaubert aus dem Orchestergraben einen voluminösen Klangteppich, der italienischer nicht klingen könnte, und wechselt zwischen lyrischen Passagen in den Arien und Duetten, großen Tableaus in den Chorpassagen und purem Verismo in den Zwischenstücken. So gibt es am Ende lang anhaltenden und verdienten Applaus für alle Beteiligten.

 

FAZIT

Dieses Werk könnte die Wiederentdeckung des Jahres werden. Dem Stadttheater Gießen ist wieder einmal ein ganz großer Coup gelungen.


Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Carlos Spierer

Inszenierung
Joachim Rathke

Bühnenbild
Bernhard Niechotz

Kostüme
Lukas Noll

Licht

Kati Moritz

Chor

Jan Hoffmann

Dramaturgie
Christian Steinbock

 

Chor und Extrachor des
Stadttheater Gießen

Sambagruppe und
Kinderstatisterie des
Stadttheater Gießen

Philharmonisches Orchester
Gießen



Solisten

Il Conte Rodrigo
Stephan Bootz

Americo, sein Sohn
Adrian Xhema

Ilàra, Sklavin
Virginia Todisco

La Contessa di Boissy
Carla Maffioletti

Iberè, Sklave
Adrian Gans

Goitacà, Anführer der befreiten Sklaven
Stephan Bootz

Gianfèra, Aufseher
Chi Kyung Kim

Lion, Diener der Contessa
Paul Przybylski

Guaruco
Sang-Kiu Han

Tapacoà
Antje Tiné

Tupinambà
Vito Tamburro

 


Weitere
Informationen

erhalten Sie vom
Stadttheater Giessen
(Homepage)



Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum
© 2011 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -