Arienfeuerwerk für zwei "Rival Queens" und einen Countertenor
Von Thomas Molke
/
Fotos von Markus Kaesler
Der neue Generalintendant Peter Spuhler hat nicht nur die Absicht
bekundet, die traditionellen Händel-Festspiele in Karlsruhe fortzuführen,
sondern setzt mit seinem neuen künstlerischen Leiter Bernd Feuchtner auch
zahlreiche neue Akzente. So gibt es im Rahmen der diesjährigen Festspiele
beispielsweise mit der Opernpremiere Alessandro ein Werk, das bis jetzt
weder in Halle noch in Göttingen szenisch zu erleben war. Dabei zählte diese
Oper zu Händels Lebzeiten zu den populärsten Stücken des Hallenser Komponisten,
die in der Zahl der Aufführungen nur von Rinaldo übertroffen wurde.
Garant für den großen Erfolg war damals sicherlich die Sängerbesetzung, die
neben dem Starkastraten Senesino auch noch mit den Sopranistinnen Faustina
Bordoni und Francesca Cuzzoni zwei weltberühmte Diven präsentierte, die mit
ihrer virtuosen Gesangskunst für ausverkaufte Vorstellungen sorgten. Die auf
diese drei Sängerpersönlichkeiten zugeschnittene Musik mag aber auch der Grund
dafür sein, warum es nach der Wiederentdeckung 1959 durch die Sächsische
Staatsoper nur drei bis vier zaghafte Versuche gab, diese Oper wieder ins
Bewusstsein des Publikums zu bringen. So stellt die Karlsruher Inszenierung mit
nur geringen Kürzungen die wohl vollständigste szenische Aufführung seit dem 18.
Jahrhundert dar.
Die Handlung der Oper spielt zur Zeit des Indien-Feldzuges von
Alexander dem Großen (Alessandro), wobei sich die politischen Ereignisse eher im
Hintergrund abspielen. Im Mittelpunkt stehen die Liebeswirren um die persische
Prinzessin Roxana (Rossane) und die skythische Prinzessin Lisaura, die beide um
die Gunst Alessandros buhlen, obwohl Lisaura bereits dem König von Indien,
Taxiles (Tassile), versprochen ist. Alessandro selbst kann sich so recht nicht
zwischen den beiden Prinzessinnen entscheiden, verzichtet aber schlussendlich zu
Gunsten Tassiles auf Lisaura, um, wie es auch historisch belegt ist, Rossane zu
heiraten. Der Aufstand der drei mazedonischen Feldherren Clito, Leonato und
Cleone, die gegen Alessandros Hochmut aufbegehren, da dieser sich als Sohn
Jupiters feiern lässt, wird in diesem Wirrwarr der Gefühle eher nebenbei
niedergeschlagen.
Alessandro (Lawrence Zazzo, rechts) präsentiert
sich nach seinem Sieg über die Stadt Oxydraka hochmütig (im Hintergrund von
links: Clito (Andrew Finden) und Cleone (Rebecca Raffell)).
Auch wenn das Libretto dramaturgische Schwächen im Handlungsablauf
aufweist und die Oper sich scheinbar nur auf die virtuosen Gesangsnummern für
die drei Hauptfiguren konzentriert, hat das Regieteam um Alexander Fahima für
jeden der drei Akte eine eigene Stimmung entwickelt. Während die Kostüme von
Claudia Doderer aufwendig gestaltet sind und für die Hauptfiguren von Akt zu Akt
wechseln - so trägt Alessandro im ersten Akt als Kämpfer eine gepanzerte
Rüstung, im zweiten Akt als Privatmann einen langen orientalischen Mantel und im
dritten Akt als Politiker einen schwarzen Anzug - ist Doderers Bühnenbild eher
abstrakt und schlicht gehalten. Hinter dem Orchestergraben befinden sich drei
Glaskästen, die an Terrarien erinnern und die Bühne vom Orchester trennen.
Während der linke Kasten mit Steinen und der rechte Kasten mit abgestorbenem
Holz gefüllt ist, fließt im ersten Akt in den mittleren Kasten über eine Rinne
von der Bühne rote Farbe, die wohl für das vergossene Blut beim Feldzug steht.
Im letzten Akt fehlt dieser Kasten, wobei das entstandene Loch als Kerker für
den verhafteten Clito dient. Die private Atmosphäre des zweiten Aktes, in der
nacheinander die Hauptfiguren von ihren Liebesproblemen singen, wird durch
Videobilder begleitet, die mal die Umrisse eines Tempels, mal die Umrisse einer
Baumrinde auf einen vor der Bühne herabgelassenen Gaze-Vorhang projizieren und
mit der ausgeklügelten Beleuchtung von Stefan Woinke die Figuren in ihren Arien
noch mehr isolieren.
Alessandro (Lawrence Zazzo) zwischen zwei Frauen:
Rossane (Yetzabel Arias Fernandez, links) und Lisaura (Raffaella Milanesi,
rechts).
