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Musiktheater
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Wir erreichen den Fluss/
We come to the River   


Handlungen für Musik von Edward Bond    
Musik von
Hans Werner Henze, deutsche Fassung vom Komponisten  

In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h (eine Pause)

Premiere an der Sächsischen Staatsoper Dresden am 13. September 2012


Homepage

Sächsische Staatsoper Dresden
(Homepage)
Manifest gegen Gewalt 

Von Ursula Decker-Bönniger /  Fotos von Matthias Creutziger 


Wussten Sie, dass Dresden im 19. Jahrhundert nicht nur durch Architektur, einzigartige Kunst- und Preziosensammlungen glänzte, sondern damals auch durch viele Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten (z.B. C. M. von Weber, R. Wagner, R. Strauss) auf sich aufmerksam machte?
Dass die Semperoper zu Beginn dieser Spielzeit 2012-2013 den zeitgenössischen Komponisten Hans Werner Henze ehrt, geht vor allem auf die Initiative der Ende Juli 2012 verstorbenen Intendantin Ulrike Hessler zurück. Im Programmheft bedankt sich das Produktionsteam für die Unterstützung der verstorbenen Intendantin und widmet ihr die "Arbeit und Inszenierung" der Oper Wir erreichen den Fluss/ We come to the River.
Darüber hinaus wird als Gastspiel El Cimarrón zu sehen sein. Außerdem zeigt die Semperoper eine zweite, von Henze revidierte, ergänzte Fassung der Oper Gisela - auch die erste Revision dieser Oper wurde nach der Uraufführung in der Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck im November 2010 in der Semperoper in der Regie von Elisabeth Stöppler aufgeführt.

Das besondere Auftaktprojekt dieser Saison, an deren Premiere der Meister selbst teilnahm,  ist jedoch die Dresdner Erstaufführung der 1976 in London uraufgeführten 7. Oper Henzes We come to the river/ Wir erreichen den Fluss. -  Hauptwerk seines politischen Musiktheaters und erste Zusammenarbeit mit dem Dramatiker und Dichter Edward Bond. Während Henzes vorherige große Oper die Bassariden mittlerweile zum Opernrepertoire der klassischen Moderne zählt, wird Wir erreichen den Fluss diesen Rang wohl nie einnehmen werden. Zu vielschichtig ist die politische Intention, zu komplex sind die Rahmen- und Aufführungsbedingungen. Ca. 50 Gesangssolisten verkörpern über 100 Rollen. Die Handlung ist auf 3 Bühnen verteilt, denen jeweils 3 Orchestergruppen zugeordnet sind.

Erzählt wird die tragische Geschichte eines Generals, der, nachdem er in blinder, bürokratischer Systemtreue einen Volksaufstand niederschlägt, von einem Arzt erfährt, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden und in Kürze zu erblinden, beginnt, Augen und Ohren für das Schlachtfeld und das von ihm verursachte Leid zu öffnen, für die Ängste der Verlassenen, die Klagen der Sterbenden - ohne etwas ändern zu können bzw. zu wollen. Als er versucht, eine junge Frau zu retten, wird er festgenommen und in eine Irrenanstalt gesteckt. Entrückt und an den neuen Erkenntnissen leidend unterstützt er in der Folge weder den Gouverneur noch einen Rat suchenden, zu Regimegegnern übergelaufenen Soldaten. Doch auch seine Tatenlosigkeit scheint Blutvergießen zur Folge zu haben. Das Regime macht den General für ein erfolgreiches Attentat auf den Gouverneur verantwortlich. Auf kaiserlichen Befehl wird er geblendet. Die mit ihm lebenden, anderen "Wahnsinnigen" fürchten seine Visionen. Sie töten ihn schließlich und kommen zu der Gewissheit zusammen: "Wir stehen an dem Flusse. ist dort auch kein Steg, wir gehen durch. (...) Unser Schritt ist so sicher jetzt, wir können nicht mehr untergehen."

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Arzt und General. Letzterer bei dem Versuch, mit dem Schicksalsschlag der Erblindung fertig zu werden.

