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Der Freischütz

Romantische Oper in drei Aufzügen
Libretto von Friedrich Kind
Musik von Carl Maria von Weber

in deutscher Sprache

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (eine Pause)

Premiere im Stadttheater Gießen am 15. September 2012



Stadttheater Gießen
(Homepage)

Eremit als Nervenarzt

Von Thomas Molke / Fotos von Rolf K. Wegst

Carl Maria von Webers "deutsche Nationaloper" hat derzeit Hochkonjunktur auf deutschen Bühnen. Nachdem die Wuppertaler Bühnen am Freitag mit dem Freischütz in die neue Spielzeit gestartet sind, hat sich auch das Stadttheater Gießen entschlossen, die neue Opernsaison mit diesem Werk zu beginnen und damit gleichzeitig die Rückkehr ihres Generalmusikdirektors Michael Hofstetter zu feiern, der diesen Posten bereits von 1995 bis 1998 innehatte, bevor er sich einen internationalen Ruf als Experte für authentische Aufführungspraxis des 18. und 19. Jahrhunderts erarbeitete. Sieht man allerdings von der Musik ab, kann man kaum glauben, dass an beiden Bühnen das gleiche Stück präsentiert wird.

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Die Dorfgemeinschaft (Chor und Extrachor) verspottet Max (Eric Laporte, rechts) (im Hintergrund links: Kuno (Calin Valentin Cozma)).

Dabei scheint Nigel Lowery in seiner Inszenierung zunächst einen recht konventionellen Ansatz zu wählen, wirken doch die Kostüme der ersten Szene beim Chor mit den dunklen Flanellhemden und den braunen Hosen recht dörflich, selbst wenn Kuno mit seinem Hut und der Sonnenbrille eher an einen amerikanischen Sheriff als an einen Förster erinnert. Man fragt sich nur, was die seltsame Gestalt in der Szene soll, die wie ein Narr mit Krone durch die Szenerie stapft und von den anderen bisweilen recht bösartig verspottet wird. Dieses Rätsel löst sich erst am Schluss, wenn sich der seltsame Mensch als böhmischer Fürst Ottokar entpuppt, der wohl der prominenteste Insasse einer Nervenheilanstalt ist, die von dem Eremiten als Arzt geleitet wird. In dieser Klinik soll nun auch Max "kuriert" werden und sein Probejahr absolvieren, bevor er erneut um Agathe werben darf. Wieso die komplette Dorfgemeinschaft am Ende aber auch als Patienten auftreten muss, erschließt sich nicht. Müssen auch sie wegen ihrer Begeisterung für den Probeschuss behandelt werden? Dann hätte auch Kuno zum Patienten werden müssen, da er ja letztendlich den Probeschuss eingefordert hat.

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Kaspar (Marcell Bakonyi, links) und Max (Eric Laporte, rechts) in der Wolfsschlucht beim Gießen der Freikugeln

Der psychoanalytische Ansatz in Lowerys Inszenierung hat wohl auch zur Folge, dass eine zentrale Figur des Stückes gar nicht auftritt: der schwarze Jäger Samiel. Auch wenn er immer wieder von Kaspar gerufen wird, erscheint er nicht einmal in den Szenen, in denen er laut Libretto anwesend ist. Sein Text wird dann entweder von Max oder von Kaspar gesprochen. Auch Kaspar scheint als eigenständige Person nicht zu existieren, sondern nur ein Alter Ego von Max zu sein. So tritt er zum ersten Mal aus einem Schrank im Zimmer von Max auf, indem er einen Gaze-Vorhang durchschneidet, der wohl einen Spiegel darstellen soll. Während die beiden sich zunächst in den Kostümen noch unterscheiden, tragen sie nach der Wolfsschlucht-Szene das gleiche Outfit. Lowery lässt sie im weiteren Verlauf sogar so sehr zu einer Figur verschmelzen, dass Max den Dialog mit Kaspar, in dem er letzteren darum bittet, ihm seine letzte Kugel für den Probeschuss zu geben, von Max allein sprechen lässt. So ist es wahrscheinlich auch konsequent, dass Max, nachdem er mit Kaspar einen Teil von sich selbst getötet hat, in psychiatrische Behandlung beim Eremiten muss.

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Agathe (Sarah Wegener, Mitte) mit den Brautjungfern (Amelie Benner, Georgia Benner, Giulia Gietzen, Juliana Kraus, Salome Niedecken und Mona Turski)

Auch in der ersten Szene zwischen Agathe und Ännchen, in der beide auf die Rückkehr von Max warten, lässt Freuds Psychoanalyse grüßen. In dem Zimmer steht eine männliche Schaufensterpuppe, die von den beiden Frauen umgezogen wird und - welch Wunder - genau in das Kostüm gekleidet wird, das Max nach der Wolfsschlucht-Szene trägt. Die Strumpfmaske, die sie der Puppe aufsetzen, erinnert dabei allerdings eher an einen Bankräuber oder Attentäter. Die Brautjungfern wirken mit ihren blass geschminkten Gesichtern und den grauen wallenden Gewändern ein wenig an Vampirbräute. Vielleicht markieren sie gerade deswegen Agathe und später die ganze Dorfgemeinschaft mit einem weißen Kreuz und geben sie damit für den Abschuss frei. Wenn Max die letzte Kugel abfeuert, bricht folglich auch die ganze Gemeinschaft wie getroffen zusammen.

