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Eremit als
Nervenarzt
Von Thomas Molke /
Fotos von Rolf K. Wegst
Carl Maria von Webers "deutsche Nationaloper" hat derzeit Hochkonjunktur auf
deutschen Bühnen. Nachdem die Wuppertaler Bühnen am Freitag mit dem
Freischütz in die neue Spielzeit gestartet sind, hat sich auch das
Stadttheater Gießen entschlossen, die neue Opernsaison mit diesem Werk zu
beginnen und damit gleichzeitig die Rückkehr ihres Generalmusikdirektors Michael
Hofstetter zu feiern, der diesen Posten bereits von 1995 bis 1998 innehatte,
bevor er sich einen internationalen Ruf als Experte für authentische
Aufführungspraxis des 18. und 19. Jahrhunderts erarbeitete. Sieht man allerdings
von der Musik ab, kann man kaum glauben, dass an beiden Bühnen das gleiche Stück
präsentiert wird.
Die Dorfgemeinschaft (Chor und Extrachor)
verspottet Max (Eric Laporte, rechts) (im Hintergrund links: Kuno (Calin
Valentin Cozma)).
Dabei scheint Nigel Lowery in seiner Inszenierung zunächst einen recht
konventionellen Ansatz zu wählen, wirken doch die Kostüme der ersten Szene beim
Chor mit den dunklen Flanellhemden und den braunen Hosen recht dörflich, selbst
wenn Kuno mit seinem Hut und der Sonnenbrille eher an einen
amerikanischen Sheriff als an einen Förster erinnert. Man fragt sich nur, was
die seltsame Gestalt in der Szene soll, die wie ein Narr mit Krone durch die
Szenerie stapft und von den anderen bisweilen recht bösartig verspottet wird.
Dieses Rätsel löst sich erst am Schluss, wenn sich der seltsame Mensch als
böhmischer Fürst Ottokar entpuppt, der wohl der prominenteste Insasse einer
Nervenheilanstalt ist, die von dem Eremiten als Arzt geleitet wird. In dieser Klinik soll nun auch Max "kuriert" werden
und sein Probejahr absolvieren, bevor er erneut um Agathe werben darf. Wieso die
komplette Dorfgemeinschaft am Ende aber auch als Patienten auftreten muss,
erschließt sich nicht. Müssen auch sie wegen ihrer Begeisterung für den
Probeschuss behandelt werden? Dann hätte auch Kuno zum Patienten werden müssen, da
er ja letztendlich den Probeschuss eingefordert hat.
Kaspar (Marcell Bakonyi, links) und Max (Eric
Laporte, rechts) in der Wolfsschlucht beim Gießen der Freikugeln
Der psychoanalytische Ansatz in Lowerys Inszenierung hat wohl auch zur Folge,
dass eine zentrale Figur des Stückes gar nicht auftritt: der schwarze Jäger
Samiel. Auch wenn er immer wieder von Kaspar gerufen wird, erscheint er nicht
einmal in den Szenen, in denen er laut Libretto anwesend ist. Sein Text wird
dann entweder von Max oder von Kaspar gesprochen. Auch Kaspar scheint als
eigenständige Person nicht zu existieren, sondern nur ein Alter Ego von Max zu
sein. So tritt er zum ersten Mal aus einem Schrank im Zimmer von Max auf, indem
er einen Gaze-Vorhang durchschneidet, der wohl einen Spiegel darstellen soll.
Während die beiden sich zunächst in den Kostümen noch unterscheiden, tragen sie
nach der Wolfsschlucht-Szene das gleiche Outfit. Lowery lässt sie im weiteren
Verlauf sogar so sehr zu einer Figur verschmelzen, dass Max den Dialog
mit Kaspar, in dem er letzteren darum bittet, ihm seine letzte Kugel für den
Probeschuss zu geben, von Max allein sprechen lässt. So ist es wahrscheinlich
auch konsequent, dass Max, nachdem er mit Kaspar einen Teil von sich selbst
getötet hat, in psychiatrische Behandlung beim Eremiten muss.
Agathe (Sarah Wegener, Mitte) mit den
Brautjungfern (Amelie Benner, Georgia Benner, Giulia Gietzen, Juliana Kraus,
Salome Niedecken und Mona Turski)
Auch in der ersten Szene zwischen Agathe und Ännchen, in der beide auf die
Rückkehr von Max warten, lässt Freuds Psychoanalyse grüßen. In dem Zimmer steht
eine männliche Schaufensterpuppe, die von den beiden Frauen umgezogen wird und -
welch Wunder - genau in das Kostüm gekleidet wird, das Max nach der
Wolfsschlucht-Szene trägt. Die Strumpfmaske, die sie der Puppe aufsetzen, erinnert
dabei allerdings eher an einen Bankräuber oder Attentäter. Die Brautjungfern
wirken mit ihren blass geschminkten Gesichtern und den grauen wallenden
Gewändern ein wenig an Vampirbräute. Vielleicht markieren sie gerade deswegen
Agathe und später die ganze Dorfgemeinschaft mit einem weißen Kreuz und geben
sie damit für den Abschuss frei. Wenn Max die letzte Kugel abfeuert, bricht
folglich auch die ganze Gemeinschaft wie getroffen zusammen.
Max (Eric Laporte, Mitte) muss für das Probejahr
erst einmal in die Klinik (vorne rechts: Ottokar (Adrian Gans), Ännchen (Naroa
Intxausti) und Agathe (Sarah Wegener), dahinter Chor und Extrachor).
Die Szene in der Wolfsschlucht beginnt viel versprechend, wenn in einer
Videoprojektion ein dunkler Waldboden in Schwarz-Weiß-Optik gezeigt wird. Hier
spiegeln die Projektionen die unheimlichen Klänge der Musik gut wider. Was
hinter der Projektion auf der Bühne geschieht, verschwindet größtenteils im
Nebel und diffusem Licht, so dass man lediglich eine dunkle Gestalt wahrnimmt,
die Samiel sein könnte, sich aber hinterher als ein weiterer Teil von Max
herausstellt. Der Bühnenboden wird herabgelassen, so dass Kaspar mit Max
wirklich in die Tiefe der Schlucht hinabsteigen kann. Beim Gießen der Freikugeln
durchbricht Lowery allerdings den bis dahin recht stimmigen Ansatz, wenn er in
den Videoprojektionen Max als Amokläufer in einem Klassenraum junge Mädchen
niederschießen lässt, die alle wie Agathe gekleidet sind. Kann man bei aller
Fragwürdigkeit der drastischen Bilder noch den, wenn auch sehr plakativen,
Hinweis erkennen, dass Agathe als Opfer für die letzte Freikugel auserkoren ist,
wird nicht mehr nachvollziehbar, wieso nach dem Gießen der Bleikugeln ein
riesiger Phallus auf der Bühne sichtbar wird und das Publikum irritiert in die
Pause entlässt. Genauso unlogisch ist es, nach der Pause den Jägerchor als
Testosteron gesteuerte Mannsbilder mit nacktem und bisweilen tätowiertem
Oberkörper in einem Strip-Lokal auftreten zu lassen, die eine Stripperin
anfeuern, die sich an einer Stange räkelt. Hinzu kommt, dass beim Jägerchor eine
Stimme recht disharmonisch heraussticht, was auch noch den musikalischen Genuss
dieser Nummer schmälert.
Ansonsten bleiben bei der musikalischen Umsetzung keine Wünsche offen. Michael
Hofstetter macht mit dem Philharmonischen Orchester Gießen mehr als deutlich,
wieso die Gießener sich glücklich schätzen können, ihn für die nächsten fünf
Spielzeiten als Generalmusikdirektor erneut verpflichtet zu haben. Auch der Chor
und Extrachor unter der Leitung von Jan Hoffmann präsentieren sich mit Ausnahme
des oben erwähnten Jägerchors homogen und stimmgewaltig. Sarah Wegener glänzt
als Agathe mit innigem und auch in den Höhen noch sehr textverständlichem
Sopran. Eric Laporte verfügt als Max über einen recht lyrischen Tenor, der in
den Höhen den erforderlichen Schmelz besitzt. Marcell Bakonyi wirkt als Kaspar
sowohl darstellerisch als auch stimmlich mit seinem dunklen Bass sehr
diabolisch. Auch Tobias Schabel als Eremit, Adrian Gans als Ottokar und Calin
Valentin Cozma als Kuno überzeugen mit dunkler Stimmfärbung. Naroa Intxausti
verfügt als Ännchen über einen leichten Sopran. Warum Lowery sie als ältliche
Jungfer auftreten lässt, wird nicht klar. Am Ende gibt es großen Applaus für die
Sänger und das Orchester und große Missfallensbekundungen für das Regieteam, die
im Vergleich zur Wuppertaler Inszenierung ein wenig zu heftig ausfallen. Wie das
Gießener Publikum wohl auf die Wuppertaler Inszenierung reagiert hätte? Für die Rückkehr des GMD hätte man sich eine Inszenierung gewünscht, die mit der musikalischen Umsetzung mithalten könnte. Den Publikums-Geschmack hat Nigel Lowery mit seiner Sichtweise größtenteils nicht getroffen, obwohl er näher am Libretto bleibt als es in Andrea Schwalbachs Inszenierung in Wuppertal der Fall ist. Zur Rezension der Wuppertaler Freischütz-Inszenierung Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Bühne Kostüme Licht Video Chor Einstudierung Brautjungfern
Dramaturgie
Chor und
Extrachor Philharmonisches Orchester
Solisten*Premierenbesetzung Agathe
Max
Kaspar Ännchen Kuno Ottokar
Eremit
Kilian Brautjungfern
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