Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Zur OMM-Homepage Zur Musiktheater-Startseite E-mail Impressum



Simplicius Simplicissimus

Drei Szenen aus seiner Jugend
Text von Hermann Scherchen, Wolgang Petzet und Karl Amadeus Hartmann
nach Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Roman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)
Musik von Karl Amadeus Hartmann  


In deutscher Sprache mit Seitentiteln

Aufführungsdauer: ca. 90' (keine Pause )

Premiere im Theater am Domhof am 14. Januar 2012

Logo: Theater Osnabrück

Theater Osnabrück
(Homepage)

Nie wieder Krieg!  

Von Ursula Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg

Spannend und vielschichtig ist die aktuelle Osnabrücker Inszenierung der Oper Simplicius Simplicissimus des nach wie vor selten zu sehenden und zu hörenden Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Es ist ein neu erzähltes, historisches Zeitzeugnis, das Grimmelshausens Romanzeit ebenso berührt wie die Zeit der Entstehung und Rezeption.

Bild zum Vergrößern

Ensemble-Szene im 3. Teil

Karl Amadeus Hartmann setzt sich erstmals 1934 - auf Anregung des im Schweizer Exil lebenden Dirigenten Hermann Scherchen - textlich und musikalisch mit Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus auseinander. Die Erstfassung schließt er im Wesentlichen 1935 ab. Eine Uraufführung war im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung 1935 vorgesehen, musste jedoch an der "allzu knappen Zeit zur Vollendung des Werkes" scheitern. 1936 erfolgen weitere Änderungen am Text, 1939 fügt Hartmann die Ouvertüre hinzu, die Datierung des Zwischenspiels ist nach wie vor unklar.

Trotz zahlreicher weiterer Aufführungsbemühungen Hartmanns - er verbringt die Nazizeit in innerer Emigration in München, wird finanziell von der vermögenden Familie seiner Ehefrau unterstützt und fördert nach Kriegsende die Aufführung moderner Musik durch Gründung der Musica viva - Konzertreihe - erfolgt die Uraufführung des Simplicius Simplicissimus erst 1948 - konzertant im Münchener Rundfunk unter der Leitung Hans Rosbaud.  Die szenische Erstaufführung findet ein Jahr später in Köln statt.

Hartmanns "Kammeroper" erinnert in ihrer Hinwendung zu einfachen, schlichten Formen und Dominanz des Rhythmischen an Alban Berg und Strawinskys Histoire du soldat. Anlehnungen im Bauernlied an das Lied des Bauernaufstandes von 1525, an sogenannte "entartete Musik" (z.B. Strawinsky, Prokofiev, Berg), Zitate z.B. des Bachchorals im  Zwischenspiel, traditioneller jüdischer Trauergesänge beim Tod Einsiedels legen eine Interpretation als "musikalischer Widerstand" nahe. Hermann Bäumer verzichtet in der Osnabrücker Inszenierung auf die Apotheose der Oper und wählt die solistische, kammermusikalische Darbietung.

Regisseur Jochen Biganzoli geht es in seiner Neuinszenierung darum, mögliche Zusammenhänge von Gewalt, Intoleranz und geistiger Unfreiheit aufzuzeigen. Die Szenen der Oper sind zu einer anschaulichen, sich immer grotesker verdichtenden Geschichte aus der Betroffenenperspektive eines Schülers zusammen gestellt und mischen mögliche Kindheitserfahrungen, Spiele, Angst besetzte Traumvisionen ehemaliger und aktueller Kriegsschauplätze.

Andreas Wilkens hat für diesen aktualisierten Entwicklungsroman geschickt eine erhöhte, verkleinernde und geschlossene Guckkastenbühne mit wilhelminischem Klassenzimmer geschaffen. Je nach Situation mutiert es, mal zum im Trümmern liegenden Rückzugsort für Verfolgte, mal zur Kommandozentrale für Soldaten.

Bild zum Vergrößern

Der bloßgestellte Simplicius im Geschichtsunterricht (1. Teil)

Alles beginnt harmlos. Zu den Marschparodien der Ouvertüre reiten heutige Jugendliche auf Steckenpferden - ein nach dem 2. Weltkrieg etablierter Osnabrücker Kinderbrauch zur Erinnerung an den Westfälischen Frieden. Sie schubsen, treten sich auf die Füße. Es sind belanglose Rangeleien unter Jugendlichen, die im Blinde-Kuh-Spiel in einem Klassenzimmer des wilhelminischen Zeitalters ihre Fortsetzung finden. Nicht ein Sprecher berichtet, sondern ein kriegsversehrter, die Rohrstockpädagogik liebender  Geschichtslehrer doziert über den Dreißigjährigen Krieg, bestraft und beschimpft den vor Langeweile eingeschlafenen, zotteligen Außenseiter der Klasse zum "Simplicius Simplicissimus".

