Des Menschen Schicksal ist der
Mensch
Von Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg
Landsberg
Mit Verdis Oper La
forza del destino (Die Macht des Schicksals) ist dem
jungen Andreas Hotz, mit Beginn der Spielzeit
2012/2013 neuer Generalmusikdirektor des Theater
Osnabrück, ein grandioser Opernauftakt
gelungen.
Für die große Popularität der
Verdi-Opern nicht nur bei seinen Zeitgenossen sind
laut Schreiber verschiedene Dinge verantwortlich:
die Spannung zwischen privater Tragödie und
öffentlicher Gesellschaftskrise, eine gewisse
"Monumentalisierung" durch Klangfarbe, Harmonie bzw.
Melodie sowie eine ausbalancierte Musikdramaturgie.
La forza del
destino, Verdis
1862 in St. Petersburg uraufgeführte Oper,
wurde erst in der Mailänder Fassung von 1869
ein Erfolg. Neu entstand die Ouvertüre.
Umgearbeitet wurde auch der Schluss:
Ursprünglich nimmt Alvaro sich am Schluss das
Leben, während er in der 2. Fassung als
Einziger die Tragödie überlebt.
Il Marchese di Calatrava und seine Tochter
Leonora
Musikalisch wirkt diese Oper wie aus einem Guss.
Szenisch dagegen werden zahlreiche Schauplätze
aneinandergereiht. Das Ausgangsdrama: Leonora di
Vargas will mit ihrem, vom Vater unerwünschten,
farbigen Geliebten fliehen. Aufgrund ihres
zögerlichen Verhaltens werden die Beiden
schließlich vom Vater überrascht. Alvaro
wirft, zum Zeichen der friedlichen Absichten seine
Pistole weg. Dabei löst sich ein Schuss, der
Leonoras Vater tötet. Was dann folgt, sind die
verschiedenen Stationen einer für Beide
unabhängigen Flucht in Zeiten des Krieges. Vom
Vater verflucht und vom Rachedurst des Bruders Don
Carlo verfolgt, findet Leonore Aufnahme in einem
Franziskanerkloster. Alvaro kämpft unter
falschem Namen ruhmreich auf der Seite der Italiener
und rettet auch Don Carlo das Leben. Unerkannt
schließen die Männer Freundschaft, bis
Don Carlo Verdacht schöpft, ihn erkennt und
Alvaro zum Duell fordert. Beide werden durch die
Lagerwache getrennt. Alvaro will daraufhin in einem
Kloster Frieden suchen, wird aber Jahre später
von Don Carlo entdeckt. Bei der folgenden,
lang ersehnten Auseinandersetzung wird Don Carlo
tödlich getroffen. Beide erkennen in dem
herbeigerufenen Beichtvater Leonora wieder, die mit
letzter Kraft von ihrem Bruder getötet wird.
Den Liebenden bleibt nur die tröstende
Verheißung, sich im Jenseits wiederzusehen.
Der völlig verzweifelte Alvaro wird am Schluss
von Padre Guardiano ermahnt, das Schicksal nicht zu
verfluchen.
Regisseur Robert Lehmeier nutzt die aufgrund einer
langen Regietradition entstandenen Interpretationen
für packende Bilder und entgeht dem Zerfall in
verschiedene Einzelszenen, indem er die
Opernhandlung ganz auf einen kritischen,
kammertheatralen Subtext reduziert. Für ihn
beginnt die "eigentliche" Oper nach dem 1.Akt.
Jenseits von historischer Einordnung, Krieg und
Opernschauplätzen wird uns eine von materieller
Armut, Ausbeutung und Business geprägte,
zwischenmenschlich zerrüttete Gesellschaft vor
Augen geführt, in der Werte wie Heimat,
Freiheit oder Menschlichkeit zu ideologischen
Heilsversprechen auf Plakatwänden verkommen
sind.
Padre Guardiano und
Leonora auf der Suche nach Freiheit
Alvaro und Leonora werden nicht
zuletzt aufgrund einer inzestuös engen
Vater-Tochter-Beziehung bis in den Tod ein
"verhindertes Liebespaar" bleiben. Den
Klosterbrüdern, auch Padre Guardiano wird der
Heiligenschein genommen. Sie sind Geschäftsmänner, die
sich des allzu trügerischen Jacketts entledigt
haben, Leonore zur Unterwerfung zwingen und ihre
rituelle Aufnahme als homoerotische Ersatzhandlung
missbrauchen.
Und die Massen animierende Preziosilla, die im
zweiten Akt mit vielen Gleichgesinnten als
Businessfrau mit Aktenköfferchen erscheint,
muss sich im dritten Akt auch der Gewalt der nach
"Liebe" dürstenden Vaterlandskämpfer
beugen.
Leonoras Rückzug in die Einsiedelei wird als
Selbstkasteiung interpretiert. Als sie am Ende
schwer verwundet göttliche Gnade erfleht und
Alvaro auf die Liebe im Jenseits vertröstet,
wird die Sterbende von Pater Guardiano weggezogen
und gezwungen, büßend die Hände zu
falten und zu heben. Passend zu den
abschließenden, verklärenden, wunderbar
zarten, hohen Streicherklängen schiebt Pater
Guardiano ein weißes Brautkleid auf die
Bühne. Alvaro findet auch nach seiner
Kriegsverletzung als gebrochener, im Rollstuhl
sitzender Mann keine Ruhe.
Einziger Kritikpunkt: Die Abgrenzung gegenüber
den musikalisch kontrastierenden, grotesken Szenen
hätte etwas deutlicher ausfallen können.
Die von Tom Musch konzipierte Plakatwand ist mit
religiösen oder politischen Symbolen,
Statements bzw. Aufrufen von Jesus über
Ayatollah Khomeini bis zur RAF gepflastert. Hinzu
kommt eine Stahltreppe, über die Leonore die
Einsiedelei betritt bzw. in den Himmel entschwindet.
Schwer
verwundet bittet Alvaro seinen Freund Carlo,
das Kästchen nach seinem Tode zu
vernichten
Für den besonderen Kick dieser Osnabrücker
Neuinszenierung sorgt vor allem die grandios
einstudierte, ausdrucksdifferenzierte, zwischen
Gefühlsseligkeit und Dramatik changierende
Verdi-Musik. Ob homogen, im dreifachen Piano
einsetzende Streicher, ob Stretta, dynamische
Entwicklungen oder forcierte Tempi, die musikalische
Gestaltung unter der umsichtigen Leitung von Andreas
Hotz ist nicht nur in der Ouvertüre ein Genuss.
Auch der homogene Chor und Extrachor erklingen
dynamisch und artikulatorisch differenziert.
Hinzu kommt ein überzeugendes Solistenensemble.
Mit klarer, strahlender Höhe und warm
grundierter, lyrisch flexibler Klangfülle
entspricht Lina Liu als Leonora dem, was man sich
unter einem engelsgleichen Verdi-Timbre vorstellt.
Sie gestaltet die Rolle dynamisch differenziert und
anrührend. Dramatisch und lyrisch
überzeugend ist auch Ray M. Wade jr. als
Alvaro. Daniel Moons offener, klangvoller Bariton
stellt einen kraftvollen Carlo dar. Almerija Delic
als Preziosilla besticht vor allem im
Rataplan-Paradestück durch Temperament und
rhythmische Präzision mit dem Chor.
FAZIT
Eine Dramatik und
Gefühlsseligkeit auskostende, musikalische
Inszenierung konterkariert von packenden
Regiebildern.