Alexander Fahima schafft durch eine ausgefeilte Personenregie bei
den einzelnen Arien eindringliche Bilder. Zu erwähnen sind hier beispielsweise
die dritte Szene im dritten Akt, in der Lisaura und Rossane verloren auf der vom
Aufstand ramponierten Bühne sitzen und in der während Lisauras Arie kleine
Schneeflocken aus dem Schnürboden rieseln, und Rossanes großes Gebet in der
fünften Szene des dritten Aktes, in der sie vor einem roten Tuch steht und
hofft, dass Alessandro siegreich zurückkehren wird. Besonderes Augenmerk richtet
Fahima auf die drei mazedonischen Feldherren, die er mit ihren komödiantischen
Einlagen als Anspielung auf Gays Beggar's Opera betrachtet, die zwei
Jahre nach Alessandro auf die Bühne kam und als Gegenbewegung zu Händels
ernsten Opern verstanden werden konnte. Auch misstraut er dem lieto fine. So
lässt er in Alessandros großer Schlussarie, in der die Titelfigur die Größe
eines Herrschers an der Fähigkeit zur Gnade misst, anders als im Libretto die
drei mazedonischen Feldherren hinrichten. Tassile betrachtet er ebenfalls nicht
als treuen Gefolgsmann Alessandros, sondern lässt ihn immer mehr in die Rolle
des Herrschers schlüpfen. So posiert er bereits während Alessandros großer Arie
vor einem imaginären Spiegel und schreitet beim Finale im Hintergrund eine
Treppe hinauf, während Alessandro und die Prinzessinnen die von den Mazedoniern
überreichten Hochzeitsgeschenke öffnen, in den Verpackungen aber nur schwarze
Asche vorfinden und zusammenbrechen.
Alessandro (Lawrence Zazzo) träumt in Rossanes
(Yetzabel Arias Fernandez) Schoß.
Musikalisch ist die Produktion so überragend für die zahlreichen
brillanten Arien besetzt, dass die Schwächen der eigentlichen Handlung in den
Hintergrund treten. Aus dem Ensemble des Badischen Staatstheaters belegen Andrew
Finden als Clito, Sebastian Kohlhepp als Leonato und Rebecca Raffell als Cleone
stimmlich und darstellerisch das hohe Niveau des Hauses. In den Choreographien
von Michael Bernhard sorgen sie für zahlreiche komische Momente und wirken eher
ungefährlich, obwohl sie als Rebellen den hochmütigen Alessandro stürzen wollen.
Raffell überzeugt mit sehr tiefem Alt und lässt im Spiel kaum merken, dass es
sich um eine Hosenrolle handelt. Großen Applaus erhält sie für die große
Beweglichkeit ihrer Stimme bei den schnellen Läufen in der großen Arie des
dritten Aktes, in der sie schwört, Rache an Clito und Leonato zu nehmen. Finden
gefällt mit kräftigem Bariton als Clito, der sich Alessandros Hochmut nicht
unterordnen will, und Kohlhepp mit klarem Tenor als Leonato, der gemeinsam mit
Clito im ersten Akt Cleone für dessen Unterwürfigkeit verspottet.
Lisaura (Raffaella Milanesi, links) hat das
Nachsehen. Alessandro (Lawrence Zazzo) hat sich für Rossane (Yetzabel Arias
Fernandez, Mitte) entschieden.
Für die Hauptpartien wurden Gäste engagiert. Größtes Lob gebührt
in diesem Zusammenhang sicherlich Raffaella Milanesi, die erst vor drei Wochen
für die erkrankte Ina Schlingensiepen als Lisaura eingesprungen ist und die
anspruchsvolle, unbekannte Rolle in dieser kurzen Zeit musikalisch und
darstellerisch einstudiert hat. Mit einem leuchtenden Sopran bewegt sie sich
nahezu spielerisch durch die koloraturgespickten Arien und verleiht Lisauras
Eifersucht mit zickigen Ausbrüchen den richtigen Ausdruck. Höhepunkte ihrer
Interpretation sind ihre Gleichnisarie "La cervetta nei lacci avvolta" im
zweiten Akt, in der sie ein Rehkitz besingt, das in einem Wald in eine Falle
gegangen ist, und hofft, dass Rossane Alessandro genauso meiden wird wie das
Rehkitz nach seiner Befreiung den Wald, und ihre Arie "Sì, m'è caro imitar quel
bel fiore" im dritten Akt, in der sie sich mit einer Blume vergleicht.
Yetzabel Arias Fernandez stellt als Rossane mit fast in den
Mezzobereich ragendem Sopran einen ruhigeren Gegenpart zu Lisaura dar. Sie wirkt
in ihrer Darstellung und ihrem Gesang sanfter als Milanesi, was sich auch in den
Texten ihrer Arien äußert. In der Gleichnisarie im zweiten Akt "Alla sua gabbia
d'oro" sieht sie sich eher als einen Vogel, der trotz Freilassung in den
goldenen Käfig zurückkehren wird. Bei dieser Arie tritt Fernandez in den
Koloraturen in einen unter die Haut gehenden Dialog mit der Traversflöte aus dem
Orchester. Auch das Gebet im dritten Akt, welches Händel erst nachträglich für
Faustina Bordoni eingefügt hat, lässt erwarten, dass man von dieser jungen
Sopranistin noch einiges hören wird.
Lawrence Zazzo rundet in der Titelpartie mit flexiblem und absolut
höhensicherem Countertenor das Star-Trio ab und bewegt sich wie die beiden Damen
mit scheinbarer Leichtigkeit durch seine koloraturgespickten Arien, von denen es
in der Karlsruher Produktion immerhin sieben Stück zu erleben gibt. Auch
Countertenor Martin Oro begeistert als Tassile mit kräftiger höhensicherer
Stimme. Michael Form führt die Deutschen Händel-Solisten mit großer Präzision
durch die Partitur, die nicht nur eine Abfolge grandioser Arien ist, sondern
musikalisch auch die Kampfszenen im ersten Akt, den Aufstand am Ende des zweiten
Aktes und das große Finale mit vielseitigen Klangfarben ausgestaltet. So gibt es
am Ende lang anhaltenden und verdienten Applaus für alle Beteiligten.
FAZIT
Mit dieser Oper lässt sich in Karlsruhe in einer solchen Besetzung ein
regelrechter Diamant der Barockmusik entdecken. Zum Glück wird diese Produktion
bei den Festspielen im nächsten Jahr wieder aufgenommen.
Weitere Rezensionen zu den
35. Händel-Festspielen 2012
Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)