Hans Werner Henze und Edward Bond schrieben und komponierten  We come to the River / Wir erreichen den Fluss von 1973 bis 1976. Die Oper ist eine Art künstlerisches Statement zu  den ästhetischen und vor allem politischen Verhältnissen der Zeit (z.B. Militärputsch in Griechenland und Chile, die Ermordung Benno Ohnesorgs, das Massaker von My Lai in Südvietnam, die Ermordung Martin Luther Kings, die Niederschlagung des Prager Frühlings und vieles anderes mehr). Zugleich greifen Henze und Bond mit verschiedenen Bühnen, parallel stattfindenden Szenen und Orchestermusiken auch u. a. in der "Ästhetik des Widerstandes" begründete, musikalische, experimentelle Theaterideen und Ästhetiken der Zeit auf. Nicht von Akten oder Szenen ist hier die Rede, sondern von "Handlungen für Musik", die auch Musik und Musiker mit einbeziehen. Ein Schlagzeuger, ein Organist und drei kleine Orchester mit eigener Klangfarbenzusammensetzung sind nicht nur den jeweiligen Handlungen und Szenen zugeordnet, sondern greifen auch in das Geschehen ein, sodass zu den verschiedenen Handlungsebenen weitere auf musikalische Ästhetik bezogene Schichten hinzukommen.

Elisabeth Stöppler, Rebecca Ringst, Annett Hunger und Frank Lichtenberg versuchen, die große Frage des politischen Theaters, wie Betroffenheit herzustellen sei, auf verschiedene Weise zu beantworten. Ergebnis ist eine vor allem im zweiten Teil fantasievolle Inszenierung, die wirklich zu berühren vermag. Der erste Teil greift vor allem die Handlung des Librettos auf, stellt sie dar, ohne sie politisch bewerten oder historisch einordnen zu wollen.

Die Bühne - bei Henze sind 3 Bühnen vorgesehen - hat sich auf die ca. ersten fünf Parkettreihen ausgeweitet. Der wunderbar runde, geschlossene, antike Zuschauerraum ist zu einer Bühnenlandschaft aus Alt und metallenen Gerüstbauteilen geworden. Zugleich führt ein Steg, Bild für den Fluss und Symbol für die Grenze zwischen Wirklichkeit und Utopie, mitten durch das Parkett. Die politische Gesellschaftsordnung von rechts, links und Mitte scheint aufgelöst. Stattdessen findet das Spiel auf verschiedenen Ebenen statt. Das simultane Geschehen ist räumlich entzerrt. Problematisch ist das eingeschränkte Sichtfeld. Für mich in der 11. Reihe des rechten Parketts war die linke Seite und die gesamte Spielfläche der hinteren Bühne eingeschränkt  einsehbar.

Verzweiflung und Hass der Alten Frau, die das Kind zu retten versucht.

Es gibt ein Oben, Mitte und Unten, einen Vorder- und Hintergrund. Ebenso sind die drei Orchester verteilt. Unten, auf der Höhe der Zuschauer, ist bspw. der "Hof des Irrenhauses", wo die wahnsinnig gewordenen, kranken Soldaten ihre Klagegesänge erheben. Mittig, auf Bühnenhöhe, muss der "sehend" gewordene General sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Und links vor der Bühne, in sicherer Entfernung zum Geschehen, befindet sich auf einer erhöhten Gerüstplattform das "Hauptquartier" des Generals. Auf der gegenüberliegenden Seite, etwas erhöht, ist das Orchester des zweiten Henze-Schauplatzes angesiedelt mit einem Streichquintett, ein paar Holz- und Blechblasinstrumenten, Celesta und etwas Schlagwerk. Im Rücken des Parketts, sozusagen auf der anderen Seite des Flusses, auf der Höhe der Königsloge befindet sich die Fantasiefigur des Trommlers mit vielen Gongs, Trommeln und Perkussionsinstrumenten. Wie ein "Sinnbild der Sprachlosigkeit" setzt er immer dann improvisierend ein, "wo es der Instrumentalmusik die Stimme verschlägt". Auch alle übrigen Musiker sind hin und wieder aufgefordert, emotional d.h. improvisierend auf das Bühnengeschehen zu reagieren. So kommt es in der 6. Szene zu einer Kakophonie aus vielstimmigen, expressiven Klanggesten, mit denen die Musiker das auf der Bühne gezeigte, unmenschliche Verbrechen kommentieren.

