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Die Gesellschaft schaut zu
Von Ursula Decker-Bönniger
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Fotos von Karl Forster
Schwieriges Paar: Violetta und Alfredo
Auch die Gelsenkirchener Inszenierung von Verdis La Traviata thematisiert den Mythos Violetta. Allerdings wird die Kurtisane im dritten Akt, während des retrospektiven Wachtraums der Sterbenden die gewaltsamen Zudringlichkeiten Gastons, des Vicomte de Létorière mit einer Ohrfeige beantworten. Der reumütige Alfredo wird ihr vorsichtig ein brautähnliches, weißes Kleid überstreifen ohne den Reißverschluss zu schließen. Und das letzte Bild zeigt sie allein als barfüßige, leblose mythologische Figur den Blick starr ins Publikum gerichtet. Wie Marguerite Gautier, der Kamliendame von Alexandre Dumas d.J. , liebt Violetta Valéry in der Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung. Nicht die subjektiven widersprüchlichen Leidenschaften zehren an ihr, sondern der Konflikt wird als gesellschaftlich bedingt dargestellt. Er kommt von außen.
Hat schwer zu tragen oder wenigstens zu ziehen: Violetta
Stellvertretend für die Geschlossenheit der Pariser Gesellschaft hat Dirk Becker einen quadratischen lehmfarbenen, haushohen Kasten auf die Bühne gestellt, der zu Beginn des ersten Aktes auf den spitzen Winkel gedreht wird und den Blick auf eine großzügige weiße Freitreppe und ein mit kostbarer roter Tapete versehenes Rauminnere freigibt. Violetta nutzt die Showtreppe, um sich in ihrem schulterfreien, goldfarbenen Abendkleid der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zugleich ist es eine Bühne für die in historisierten Kostümen auftretende, gaffende Gesellschaft, die sich schweigend an den intimen Begegnungen von Alfredo und Violetta ergötzt oder begierig ihr Kleid beschnüffelt oder nach Violettas Abgang die von ihr selbst geworfenen Geldscheine aufsammelt.
Violettas Reize lassen auch Alfredos Vater Giogio offensichtlich nicht unbeeindruckt
Für Regisseur Michael Schulz sind Handlungsmomente sekundär. Seine mitunter etwas spröde wirkenden Bilder analysieren und stellen die gesellschaftlichen Beziehungen und Charakterentwicklungen der Protagonisten ohne exzessive Rauschhaftigkeit dar. Während die Gesellschaft in der Ouvertüre als namenlose Trauergemeinde erscheint, wird Violettas Erscheinen im ersten Akt mit arrogantem Hüsteln kommentiert. Im zweiten Akt lugen immer wieder Beobachter über eine den Besitz eingrenzende, eigentlich blickfreie hohe Mauer, und selbst angesichts des Todes schleichen sich etliche mit einem Stuhl still und leise heran und verfolgen stumm das Geschehen. Aus der anonymen Masse tritt ein junger Mann heraus, der offenbar mehr will als nur stumm beobachten. Er wird sich in Giorgio Germont, Alfredos Vater, verwandeln, ist die einzige entwicklungsfähige Gestalt. So wird die erste Szene des zweiten Aktes zum Dreh- und Angelpunkt der Oper. In differenzierter Personenregie beleuchtet Schulz die emotionale Vielschichtigkeit der Begegnung zwischen Giorgio Germont und Violetta, die auch von der erotischen Spannung zwischen beiden bestimmt ist. Germonts Betroffenheit gipfelt schließlich im dritten Akt in dem symbolischen Akt, sich entschlossen die Perücke vom Kopf zu reißen.
Man nimmt interessiert Anteil an Violettas Sterben
Eine weitere, von Schulz in den Vordergrund gerückte Figur ist der schillernde, sich selbst inszenierende, am Kleid Violettas berauschende Gastone, Vicomte de Létorière. Der Adelige scheint in der bürgerlichen Welt ebenso zu Hause wie in der rüden Halbwelt von Prostitution und Transvestie. Er komplettiert das differenzierte Charakter- und Gesellschaftsbild, dessen Schritt für Schritt dargebotene Facetten und Spiel-im-Spiel-Andeutungen den Opernbesucher zunächst etwas ratlos lassen, im dritten Akt jedoch zu einer runden Aussageabsicht vervollständigt werden.
So hätte es wohl auch Pina Bausch gefallen: Das Ende
Alexandra Lubchansky ist eine mit sinnlich schwingendem, lyrischem Sopran ausgestattete Violetta Valéry, die anstelle auftrumpfender Koloraturen (die bereiten ihr im ersten Akt einige Schwierigkeiten) das Leid der Leidenschaft mit ruhiger, schlanker Tongestaltung, ausdrucksstarken Pianissimi in sicherer hoher Lage in den Vordergrund rückt. Insbesondere die spannungsvoll und anrührend gestaltete Sterbeszene gelingt ihr sehr gut. Tenor Daniel Magdal war im ersten Teil deutlich die Premierenaufregung anzumerken, fing sich jedoch und überzeugt mit lyrisch gefärbter, feiner Stimmführung und einfühlsamer Personencharakterisierung. Passend zur Regieinterpretation ist Günter Papendells ein sehr junger, lyrisch schwingender Bariton. Mit beeindruckender Stimmflexibilität ausgestattet zeichnet er ein differenziertes Bild Giorgio Germonts und wurde dafür in der Premiere mit besonders viel Applaus bedacht. Chor und die Neue Philharmonie Westfalen formen unter der Leitung Rasmus Baumanns ein homogenes, transparentes und ausgewogenes Klanggemälde, in dem ätherische Momente und reflektierende Stille durch bewusste Spannungspausen bezaubern.
Eine auf den ersten Blick etwas spröde wirkende, aber schlüssig inszenierte und passend besetzte Aufführung, deren musikalischer Charme sich vor allem in den leisen, widersprüchlichen, zerbrechlichen Momenten entfaltet.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Choreinstudierung
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Violetta Valéry
Flora
Alfredo Germont
Giorgio Germont
Annina
Gastone
Barone Douphol
Marchese
Dottore Grenvil
Giuseppe
Diener Floras
Ein Dienstmann
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