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Eine mexikanische Oper von Puccini
Von Thomas Tillmann
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Fotos von Christian Kleiner
Giacomo Puccinis wunderbare, unterschätzte Fanciulla del West wird gern als "amerikanische" Oper bezeichnet, aus nachvollziehbaren Gründen. Tilman Knabe schaut bei seiner Mannheimer Neuinszenierung genauer hin und arbeitet im Verbund mit seinem Dramaturgen Anselm Dalferth heraus, dass es sich noch viel mehr um eine "mexikanische" Oper handelt, spielt doch die Handlung in den Jahren 1849/50, also kurz nach Beendigung des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848, in dem Mexiko mehr als die Hälfte seines Staatsgebietes verlor. Das setzt Bühnenbildner Johann Jörg konsequent um, wenn er dem Publikum schon beim Betreten des Zuschauerraums ein Militärlager mit viel Stacheldraht und zerborstenem Holz zeigt. Und auch die harten Schläge des Vorspiels versteht das Regieteam als "Kriegsmusik": "Mit dem Vorspiel setzt Puccini den Status quo: Das ist noch der Krieg." Dass Minnie in ihrem Arioso des ersten Aufzugs die kalifornische Stadt Soledad erwähnt, die vor dem Krieg mexikanisch war, ist für Knabe eindeutiges Indiz dafür, dass sie Mexikanerin ist, und so ist die Liebe zwischen ihr und Ramerrez, die sich schon während des Vorspiels begegnen, mehr als eine persönliche Liebesgeschichte: Es geht "auch um den gemeinsamen Weg nach Freiheit ... und um Fragen der mexikanischen Identität." Da ist es durchaus konsequent, dass die Titelfigur lange dunkle Haare hat, die sie vor ihrem Auftritt in der Schmuddelkneipe unter einer blonden Perücke versteckt. Sheriff Jack Rance (Karsten Mewes) sieht sich als Hüter von Recht und Ordnung.
Und Knabe konzentriert sich auf ein weiteres sonst häufig außer acht gelassenes Detail: Billy Jackrabbit und seine schwangere Wowkle avancieren in dieser Produktion zu heimlichen Hauptfiguren. Wir erfahren, dass sie heroinsüchtig sind, wir hören ihr Kind schreien und müssen Zeuge sein, wie er sich übergibt und beide später das verstorbene Kind in einem Müllberg beerdigen, und ihnen gehört auch die allerletzte Szene: Sie prosten sich mit einer Dose Bier zu, die "native Americans" (so die wohl politisch korrekteste Bezeichnung für die "Indianer" im Moment) überleben und werden sich auch in Zukunft zu arrangieren wissen. Knabe und Dalferth erklären uns, dass es sich bei dem mexikanischen Gebiet, das die Amerikaner erobern, um ursprünglich indianisches Land handelt, das später von spanischen Missionaren bevölkert wurde, bevor es mexikanisch und schließlich amerikanisch wurde - ein "historisch komplexes Feld" also. Ich muss ehrlich sein: Ich weiß wenig über dieses historische Feld, muss also dem im Programmheft angebotenen Material glauben - eine flotte google-Recherche bringt kaum weiter. Immerhin, es kommt keine trockene Geschichtsstunde bei Knabes Sicht der Dinge heraus, es wird keine zweifelhafte, dem Stück überhaupt nicht innewohnende Grundidee drei Stunden lang "durchgekaut", sondern man erlebt einen konsequent erzählten, immer wieder verstörenden, packenden, anspruchsvollen Theaterabend, freilich einen mit allerhand vordergründiger antiamerikanischer Polemik und Klischees (ich denke an den Basketballkorb auf der rechten Bühnenseite). Irritierend ist, dass Knabe eine weitere Zeitebene bemüht, denn das Bühnenpersonal trägt Kostüme unserer Zeit (entworfen von Kathi Maurer und Annett Lausberg), das nach wie vor schwierige Verhältnis zwischen den USA und Mexiko vor allem an der gemeinsamen Grenze wird auf diese Weise zusätzlich einbezogen, was den nicht vorgebildeten Zuschauer doch etwas überfordert. Und auch die Umsetzung der Beobachtung, dass in manchen Momenten des Stücks nicht recht deutlich wird, ob es sich um Realität oder um Erhofftes handelt, wird nicht jeden erreichen, auch wenn Knabe die Darsteller zu Zeitlupentempo in den Bewegungen verpflichtet und die Bühne in grünes Licht hüllt. Jack Rance (Karsten Mewes, links) glaubt sich am Ziel: Er will seinen Konkurrenten um Minnies Herz, den Mexikaner Ramerrez (Roy Cornelius Smith) töten.