Stöppler verlegt das Geschehen in den Kunsttempel selbst. Zu Beginn bewachen mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten die Türen. Man hört Türenknallen, aufgeregtes Getrappel. Das Theater ist eingenommen. Der General vermeldet die erfolgreiche Niederschlagung des Aufstandes. Was dann folgt, sind anschauliche, bewegte, genau positionierte Szenen und Bilder, die im Vordergrund, realistisch, das gesamte Spektrum von Verbrechen, brutalen Grausamkeiten und Menschenverachtung des Generals und seiner Umgebung vor Augen führen. Todesangst, Trauer und Schmerz, seelische Bedrängnis, Furcht und Verzweiflung, Mitleid und Erstarrung wechseln mit Skurrilem, Wut, Ignoranz, Hohn und Schamlosigkeiten.

Blick von der Trommlerplattform (Königsloge) in die ausgeweitete Bühnenlandschaft

Während der Deserteur seine anrührende Kindheitsgeschichte erzählt, erklingen warnende Trompetensignale, die immer wieder als liebevolle, mitempfindende Gesten auf der "Bühne" sichtbar werden. Auch Musiker erscheinen im Konzertfrack auf der Bühne, um ihr Mitleid zu zeigen. Nach ihrer Auftrittsmusik verstummen die Damen der Feiergesellschaft bzw. sind zum Schweigen verurteilt. Schreie und Befehle wechseln mit Angst und flehenden Bitten. Tochter Rachel ergeht sich in ihrer Siegesfeierarie in wunderbar lyrisch schwingenden Verzierungen und Koloraturen, während ihr ein Soldat den Lauf einer Pistole an die Schläfe drückt. Ausbruchsversuche von Bürgern und Musikern durch die Seitenausgänge werden vereitelt. Ein Militärparademarsch erklingt abstrus verfremdet.

Im zweiten Teil, im Irrenhaus, scheint die konkrete Gewalt zunächst zu ersterben. In apokalyptischer Manier fährt ein Gerüstwagen über den Fluss, auf dem zur Buddha-Legende des jungen Kaisers hohl und klopfend eine vom Trommler gespielte balinesische Bambusorgel erklingt. Die Soldaten haben sich altertümliche, kunst- und fantasievolle Hüte und Kostüme übergestreift. Und doch leben die grauenhaften Erinnerungen weiter. Besonders eindrucksvoll ist die Szene, in der "die Wahnsinnigen" wie aus dem Unterbewussten, in ausdrucksstarkem, vielstimmigen Sprechgesang auf mittleren und unteren Spielflächen den Opernbesuchern zu Leibe rücken. Entsprechend wirkt der Abschlussgesang der Opfer, die nach dem Tod des Generals in apokalyptischer Manier wieder auferstehen, eher wie ein aufgesetzter, dem politischen Zeitgeschmack geschuldeter Abgesang. Schließlich flattern noch kopierte Partiturseiten ins Publikum. Eine Aufforderung, sich mehr mit "moderner Musik" auseinander zu setzen?

Ob im rezitativischen Ausdrucksgesang, Arien, Tonsprüngen, Koloraturen, Kakophoniepassagen oder feinen, ausdrucksvollen, instrumentalsolistischen Gesangslinien, die Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden und das riesige Solistenensemble überzeugen mit engagiertem, ausdrucksvollem Spiel und Gesang. Allen voran der mittig positionierte Erik Nielsen, der - auch wenn ihm die Darsteller "zu Leibe rücken" - mit unnachahmlicher Gradlinigkeit und Konzentration dieses komplexe Werk zu leiten weiß.


FAZIT

Henzes Oper ist ein mutiges, experimentelles Unterfangen, dem allerdings die politisch-historische Anbindung fehlt. Zudem ist zumindest in der 11. Reihe des rechten Parketts das Blickfeld eingeschränkt,  sodass das Erleben des simultanen Spiels beeinträchtigt wird.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Erik Nielsen

Inszenierung
Elisabeth Stöppler

Bühne
Rebecca Ringst
Annett Hunger

Kostüme
Frank Lichtenberg

Licht
Fabio Antoci

Dramaturgie
Stefan Ulrich



Sächsischer Staatsopernchor Dresden

Sächsische Staatskapelle
Dresden


Solisten

General
Simon Neal

Adjutant / grauhaariger Minister
Tilmann Rönnebeck

1. Soldat
Rainer Maria Röhr

2. Soldat
Timothy Oliver

3. Soldat / 6. Wahnsinniger
Alexander Hajek

4. Soldat / 7. Wahnsinniger
Christian Eberl

Hauptfeldwebel / 5. Opfer
Matthias Henneberg

Deserteur
Simeon Esper

Arzt
Gerd Vogel

Feldwebel / kleiner Wahnsinniger
Aaron Pegram

Gouverneur
John Packard

Trommler / 10. Wahnsinniger
Alexander Maczewski

Junge Frau
Vanessa Goikoetxea

Alte Frau
Iris Vermillion

Frau des Soldaten 2
Sabine Brohm

Rachel
Romy Petrick

Kaiser
Anke Vondung

Leutnant Hillcourt
Rainer Maria Röhr

May, 4. Wahnsinnige
Angela Liebold

1. Dame / 3. Wahnsinnige
 Ingeborg Schöpf

2. Dame / 5. Wahnsinnige
Ewa Zeuner

3. Dame / 1. Wahnsinnige
Barbara Hoene

4. Dame / 2. Wahnsinnige
Fumiko Hatayama

1. junge Dame / 1. junges Mädchen /
8. Opfer
Norma Nahoun

2. junge Dame / 2. junges Mädchen /
9. Opfer
Susann Vent

3. junge Dame / 3. junges Mädchen /
10. Opfer
 Karen Bandelow

1. Hure / 4. junge Dame /
4. junges Mädchen / 11. Opfer
Lucie Ceralová

2. Hure / 5. junge Dame /
5. junges Mädchen / 12. Opfer
Julia Böhme

3. Hure / 6. junge Dame /
6. junges Mädchen / 13. Opfer
Antigone Papoulkas

6. Wahnsinnige
Birgit Bonitz

7. Wahnsinnige
Beate Siebert

8. Wahnsinnige
Gisela Philipp

1. Offizier / 1. Opfer
Juan Carlos Navarro

2. Offizier / 1. Beamter / 2. Opfer
Torsten Schäpan

3. Offizier / 2. Beamter / 3. Opfer
Michael Kranebitter

4. Offizier / 3. Beamter / 4. Opfer
Jeremy Bowes

1. Herr / 1. Minister / 2. Mörder
Fritz Feilhaber

2. Herr / 2. Minister / 6. Opfer
Holger Steinert

3. Herr / 3. Minister / 7. Opfer
Mirko Tuma

5. Soldat / 2. Wahnsinniger
Jae-Suk Kim

6. Soldat / 3. Wahnsinniger
Gerald Hupach

7. Soldat / 1. Krankenwärter
Friedrich Darge

8. Soldat / 2. Krankenwärter
Thomas Müller

1. Verwundeter / 1. Mörder
Rafael Harnisch

2. Verwundeter
Jun-Seok Bang

3. Verwundeter / 4. Wahnsinniger
Ilhun Jung

4. Verwundeter / 5. Wahnsinniger
Allen Boxer

5. Verwundeter / 8. Wahnsinniger
 Werner Harke

6. Verwundeter / 9. Wahnsinniger
Alexander Födisch

7. Verwundeter
Matthias Beutlich


Pianist
Naomi Shamban


Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Sächsische Staatsoper Dresden
(Homepage)



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