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Verloren in der Neuen Welt
Von Roberto Becker Als Alban Berg 1934 starb, hinterließ er eine unvollendete Lulu. Von seiner zweiten Oper, nach Frank Wedekinds Erdgeist und Die Büchse der Pandora, gibt es nur den ersten und den zweiten Akt. Die Skizzen zum dritten, unvollendeten betrachtete die Nachwelt gleichsam als einen Auftrag. Wobei sich immerhin Arnold Schönberg, Anton Webern und Alexander von Zemlinsky dem entsprechenden Ansuchen von Bergs Witwe nicht stellen wollten. So blieb es beim zweiaktigen, im Bedarfsfall, wie bei der posthumen Uraufführung 1937 in Zürich, durch die Orchester -Suite ergänzten Fragment. Den bislang gravierendsten Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte von Bergs in all ihrer radikalen Modernität doch so irisierend schöner Lulu brachte erst Friedrich Cerhas 1979 von Pierre Boulez in Paris uraufgeführte Ergänzung des dritten Aktes. Seine deutsche Erstaufführung dieser, mittlerweile im Repertoire heimischen Fassung besorgte kurze Zeit später Joachim Herz an der Komischen Oper in Ostberlin. Auch danach gab es immer mal wieder Versuche, aus den überlieferten Original-Skizzen zum dritten Akt eine neue Ergänzung zu machen. Vor zwei Jahren etwa die vorsichtig verhaltene von Eberhard Kloke in Stefan Herheims Kopenhagener (mittlerweile auch in Dresden zu sehender) Inszenierung. Vorsichtig ist Österreichs bekannteste Komponistin Olga Neuwirth bei Ihrem Versuch mit Bergs Lulu nicht. Sie hat heuer nicht nur einen gänzlich neuen dritten Akt komponiert, sondern auch die beiden originalen Akte für ein 27köpfiges Jazzorchester, inklusive einer kleinen Streicherbesetzung, bearbeitet und neu instrumentiert. Was einen gewissen Reiz hat, zumal die beigefügte Mississippi-Morton-Wonder-Orgel (als Hommage an die große Zeit des Kinos) eine ungewöhnliche Klangfarbe beimischt. Neuwirth lässt ihre American Lulu nicht nur in Englisch singen, sie hat auch das Personal umbenannt und Ort und Zeit in das New Orleans der 50er und New York der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts verlegt. In der Neuen Welt heißt nur Lulu noch Lulu. Sie avanciert dort in zwanzig Jahren zur erfolgreichen Edelprostituierten, die sich offenbar auch im etwas fortgeschrittenen Alter den Pelz und die Liebhaber aussuchen kann. Dass am Ende eingeblendete Schockfoto einer furchtbar zugerichteten Leiche ist da im Grunde nur eine Option für's Lebensende. Da sie verinnerlicht hat, wie der männlich geprägte Laden läuft, wären andere Varianten, auch für eine schwarze Lulu, denkbar. Wie bei der Geschwitz, die als Bluessängerin Eleanor, ebenso wie Schigolch als Schnorrer Clarence, jetzt ebenfalls farbig ist. Die texanische Bluessängerin Della Miles beglaubigt zudem mit ihrer ganz unopernhaften Stimmfarbe und ihrer Haartracht eine Nähe zu den Bürgerrechtsaktivisten, die vor allem durch eingespielte Martin-Luther-King Texte auch noch ziemlich direkt behauptet wird. Die bekannten Männer Lulus sind, auch wenn Dr. Schön jetzt zu einem Dr. Bloom und sein Sohn Alwa zu einem Jimmy geworden sind, in der Neuen Welt leicht wiederzuerkennen. Olga Neuwirths Neukomposition des dritten Aktes hat atmosphärische Dichte, gleichwohl verzettelt sich der Text in einer etwas zu privat geratenen Streiterei der beiden Frauen. Lulus eher beiläufig konstatierte Luxus-Einsamkeit erreicht hier nicht annähernd die Wucht der letzten Sätze der Geschwitz oder die Größe, die der tiefe Fall Lulus etwa bei Cerha hat. Wie man sich überhaupt fragt, warum es Olga Neuwirth mit ihrer Lulu in die Neue Welt gedrängt hat. Dass ihre Gründe, die wortreich vor allem auf eine neue, weibliche Sicht auf Lulu abheben, zumindest nach dem ersten Hören, nicht von selbst überzeugen, mag auch an der szenischen Umsetzung liegen. Dafür zieht sich das russische Film- und Regietalent Kirill Serebrennikov bei seinem Westeuropa-Debüt als Opernregisseur und Ausstatter auf ein durchaus reizvolles Schwarz-Weiß Ambiente (mit sehr schönen künstlich gealterten Videoeinspielungen von Gonduras Jitomirsky) und eine wohlfeile ästhetische Adaption, etwa von Edward Hoppers berühmtem Bild Nighthawks und einem Penthouse überm nächtlichen Manhattan, zurück. Ansonsten erzählt er, rampennah und brav, mit viel nackter Haut, vor allem nach. Das Ensemble gibt sein Bestes. Von Marisol Montalvo (wie schon in Calixto Bieitos Basler Lulu) mit vollem Körpereinsatz, wenn auch etwas kleiner Stimme, in der Titelpartie, über Della Miles mit ihrem importierten unopernhaften Charme als Eleanor und Claudio Otellis kraftvollem Dr. Bloom im grauen Anzug bis zu Rolf Romei als Jimmy mit James-Dean-Tolle. Johannes Kalitzke war diesmal als Dirigent der willige Anwalt seiner Komponisten-Kollegin Neuwirth.
Diese American Lulu dürfte kaum in die Rezeptionsgeschichte eingehen. Der neukomponierte dritte Akt kommt nicht an den von Cerha heran. Für etwas ganz eigenes ist Neuwirth zu nah an der genialen Vorlage geblieben. Bei Neuwirth wandert Lulu zwar aus und landet in einer anderen Zeit. Eine gänzlich andere wird sie dadurch aber trotz aller wortreichen Bekundungen nicht. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Ausstattung
Video
Licht
Dramaturgie
Solisten
Lulu
Eleanor
Clarence
Dr. Bloom
Jimmy/Young Man
Painter
Athlete
Professor/Banker
Commissioner
Lulu-Double
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