Nie wieder Krieg!
Von Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg
Landsberg
Spannend und vielschichtig ist die
aktuelle Osnabrücker Inszenierung der Oper
Simplicius Simplicissimus des nach wie vor selten zu sehenden
und zu hörenden Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Es ist ein
neu erzähltes, historisches Zeitzeugnis, das Grimmelshausens
Romanzeit ebenso berührt wie die Zeit der Entstehung und
Rezeption.
Ensemble-Szene im 3. Teil
Karl Amadeus Hartmann setzt sich erstmals 1934 - auf
Anregung des im Schweizer Exil lebenden Dirigenten
Hermann Scherchen - textlich und musikalisch mit
Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus
auseinander. Die Erstfassung schließt er im
Wesentlichen 1935 ab. Eine Uraufführung war im
Rahmen der Brüsseler Weltausstellung 1935
vorgesehen, musste jedoch an der "allzu knappen Zeit
zur Vollendung des Werkes" scheitern. 1936 erfolgen
weitere Änderungen am Text, 1939 fügt
Hartmann die Ouvertüre hinzu, die Datierung des
Zwischenspiels ist nach wie vor unklar.
Trotz zahlreicher weiterer
Aufführungsbemühungen Hartmanns - er
verbringt die Nazizeit in innerer Emigration in
München, wird finanziell von der
vermögenden Familie seiner Ehefrau
unterstützt und fördert nach Kriegsende
die Aufführung moderner Musik durch
Gründung der Musica viva - Konzertreihe -
erfolgt die Uraufführung des Simplicius
Simplicissimus erst 1948 - konzertant im
Münchener Rundfunk unter der Leitung Hans
Rosbaud. Die szenische Erstaufführung
findet ein Jahr später in Köln statt.
Hartmanns "Kammeroper" erinnert in ihrer Hinwendung
zu einfachen, schlichten Formen und Dominanz des
Rhythmischen an Alban Berg und Strawinskys Histoire
du soldat. Anlehnungen im Bauernlied an das Lied
des Bauernaufstandes von 1525, an sogenannte
"entartete Musik" (z.B. Strawinsky, Prokofiev,
Berg), Zitate z.B. des Bachchorals im
Zwischenspiel, traditioneller jüdischer
Trauergesänge beim Tod Einsiedels legen eine
Interpretation als "musikalischer Widerstand" nahe.
Hermann Bäumer verzichtet in der
Osnabrücker Inszenierung auf die Apotheose der
Oper und wählt die solistische,
kammermusikalische Darbietung.
Regisseur Jochen Biganzoli geht es in seiner
Neuinszenierung darum, mögliche
Zusammenhänge von Gewalt, Intoleranz und
geistiger Unfreiheit aufzuzeigen. Die Szenen der
Oper sind zu einer anschaulichen, sich immer
grotesker verdichtenden Geschichte aus der
Betroffenenperspektive eines Schülers zusammen
gestellt und mischen mögliche Kindheitserfahrungen, Spiele, Angst besetzte
Traumvisionen ehemaliger und aktueller
Kriegsschauplätze.
Andreas Wilkens hat für diesen aktualisierten
Entwicklungsroman geschickt eine erhöhte,
verkleinernde und geschlossene Guckkastenbühne
mit wilhelminischem Klassenzimmer geschaffen. Je
nach Situation mutiert es, mal zum im Trümmern
liegenden Rückzugsort für Verfolgte, mal
zur Kommandozentrale für Soldaten.
Der bloßgestellte Simplicius im
Geschichtsunterricht (1. Teil)
Alles beginnt harmlos. Zu den Marschparodien der
Ouvertüre reiten heutige Jugendliche auf
Steckenpferden - ein nach dem 2. Weltkrieg
etablierter Osnabrücker Kinderbrauch zur
Erinnerung an den Westfälischen Frieden. Sie
schubsen, treten sich auf die Füße. Es
sind belanglose Rangeleien unter Jugendlichen, die
im Blinde-Kuh-Spiel in einem Klassenzimmer des
wilhelminischen Zeitalters ihre Fortsetzung finden.
Nicht ein Sprecher berichtet, sondern ein
kriegsversehrter, die Rohrstockpädagogik
liebender Geschichtslehrer doziert über
den Dreißigjährigen Krieg, bestraft und
beschimpft den vor Langeweile eingeschlafenen,
zotteligen Außenseiter der Klasse zum
"Simplicius Simplicissimus".
In diese "Schüleridylle" des 1. Teils bricht -
traumatisch - ein rot angestrahlter, mit Hellebarde
ausgestatteter, mordender Landsknecht ein.
Einsiedel mutiert zu einem verfolgten
Intellektuellen, der sich in die Abschiedenheit
eines zerstörten Klassenzimmers
zurückgezogen hat und der den zu ihm
gestoßenen, wissbegierigen Simplicius
fürsorglich unterweist. Er wird selbst aus dem
Leben scheiden, noch bevor man ihn abholen kommt.
Der dritte Teil beleuchtet - grotesk
überzeichnet, schrill beleuchtet und teilweise
mit aberwitzigen, exotischen Kostümen in Szene
gesetzt - das demütigende Spiel- und
Machtgebaren in einer militärischen
Kommandozentrale des 21. Jahrhunderts als Show!
Hier, ebenso wie im Zwischenspiel, wird auch die
vordere Bühne mit in das Spiel einbezogen. Der
Handlung entspricht eine unwirkliche, unheimliche
Atmosphäre, an deren Ende Simplicius nach
seinen Schlussworten "gepriesen sei der Richter der
Wahrheit" getötet wird. Zum Summchor erklingt
eine Kinderstimme aus dem Off. Dann sitzt Simplicius
- wie in der ersten Szene der Oper mit einer
Narrentüte ausgestattet - am Rande der
Guckkastenbühne, blickt ins Publikum und
lässt die Beine baumeln.
Groteske
Unterhaltungsshow in einer militärischen Kommandozentrale (3.
Teil)
Ganz besonders beeindruckend ist
die ästhetisch-musikalische Stimmigkeit der
Inszenierung. Biganzoli unterscheidet in seiner
szenischen Umsetzung genau, ob es sich um
musikalische Parodie, Groteske oder lyrische
Klangentfaltung handelt, ob Ouvertüre,
Zwischenspiel oder Szene. Und seine ausgefeilte
Personenregie nutzt natürliche, der
unmittelbaren Situation entnommene Bewegungen und
Haltungen sowie besonders im dritten Teil Bilder mit
überzeichneter Mimik und Gestik,
marionettenhaften, ruckartigen oder
Zeitlupenbewegungen, um die gespenstische,
alptraumatische Wirkung zu verstärken.
Schauspieler, Sprecher, Gesangs- und
Instrumentalsolisten überzeugen unter der
musikalischen Leitung Hermann Bäumers mit einer
ausdrucksvollen, engagierten Ensembleleistung.
Unter den stimmig ausgewählten,
textverständlich singenden Solisten ist
Marie-Christine Haase der umjubelte Star der
Premiere. Wie sie mit zartem, lyrisch schwingenden
Sopran zwischen natürlich, kindlich, naiv oder
angstvoll grotesk die verschiedenen Facetten des
Simplicius schauspielerisch und sängerisch
auslotet, immer textverständlich ihre Stimme
auch sprachmelodisch eindrucksvoll einzusetzen
weiß, ist einfach klasse.
FAZIT
Eine fantastische, ästhetisch
und musikalisch überzeugende Inszenierung
für Jung und Alt.