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Musiktheater
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Der Schaum der Tage (L'écumes des jours)

Lyrisches Drama in drei Akten
Nach dem Roman von Boris Vian
Text und Musik von Edison Denisov

In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 45' (eine Pause)

Premiere am 1. Dezember 2012 in der Staatsoper Stuttgart

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)

Der Wahnsinn lauert überall

Von Roberto Becker / Fotos © A.T.Schaefer


Eine Literatur-Oper ist eigentlich nichts Besonderes in der Sparte „Moderne“. Edison Denisovs Der Schaum der Tage nach dem gleichnamige Kultroman von Boris Vian („L'Écume des jours“) aus dem Jahre 1946 aber schon. Der 1929 in Sibirien geborene und 1996 in Paris gestorbene russische Komponist hat sie 1981 komponiert. Quasi privat und ohne die selbstzensierenden Rücksichten, die eine Aufführung in der Sowjetunion möglich gemacht hätten. Die Uraufführung dieses sowohl typisch russischen als auch unverkennbar französischen Dreiakters aus 14 Bildern und 7 Intermezzi fand denn auch 1986 in der Pariser Opéra-comique statt. In Deutschland war sie 1991 das erste Mal in Gelsenkirchen und dann nur noch einmal in Mannheim zu sehen. Diese Rarität ist also im Grunde immer noch nahezu unbekannt. Vielleicht ändert sich das ja nach dieser Produktion.

Vergrößerung in neuem Fenster Das besondere Dinner

Die surreal mäandernde Geschichte fängt zunächst an mit zwei Bohème-Paaren in einem Paris, in dem der Philosoph Jean-Sol Partre, also kein Geringerer als Sartre, der Star ist. In einer fast schon boulevardesk heiteren La Bohème-Variation unter Luxusbedingungen. Mit eigenem Koch und einem wundersamen, Cocktails produzierenden Klavier. Ein dunkel furnierter Raum mit üppigem Oberlicht und (projizierten) Fenstern weitet sich von Zeit zu Zeit nach hinten in eine Art Nobelwartesaal. Diese surreal durchschossene Lebenskünstler-Wirklichkeit kippt unversehens ins Lebenstragische, als der sanften, wie ein Duke-Ellington-Foxtrott benannten Chloé (Rebecca von Lipinski) eine Seerose in der Lunge wächst, die man offenbar nur durch andere Blumen bekämpfen kann. Ed Lyon führt diesen Kampf und füllt diese zentrale Partie ihres gerade geheirateten Mannes Colin mit smartem Charme und Fähigkeit zum Leiden, darstellerisch und stimmlich imponierend aus. Bald muss er, um Geld zu verdienen, den absurden Job annehmen, mit seiner Körperwärme das Wachstum von Waffen zu befördern. Was aber in dieser Welt auch nicht mehr verwundert. Gehört doch zu seinem Haushalt eine sprechende Maus. Die begeht am Ende Selbstmord, indem sie ihren Kopf freiwillig in ein Katzenmaul steckt, weil sie nicht mit ansehen kann, wie Colin am nicht zu verhindernden Tod von Chloé leidet.

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Surreale Traumhochzeit

Colins Freund Chick (Daniel Kluge) wird seine obsessive Vorliebe für Patre–Bücher zum Verhängnis. Erst vernachlässigt er dafür seine Freundin Alise (auch mit vokalem Esprit: Sophie Marilley), dann wird er von einer Schutztruppe, die „nur“ wegen einer Steuerprüfung bei ihm eindringt, totgeprügelt.  Als seine Freundin Alise dann in einem Rachfeldzug alle Buchläden abfackelt, geht sie dabei  selbst mit in Flammen auf. Am Ende überlebt nur Colin, wobei das bei seinem Zustand stark übertrieben ist.

