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Dickens-Märchen mit hohem Nostalgie-Faktor
Von Thomas Molke / Fotos von Matthias Stutte Seit mittlerweile 17 Jahren widmet sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach mit dem Jugendclub der Aufgabe, junge Leute für das Theater zu begeistern. Seitdem konnten zahlreiche Jugendliche Theaterluft schnuppern und in rund 35 eigenen Schauspiel-, Musik- und Tanztheaterproduktionen tätig werden. Mit der Musical-Produktion Joseph and the Amazing Technicolour Dreamcoat in der Spielzeit 2010/11 eroberte der 2007 von Rochus Triebs und der damaligen Theaterpädagogin Marion Kaeseler gegründete Jugendclubchor auch als Hauptakteur mit so nachhaltigem Erfolg die Theaterbühne, dass die Produktion auch in der folgenden Spielzeit wieder aufgenommen wurde. Nun hat die Theaterpädagogin Silvia Behnke mit insgesamt 70 jungen Akteuren unter der musikalischen Leitung von Rochus Triebs einen weiteren Musical-Klassiker erarbeitet, der kurz vor der Sommerpause insgesamt fünf Mal im Theater Krefeld zu erleben ist: Oliver! Das Stück basiert auf Charles Dickens' berühmtem Roman Oliver Twist, der von Februar 1837 bis April 1839 als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Bentley's Miscellany erschien und seit 1909 zu knapp 30 TV- und Kinoadaptionen anregte. Zu den berühmtesten Versionen dürften die Verfilmung mit Sir Alec Guiness als Fagin (1948, Regie: David Lean) und mit Ben Kingsley in der gleichen Rolle (2005, Regie: Roman Pola ński) zählen. Am 30. Juni 1960 gelang Lionel Bart mit seiner Musical-Version eine sensationelle Uraufführung im Londoner West End, die mit 2618 Vorstellungen erst 1971 von Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar übertroffen wurde. Auch das Musical wurde 1968 verfilmt, wobei Ron Moody für seine Darstellung als "Bester Schauspieler" mit einem von insgesamt sechs Oscars für das Stück ausgezeichnet wurde. Bei einer Neuinszenierung im Londoner West End schlüpfte sogar Rowan Atkinson (Mr. Bean) in die Rolle des alten Gauners, der elternlosen Kindern eine Alternative zum Waisenhaus bietet, indem er sie zu jungen Taschendieben ausbildet.Nachhilfeunterricht beim Stehlen: Fagin (Christoph Erpenbeck, Mitte) und Oliver (hier: Florian Seefing) (im Hintergrund Mitte: Artful Dodger (hier: Luca Recker) mit Mitgliedern des Jugendchors) Bei der Komplexität der Figur verwundert es nicht, dass die Partie in der Krefelder Inszenierung nicht den Mitgliedern des Jugendclubs überlassen wird, sondern von einem erfahrenen Sängerdarsteller interpretiert wird. Christoph Erpenbeck, langjähriges Ensemble-Mitglied und Publikumsliebling, der in den letzten Jahren allein vier Mal mit dem Theater-Oscar ausgezeichnet wurde, erhält die Möglichkeit, seinem Repertoire eine weitere Parade-Rolle anzueignen. Dabei gelingt ihm darstellerisch die höchst schwierige Gratwanderung zwischen verabscheuungswürdigem Ausbeuter und einem Menschen mit einer gewissen Portion Herz für seine Schützlinge, die weit über das hinausgeht, was die Verwalter des Armenhauses für die Waisen empfinden. Auch musikalisch begeistert er mit seinen beiden großen Nummern "Mach die krummen Finger schön lang", mit der er Oliver in das Kunstwerk des Diebstahls einführt, und seinem melancholischen Schlusslied "Ich glaub', ich überleg's mir noch einmal", in dem er am Ende darüber sinniert, wie es mit ihm nun weitergehen wird, nachdem seine Bande aufgeflogen ist. Fagin (Christoph Erpenbeck, Mitte) schlichtet zwischen Nancy (Aylin Alex) und Bill Sikes (hier: Tim Hoffmann) (im Hintergrund: der Jugendchor) Vielleicht hätte es der Produktion gut getan, neben Erpenbeck und Franz Josef Becker als Mr. Brownlow auch einige weitere Rollen mit älteren Darstellern zu besetzen. Zwar machen Marcus Brux als Armenhausleiter Mr. Bumble, Pia Haefs als Mrs. Corney und Rafael Poloczek als Leichenbestatter Mr. Sowerberry ihre Sache darstellerisch sehr gut, sind aber für die Figuren einfach zu jung, um in der Rolle wirklich ernst genommen zu werden. Über dieses kleine Manko trösten aber die wunderbaren Kostüme hinweg, mit denen die Kostümbildnerin Ivonne de Blecker das Publikum in die viktorianische Zeit eintauchen lässt. Da wird wirklich bei jeder noch so kleinen Partie mit großer Liebe zum Detail gearbeitet, was für die Faszination auf der Bühne und im Zuschauersaal nicht unbedeutend sein dürfte. Hinzu kommt ein großartiges Gespür für die Massenszenen, mit denen Silvia Behnke den Jugendchor, die Musical-Dancer und den Kinderchor als Waisenkinder, Diebesbande oder Volk auf der Straße in Szene setzt. Peter Schmitz sorgt mit einem abwechslungsreichen Bühnenbild, das häufig nur mit herabgelassenen Prospekten oder Bildprojektionen den jeweiligen Handlungsort andeutet und wenigen, dafür aber liebevoll gestalteten Requisiten für schnelle Szenenwechsel, ohne dass lange Pausen entstehen. Einer glücklichen Zukunft entgegen: Oliver (hier Florian Seefing) mit dem Jugendchor Ungewohnt ist der Beginn im Waisenhaus. Nachdem Donner und Blitz die unheimliche Atmosphäre des Armenhauses auf einer großen Projektion vor der Bühne angekündigt haben, singen die Waisenkinder das Auftrittslied "Brot, herrliches Brot" zunächst aus dem Off. Die schlagzeuglastige musikalische Untermalung durch die Colosseum-Band unterstreicht den militanten Charakter des Ortes. Erst nach dem Refrain betreten die Jugendlichen die Bühne und nehmen auf den Bänken zum Essen Platz. Hierbei wird von den choreographischen Möglichkeiten für dieses Musikstück sicherlich einiges verschenkt. Großartig hingegen gelingt der Chor "Wer will kaufen rote Rosen", bei der Antoinette Matshuki als Rosenverkäuferin, Josephine Petersen als Milchverkäuferin und Corinna Gretenkort als Erdbeerverkäuferin ein musikalisch wunderbares Terzett präsentieren, bevor die restlichen Jugendlichen in den Gesang mit einstimmen.
Auch die jugendlichen
Hauptpartien sind mit Filip Lazar als Artful Dodger, Aylin Alex als Nancy und
Lennart Vogt als Oliver überzeugend besetzt. Lazar überzeugt mit schönem Gesang
bei seinem Auftrittslied "Komm fühl dich bei uns zu Haus", mit dem er Oliver
einlädt, sich Fagin und der Bande anzuschließen. Alex lotet die Partie der Nancy
zwischen blinder Liebe zu dem bösen Bill Sikes in dem melancholischen Song
"Solange Bill mich braucht" und Mitgefühl mit Oliver durch glaubhaftes Spiel
aus. Vogt macht die Titelfigur mit seinem kindlichen Spiel zum absoluten
Sympathieträger, auch wenn das Schlussbild, in dem Oliver unter allgemeinem
Jubel der aufgehenden Sonne entgegen getragen wird, vielleicht doch ein bisschen
zu dick aufgetragen ist. Dem Publikum jedenfalls gefällt es, und so gibt es am
Ende tosenden Applaus für alle Beteiligten. FAZIT
Dieses Musical wird leider viel zu selten auf den deutschen Theaterbühnen
gespielt. Von daher sollte man sich diese Chance in Krefeld nicht entgehen
lassen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Choreographie
Bühne Kostüme
Dramaturgie
Musical-Dancer des Jugendclubs Kinderchor 'Crazy Notes' Streicher der Musikschule Krefeld Keyboard I
Solisten*rezensierte Aufführung Oliver
Fagin
Artful Dodger
Bill Sikes Nancy Bet Mr. Bumble Mrs. Corney Mr. Brownlow Mr. Grimwig Mrs. Sowerberry Mr. Sowerberry Charlotte Noah Claypole Mrs. Bedwin Old Sally Charley Bates Rosenverkäuferin Milchverkäuferin Erdbeerverkäuferin Messerschleifer
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