Was Knabes Inszenierung von vielen ärgerlichen unterscheidet, ist der Umstand, dass er sich nicht in "Mätzchen" und Nebenhandlungen verfängt, dass er zum Kern der Vorlage vordringt und es schafft, Menschen aus Fleisch und Blut auf die Bühne zu bringen, für die man sich interessiert - besonders die Liebesgeschichte des zweiten Aktes gerät immens dicht und ist erstaunlich nah dran an dem, was Libretto und Partitur vorsehen. Nervig fand ich indes die Windgeräusche, die zwischen dem ersten und zweiten Akt über die Hausanlage eingespielt werden - wie auch die Entscheidung, beide ohne Pause zu spielen, was nicht nur für das singende Personal eine Zumutung ist, sondern auch den einen oder anderen Zuschauer in Bedrängnis bringt. Und wir sind doch alle erwachsene Menschen, die wissen, dass das Rendezvous nur wenige Stunden später stattfindet und den Anschluss nicht verlieren, wenn wir uns im Foyer gestärkt haben (und so komplex ist das Stück ja auch nicht wirklich). Galina Shesterneva ist eine viel gelobte dramatische Sopranistin (ich erinnere mich sehr gut an ihre Maddalena di Coigny am Nationaltheater vor zehn Jahren, an eine Forza-Leonora in Bonn und ihre Manon Lescaut ebendort im letzten Jahr), und ihre Spitzentöne waren auch an diesem Abend nichts weniger als sensationell, elektrisierend und aufregend, und doch wurde ich den ganzen Abend das Gefühl nicht los, dass die Künstlerin sich nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlte (und sicher nicht in den zu hohen Bettstiefeln des ersten Kostüms), dass ihr die Partie in nicht wenigen Passagen zu tief liegt, dass sie ein bisschen mehr Hilfe vom musikalischen Leiter gebraucht hätte, was die Lautstärke des Orchesters angeht, und dass sie sich letztlich auch mit der Produktion und der Anlage ihrer Rolle durch den Regisseur nicht wirklich identifizieren konnte. Trotzdem wird man lange suchen müssen, bis man anderswo eine Puccinisängerin ihres Formats und vor allem eine Interpretin der Minnie finden wird, die vor den Schwierigkeiten dieser vertrackten Partie nicht kapitulieren wird (und mit Ludmila Slepneva, der Premierenbesetzung, hat man in Mannheim noch eine zweite exzellente Fachvertreterin im Ensemble). Sonora (Nikola Diskic) stimmt seine Kumpels (Ensemble und Herrenchor des Nationaltheaters Mannheim) um: Sie sollen Minnie (Galina Shesterneva) und Ramerrez (Roy Cornelius Smith) ziehen lassen.
Überrumpelnde Spitzentöne hatte auch Roy Cornelius Smith als Dick Johnson anzubieten, und auch sonst war er mit seinem tenore robusto eine ideale Besetzung für diesen schwierigen Part, und so sah man dem neuen Ensemblemitglied einige Nebengeräusche auf der Stimme und das Zutiefsingen in den allerletzten Pianopassagen gerne nach. Man hätte ihm eine kleidsamere Perücke und ein ebensolches Kostüm gewünscht - einige Zuschauer lachten ungeniert, als sie ihn in Minnies Wohnung in Unterhosen zu sehen bekamen. Karsten Mewes war eine erste Besetzung für den Jack Rance, sieht man davon ab, dass seine kompakte, tragfähige Baritonstimme in der oberen Terz erheblich an Farbe und Klang verliert - was hört man da oft für ein derbes Gebrüll und Sprechgesang von rauen, strapazierten Heldenbaritonen. Umso dankbarer war man dem Sänger, dass er manch leisen Zwischenton fand und die Partie wirklich sang. Minnie (Galina Shesterneva) und Ramerrez (Roy Cornelius Smith) freuen sich (zu früh) über den Sieg.
Große Sorgfalt hatten die Verantwortlichen zweifellos auch bei der Besetzung der kleineren Partien walten lassen: Bryan Boyce beispielsweise singt kraftvoll und mit schönem Ton das Lied des Jack Wallace, der verdiente Allan Evans entwickelt einiges Profil als Sid, Uwe Eikötter war ein ausdrucksstarker Nick, und auch die Herren des Chores präsentierten sich nach anfänglichen Einsatzunsicherheiten im weiteren Verlauf des Abends in glänzender Form. .Alois Seidlmeier, seit der Spielzeit 2010/11 erster Kapellmeister des Nationaltheaters, machte am Pult nicht viel falsch, aber man kann doch mehr herausholen aus dieser spannenden Partitur, das Orchester muss nicht immer gleich wuchtig klingen, manche Passage könnte pointierter, rhythmischer, aggressiver sein, andere poetischer, intimer. Insgesamt fehlte es an einer hörbaren persönlichen Handschrift - pardon, aber dieses Werk ist eigentlich ein GMD-Stück.
Das Nationaltheater Mannheim hat mit dieser Fanciulla zweifellos einen packenden Pucciniabend im Repertoire, der auch musikalisch insgesamt überzeugt und dem man auch in der Zukunft so viele Zuschauer wünscht wie in der besuchten dritten Vorstellung. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Mitarbeit Kostüme
Licht
Dramaturgie
Chor
Solisten* Besetzung derbesuchten Vorstellung
Minnie
Ludmila Slepneva
Ramerrez * Roy Cornelius Smith
Jack Rance
* Karsten Mewes
Nick
Juhan Trulla
Ashby
Alexander Vassiliev
Sonora
Lars Moller
Trin
Benedikt Nawrath
Sid
Bello
Harry
Joe
Happy
Larkens
Billy Jackrabbit
Wowkle
Marie-Belle Sandis
Jake Wallace
Radu Cojocariu
José Castro
John Dalke
Ein Postbote
Bertram Paul Kleiner
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