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Max (Eric Laporte, Mitte) muss für das Probejahr erst einmal in die Klinik (vorne rechts: Ottokar (Adrian Gans), Ännchen (Naroa Intxausti) und Agathe (Sarah Wegener), dahinter Chor und Extrachor).

Die Szene in der Wolfsschlucht beginnt viel versprechend, wenn in einer Videoprojektion ein dunkler Waldboden in Schwarz-Weiß-Optik gezeigt wird. Hier spiegeln die Projektionen die unheimlichen Klänge der Musik gut wider. Was hinter der Projektion auf der Bühne geschieht, verschwindet größtenteils im Nebel und diffusem Licht, so dass man lediglich eine dunkle Gestalt wahrnimmt, die Samiel sein könnte, sich aber hinterher als ein weiterer Teil von Max herausstellt. Der Bühnenboden wird herabgelassen, so dass Kaspar mit Max wirklich in die Tiefe der Schlucht hinabsteigen kann. Beim Gießen der Freikugeln durchbricht Lowery allerdings den bis dahin recht stimmigen Ansatz, wenn er in den Videoprojektionen Max als Amokläufer in einem Klassenraum junge Mädchen niederschießen lässt, die alle wie Agathe gekleidet sind. Kann man bei aller Fragwürdigkeit der drastischen Bilder noch den, wenn auch sehr plakativen, Hinweis erkennen, dass Agathe als Opfer für die letzte Freikugel auserkoren ist, wird nicht mehr nachvollziehbar, wieso nach dem Gießen der Bleikugeln ein riesiger Phallus auf der Bühne sichtbar wird und das Publikum irritiert in die Pause entlässt. Genauso unlogisch ist es, nach der Pause den Jägerchor als Testosteron gesteuerte Mannsbilder mit nacktem und bisweilen tätowiertem Oberkörper in einem Strip-Lokal auftreten zu lassen, die eine Stripperin anfeuern, die sich an einer Stange räkelt. Hinzu kommt, dass beim Jägerchor eine Stimme recht disharmonisch heraussticht, was auch noch den musikalischen Genuss dieser Nummer schmälert.

Ansonsten bleiben bei der musikalischen Umsetzung keine Wünsche offen. Michael Hofstetter macht mit dem Philharmonischen Orchester Gießen mehr als deutlich, wieso die Gießener sich glücklich schätzen können, ihn für die nächsten fünf Spielzeiten als Generalmusikdirektor erneut verpflichtet zu haben. Auch der Chor und Extrachor unter der Leitung von Jan Hoffmann präsentieren sich mit Ausnahme des oben erwähnten Jägerchors homogen und stimmgewaltig. Sarah Wegener glänzt als Agathe mit innigem und auch in den Höhen noch sehr textverständlichem Sopran. Eric Laporte verfügt als Max über einen recht lyrischen Tenor, der in den Höhen den erforderlichen Schmelz besitzt. Marcell Bakonyi wirkt als Kaspar sowohl darstellerisch als auch stimmlich mit seinem dunklen Bass sehr diabolisch. Auch Tobias Schabel als Eremit, Adrian Gans als Ottokar und Calin Valentin Cozma als Kuno überzeugen mit dunkler Stimmfärbung. Naroa Intxausti verfügt als Ännchen über einen leichten Sopran. Warum Lowery sie als ältliche Jungfer auftreten lässt, wird nicht klar. Am Ende gibt es großen Applaus für die Sänger und das Orchester und große Missfallensbekundungen für das Regieteam, die im Vergleich zur Wuppertaler Inszenierung ein wenig zu heftig ausfallen. Wie das Gießener Publikum wohl auf die Wuppertaler Inszenierung reagiert hätte?

FAZIT

Für die Rückkehr des GMD hätte man sich eine Inszenierung gewünscht, die mit der musikalischen Umsetzung mithalten könnte. Den Publikums-Geschmack hat Nigel Lowery mit seiner Sichtweise größtenteils nicht getroffen, obwohl er näher am Libretto bleibt als es in Andrea Schwalbachs Inszenierung in Wuppertal der Fall ist.

Zur Rezension der Wuppertaler Freischütz-Inszenierung


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Michael Hofstetter

Inszenierung und Bühne
Nigel Lowery

Kostüme
Bettina Munzer

Licht
Manfred Wende

Video
Martin Przybilla

Chor
Jan Hoffmann

Einstudierung Brautjungfern
Martin Gärtner

Dramaturgie
Christian Schröder

 

 

Chor und Extrachor
des Stadttheater Gießen

Philharmonisches Orchester
Gießen



Solisten

*Premierenbesetzung

Agathe
Sarah Wegener

Max
Eric Laporte

Kaspar
Marcell Bakonyi

Ännchen
Naroa Intxausti

Kuno
*Calin Valentin Cozma /
Aleksey Ivanov

Ottokar
Adrian Gans

Eremit
*Tobias Schabel /
Calin Valentin Cozma

Kilian
Tomi Wendt

Brautjungfern
Amelie Benner
Georgia Benner
Giulia Gietzen
Juliana Kraus
Salome Niedecken
Mona Turski

 


Weitere
Informationen

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Stadttheater Gießen
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