In diese "Schüleridylle" des 1. Teils bricht - traumatisch - ein rot angestrahlter, mit Hellebarde ausgestatteter, mordender Landsknecht ein. Einsiedel mutiert zu einem verfolgten Intellektuellen, der sich in die Abschiedenheit eines zerstörten Klassenzimmers zurückgezogen hat und der den zu ihm gestoßenen, wissbegierigen Simplicius fürsorglich unterweist. Er wird selbst aus dem Leben scheiden, noch bevor man ihn abholen kommt.

Der dritte Teil beleuchtet - grotesk überzeichnet, schrill beleuchtet und teilweise mit aberwitzigen, exotischen Kostümen in Szene gesetzt - das demütigende Spiel- und Machtgebaren in einer militärischen Kommandozentrale des 21. Jahrhunderts als Show! Hier, ebenso wie im Zwischenspiel, wird auch die vordere Bühne mit in das Spiel einbezogen. Der Handlung entspricht eine unwirkliche, unheimliche Atmosphäre, an deren Ende Simplicius nach seinen Schlussworten "gepriesen sei der Richter der Wahrheit" getötet wird. Zum Summchor erklingt eine Kinderstimme aus dem Off. Dann sitzt Simplicius - wie in der ersten Szene der Oper mit einer Narrentüte ausgestattet - am Rande der Guckkastenbühne, blickt ins Publikum  und lässt die Beine baumeln.

Bild zum Vergrößern

Groteske Unterhaltungsshow in einer militärischen Kommandozentrale (3. Teil) 

Ganz besonders beeindruckend ist die ästhetisch-musikalische Stimmigkeit der Inszenierung. Biganzoli unterscheidet in seiner szenischen Umsetzung genau, ob es sich um musikalische Parodie, Groteske oder lyrische Klangentfaltung handelt, ob Ouvertüre, Zwischenspiel oder Szene. Und seine ausgefeilte Personenregie nutzt natürliche, der unmittelbaren Situation entnommene Bewegungen und Haltungen sowie besonders im dritten Teil Bilder mit überzeichneter Mimik und Gestik, marionettenhaften, ruckartigen oder Zeitlupenbewegungen, um die gespenstische, alptraumatische Wirkung zu verstärken.

Schauspieler, Sprecher, Gesangs- und Instrumentalsolisten überzeugen unter der musikalischen Leitung Hermann Bäumers mit einer ausdrucksvollen, engagierten Ensembleleistung. Unter den stimmig ausgewählten, textverständlich singenden Solisten ist Marie-Christine Haase der umjubelte Star der Premiere. Wie sie mit zartem, lyrisch schwingenden Sopran zwischen natürlich, kindlich, naiv oder angstvoll grotesk die verschiedenen Facetten des Simplicius schauspielerisch und sängerisch auslotet, immer textverständlich ihre Stimme auch sprachmelodisch eindrucksvoll einzusetzen weiß, ist einfach klasse.


FAZIT

Eine fantastische, ästhetisch und musikalisch überzeugende Inszenierung für Jung und Alt.




Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Hermann Bäumer 

Inszenierung
Jochen Biganzoli  

Bühnenbild und Kostüme
Andreas Wilkens 

Chor
Holger Krause
    

Choreographie
Corinna Mindt

Dramaturgie
Kathrin Liebhäuser,

 

Herrenchor des Theaters Osnabrück
Extrachor
Osnabrücker Sinfonieorchester

Statisterie des Theaters Osnabrück


Solisten

Simplicius Simplicissimus
Marie-Christine Haase

Einsiedel
Hans Hermann Ehrich

Gouverneur
Mark Hamman

Landsknecht
Daniel Moon

Hauptmann
Genadijus Bergorulko

Bauer
Mark Sampson  

Die Dame
Corinna Mindt

Sprecher/Lehrer
Martin Schwartengräber
   

Schüler
Felix Kein, Gustav Kirchhartz,
Lennart und Gabriel Koos,
Jonathan Schramm,
Nico und Timo Spreen,
Michael Zanther

Kinderstimme
Emma-Sophie Biganzoli



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Osnabrück
(Homepage)





Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Zur Musiktheater-Startseite E-mail Impressum

© 2012 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -