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Video schadet Ihrer Choreographie
Von Stefan Schmöe / Fotos von Ursula Kaufmann
Vier Jahre nach dem unerwarteten Tod von Pina Bausch verharrt das Wuppertaler Tanztheater im Zustand des Bewahrens: man spielt ausschließlich die alten Stücke, mit einem verjüngten Ensemble teilweise in neuen Einstudierungen, und bis 2015 soll das auch so bleiben. Was danach kommt, ist ungewiss. Ausschließlich auf das eigene Repertoire fixiert und ohne neue Impulse droht irgendwann die Musealisierung. Nahe liegend scheint eine Erneuerung von innen heraus: Dass Tänzerinnen und Tänzer einer Compagnie mit eigenen Choreographien hervor treten, ist schließlich nicht ungewöhnlich (Martin Schläpfer macht das mit seinem Ballett am Rhein im benachbarten Düsseldorf gerade im Ballettabend b.15 vor). Ein Tanzabend mit sechs Choreographien für von Tänzerinnen und Tänzern des Wuppertaler Tanztheaters hat auch vor diesem Hintergrund seinen Reiz, auch wenn es sich durchweg nur" um Ein- oder Zweipersonenstücke handelt. Der Ort dafür ist das Choreographische Zentrum PACT Zollverein" im Essener Norden vom Charakter her gehört der Abend sicher auch dahin, aber eine weitere Aufführung in Wuppertal hätte es ruhig sein dürfen. Addio addio amore: Daphnis Kokkinos und Pablo Aran Gimeno
Den Auftakt macht die mit rund 50 Minuten längste Choreographie des Abends Addio Addio Amore von Daphnis Kokkinos. Auf einer Großleinwand an der Bühnenrückwand sind immer wieder Filme, offenbar in Indien gedreht, zu sehen fremdartige Alltagsszenen wie das Geschirrspülen an einer öffentlichen Wasserstelle, Baden und Körperpflege im Fluss, Straßenszenen. Die collagenhafte Musik dazu ist allerdings europäisch-mediterran. Neben virtuosen Tanzszenen, die sich geschickt mit den Filmsequenzen ablösen, gibt es viele Sprechszenen, in denen Kokkinos kleine Anekdoten erzählt, viel Biographisches. Das alles ist eine große Reminiszenz an die Stücke Pina Bauschs vor allem der 80er-Jahre mit ihrer Verschiebung vom Tanz zum Sprech- und Spieltheater, deren Dramaturgie Kokkinos gut verinnerlicht hat bis hin zum Einsetzen eines der großen Bausch-Ensembles, das förmlich in der Luft liegt, hier aber durch ein Solo mit Stuhl ersetzt wird. Der Choreograph bedient sich selbstbewusst aus der Formensprache und der Ideenkiste Pina Bauschs ohne allzu markante eigene Impulse zu setzen, aber Rhythmus und das Gefühl für das Timing stimmen. Wenn Kokkinos immer wieder Besucher aus dem Publikum auf die Bühne bittet (und sie teilweise Schwerarbeit verrichten lässt), ist solche Form von Mitmachtheater sicher Geschmackssache. Der Wille, mit mehr Personen, vielleicht einem ganzen Ensemble zu arbeiten, ist hier jedenfalls deutlich stärker erahnbar als in allen anderen Arbeiten des Abends. Redrain: Aida Vainieri Ist der Einsatz von bewegten Videobildern in Addio Addio Amore im Rahmen einer gut durchstrukturierten Collage durchaus überzeugend, so wird er in Redrain von Aida Vainieri zum störenden Ärgernis gerade weil die Bilder so schön sind. Tiere in Großaufnahme, traumhaft schöne Landschaften, große Architektur das sind durchweg Hingucker, mitunter in der ungebrochenen Schönheit fast kitschig, aber weshalb muss davor noch jemand tanzen? Umgekehrt gefragt: Wenn jemand so großartig tanzt wie Aida Vainieri, warum dann so viel Brimborium drumherum? Außer den Filmaufnahmen gibt es noch drei lebensgroße Puppen (wozu? Gebraucht werden sie nicht) und ein durch ein paar Metallstangen und Holzleisten angedeutetes Häuschen, in dessen oberer Etage Önder Özkara neben einem Bild sitzt, dass vermutlich von Aida Vainieri selbst stammt (eine kleine Ausstellung ihrer Bilder gibt es im Wintergarten-Foyer des Theaters). Zwischen den beiden gibt es ein paar kleine Spielszenen, die ihren Höhepunkt in einem Picknick vor dem Haus finden. Özkara singt noch einen schönen türkischen Text im Schlagergestus, aber das alles bleibt reichlich beliebig und konstruiert. Hätte Aida Vainieri doch einfach nur getanzt! So ist das etwas mehr als 10 Minuten kurze Redrain das schwächste Stück des Abends. Cladestine: Nazareth Panadero und Michael Strecker
Die schönste Szene von Clandestine ist ein introvertierter Tanz im Streiflicht von Nazareth Panadero und Michael Strecker, die gemeinsam das etwa 20 Minuten lange Stück konzipiert haben und in dieser ruhigen Szene ganz zu sich selbst kommen. Die zweitschönste Szene wäre wohl die allerschönste, wenn sie nicht leichtfertig verschenkt würde: Da sitzen Panadero und Strecker auf Stühlen, die an Pina Bauschs Café Müller erinnern, ein paar Meter auseinander und spannen ein weißes Tuch zwischen sich auf, das den fehlenden Tisch ersetzt und doch die weite Distanz überbrückt. Leider wird das witzig-poetische Bild an den Schluss gestellt und allzu schnell abgehandelt. Dazwischen ist manches, das an Pina Bausch erinnert, ohne die Qualität zu haben. Auch hier gibt es Sprechszenen, die Nazareth Panadero souverän beherrscht, in denen Michael Strecker aber blass bleibt aber nicht nur deshalb hat die Choreographie ein Ungleichgewicht zu Lasten von Michael Strecker. Aber so sehr Nazareth Panadero auch dominiert, sie kann auch nicht verhindern, dass Clandestine kleinteilig in eher unbedeutende Momente zerfällt. slowly Bye Phrases: Ale Čuček
Ganz anders slowly Bye Phrases von Ale Čuček. Der Tänzer, der fast die gesamten 20 Minuten seiner Choreographie ohne Musik auskommt, liegt zu Beginn zusammengekauert auf dem Boden, erhebt sich langsam, füllt mit weißem, lässig über die Ellenbogen gekrempelten Hemd durch seinen Tanz mehr und mehr die Bühne aus, braucht keine Accessoires und nichts um ihn herum und hält allein mit seinen Bewegungen gefangen. In der Mitte des Stückes gibt es sich allmählich verdichtende Musik für Streicher, die bald abbricht, danach verläuft die Choreographie in einer Art Reprise rückwärts. Das ist sehr dicht und konzentriert gearbeitet und zeigt einen klaren Formwillen für mich die stärkste Arbeit des Abends. ? Minuten Beat: Regina Advento und Lin Verleger
Bei einer kardiologischen Untersuchung wurde Regina Advento auf Herz- und Blutgeräusche aufmerksam und nahm das zum Anlass, eine Klangcollage daraus zu bauen eine durchaus faszinierende Idee, nur müsste daraus eine sinnvolle Choreographie erwachsen. Als Partner hat Regina Advento den jungen Musical-Tänzer Lin Verleger gewonnen, der ein Atem raubendes Solo aufs Parkett legt, und das ist wörtlich zu nehmen: Der Körper schraubt, dreht, stemmt sich und bleibt doch immer am Boden. das ist Hochleistungssport und eine Energieleistung sondergleichen. Darin liegt aber auch eine Gefahr, nämlich dass ? Minuten Beat zur oberflächlichen Leistungsschau des Körpers wird. Ganz auffangen kann die attraktive, gleichzeitig sportliche und elegante Regina Advento das nicht. Das hätte die Choreographie aber wohl ausgehalten, nicht aber die Berge von Zeitungen, Adventos Kleid aus Zeitungen und vom Laptop abgelesene medizinische Texte. Lin Verleger muss viel lesen und sprechen, und das kann er weit schlechter als tanzen. Nicht erst beim Messen des Blutdrucks ist ? Minuten Beat (es sind übrigens rund 30 Minuten) in Oberflächlichkeiten versunken. Zu allem Überfluss kann auch Regina Advento nicht vom Videofilm lassen. Hätte doch auch sie mehr Mut, dem Tanz zu vertrauen! Something in the air: Ditta Miranda Jasjfi und Luca D'Alberti
Den Abschluss bildet die mit 10 Minuten kürzeste, keineswegs leichtgewichtigste Choreographie: Something in the air von Ditta Miranda Jasjfi. Die kleine Tänzerin tanzt im roten Kleid und mit Stöckelschuhen, die sie irgendwann wegwirft; das ist verspielt und gleichzeitig explosiv. Nach kurzer Zeit betritt Luca D'Alberto die Bühne, spielt auf der Bratsche eine rätselhafte Melodie. Ditta Miranda Jasjfi stellt sich ihm entgegen wie ein trotziges Kind, verjagt ihn, tobt und springt herum und tanzt sich am Ende in seine Arme wie in die eines Vaters. Something in the air ist Pina Bausch gewidmet (wie auch Addio Addio Amore und Redrain), und es ist in der Leichtigkeit und Unmittelbarkeit ein besonders schönes Stück geworden.
Sechs sehr unterschiedliche Arbeiten, von denen die beiden konzentriertesten - Something in the air von Ditta Miranda Jasjfi und slowly Bye Phrases von Ale Čuček, den stärksten Eindruck hinterlassen. Von Daphnis Kokkinos würde man gerne einmal ein Ensemblestück sehen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
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