Vergrößerung in neuem Fenster Nicht nur die Bücher gehen in Flammen auf

Die emotionale Tonlage, der sich souverän und ohne dogmatische Einschränkung zwischen Kammermusik und Musicalsound, Chanson und Jazz, leichfüßigem Parlandoton und düsterem Orchesterraunen bewegt, ist da längst auf einer atemberaubenden Achterbahn auf den Abgrund zugefahren. Hat dabei Kirchengesänge aufgeboten, während ein Jesus seine Hände in Unschuld wäscht und seine Wundmale doch nicht wegbekommt. Das Orchester hat mit wuchtigen Tutti-Schlägen an die Pforten der Hölle gedonnert und dann doch wieder zarte, poetische Trauertöne angeschlagen. Denisvos Musik ist ein geradezu exemplarisches Beispiel dafür, wie ein Schostakowtisch-Erbe eigene Wege eingeschlagen hat. Auch in Richtung der westlichen Moderne. Deren Dogmen sie sich ebenso souverän verweigert, wie den kulturpolitischen Forderungen in seiner Heimat.

In der Stuttgarter Oper ist so ein ambitioniertes Ausgrabungsunternehmen natürlich Chefsache. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben zusammen mit Jens Kilian (Bühne), Anja Rabes (Kostüme) und Chris Kondek (Video) mit bewährtem ästhetischem Scharfsinn und präziser Personenführung inszeniert. Bei ihnen bricht die Oberfläche einer nachvollziehbar realistischen Welt immer wieder auf und offenbart den nur eine Handbreit dahinter liegenden Wahnsinn, das Absurde, das Abgründige, das sich am Ende durchsetzt.

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Trauer grenzenlos

Am Pult des Staatsorchesters stand der neue GMD Sylvain Cambreling. Mit spürbarer Hingabe belegte er seinen Ruf, ein Spezialist für die Moderne zu sein. Wobei er der Inszenierung folgt, die weniger auf das grell Bunte der Geschichte setzt, sondern auf die Wirkung der dunklen Seiten, in denen Wagners Tristan-Musik, Debussys Pellèas-Düsternis herüber leuchten und Kafka den Fremdenführer durch die Alptraumwelten gibt. Zum Glück haben weder Wieler noch Cambreling dieses Werk wie einen exotischen Schmetterling aufgespießt oder zu einer schrillen Revue gemacht, sondern ernst genommen und fliegen lassen.  Und wir sehen und hören stauend zu. Begeisterter Jubel in Stuttgart.


FAZIT

Das Opernhaus Stuttgart hat sich mit dieser Ausgrabung wiederum als das derzeit interessante deutsche Opernhaus erwiesen.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Sylvain Cambreling

Inszenierung und Dramaturgie
Jossi Wieler
Sergio Morabito

Bühne und Kostüme
Jens Kilian

Kostüme
Anja Rabes

Licht
Reinhard Traub

Video
Chris Kondek

Choreographische Mitarbeit
Andrea Böge

Chor
Johannes Knecht

Dramaturgie
Thomas Wieck
Moritz Lobeck


Chor der Staatsoper Stuttgart

Staatsorchester Stuttgart


Solisten

Colin
Ed Lyon

Die Maus
Sébastien Dutrieux

Nikolas, Colins Koch
Arnaud Richard

Chick, Freund von Colin
Daniel Kluge

Alise, Chicks Freundin
Sophie Marilley

Isis, Freundin von Chloé
Pumeza Matshikiza

Der Priester
Marcel Beekman

Chloé
Rebecca von Lipinski

Coriolan
Kai Preussker

Und Pégase, Ehrenschwule
Marcel Beekman

Das Schuppentier
Yves Lenoir

Doktor Mangemanche
Roland Bracht

Der Apotheker
Yves Lenoir

Der Direktor der Waffenfabrik
Karl-Friedrich Dürr

Der Seneschall
Marcel Beekman

Jesus
Mark Munkittrick

Das Mädchen
Jeanne Seguin

Die Katze
Anis Verwey

Reinigungsknappen/ Schutzmannen
Alois Riedel
Peter Schaufelberger
Alexander Efanov
Juan Pablo Marin
Daniel Kaleta
Ulrich Wand
Ulrich Frisch
Sebastian Peter




Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart
(Homepage)



Da capo al Fine

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