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Musiktheater
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Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört

Ein Stück von Pina Bausch
Musik von Billie Holiday, Henry Purcell, Tommy Dorsey, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Heinrich Schütz, Erroll Garner, Fred Astaire, Boris Vian, Gerry Mulligan, Johnny Hedges, Enrico Caruso, Tito Schipa, Lucienne Boyer, Irish Pipe Music u.a. und dem Senioren Blas-Orchester aus Wuppertal

Aufführungsdauer: ca. 2h 20' (eine Pause)

Uraufführung: 13.5.1984
Premiere der Neueinstudierung im Opernhaus Wuppertal am 25. April 2013
(rezensierte Vorstellung: 26. April 2013)


Logo: Tanztheater Pina Bausch

Tanztheater Wuppertal
(Homepage)
Pas de deux für zwei große alte Männer

Von Stefan Schmöe / Foto: Ulli Weiß

Eine neue Leitung hat das Wuppertaler Tanztheater, eine neue Ausrichtung noch nicht: Vor ein paar Tagen wurde bekannt, dass sich die derzeitigen künstlerischen Leiter Dominique Mercy und Robert Sturm zurückziehen und Lutz Förster, selbst ehemaliger Tänzer in Pina Bauschs Ensemble und derzeit Professor für zeitgenössischen Tanz an der Essener Folkwang-Hochschule (aus der seinerzeit auch Pina Bausch hervor ging) an deren Stelle tritt. Bis 2015 läuft der Vertrag, und bis dahin soll es weiterhin Repertoirepflege, aber keine neue Choreographie geben. Seit dem plötzlichen Tod Pina Bauschs im Juni 2009 lebt das Wuppertaler Tanztheater von der Substanz und führt mit einem verjüngten Ensemble die großen alten Stücke auf, jetzt ganz aktuell Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört von 1984. Angesichts des aktuellen Wechsels in der Leitung es doch gut, dass Lutz Förster – neben Jakob Andersen, Dominique Mercy, Nazareth Panadero, Helena Pikon und Jean-Laurent Sasportes – einer von sechs Protagonisten ist, die bereits in der Uraufführung getanzt haben und auch jetzt wieder auf der Bühne stehen.

Es gibt eine wunderbare Szene für Lutz Förster und Dominique Mercy: Zunächst will Förster, die Hände wie ein Brustschwimmer voran, starren Blicks davonstürzen, und Mercy fängt ihn immer wieder auf. Das ist eine ganz typische Rolle, quer durch das Œuvre Pina Bauschs hindurch, für ihn: Der kleine Mann mit dem melancholisch-traurigen Blick, der in Café Müller rettend die Stühle bei Seite schob, über die die dort selbst todtraurig tanzende Prinzipalin zu fallen drohte, der hier den Freund vor dem Sturz bewahrt – eben der liebenswerte Underdog, der das paradoxe Kunststück fertig bringt, Unscheinbarkeit mit einer riesigen Ausstrahlung auszudrücken zu können. Ihm gegenüber der groß gewachsene, smarte Lutz Förster, immer schon der überlegene Sunny Boy, mit dem auch in der aktuell tanzenden Truppe niemand aufnehmen kann, wenn es um Lässigkeit und Eleganz geht, der mit einem Fingerschnippen die Welt verändern kann, und dessen Wahnsinn in dieser Szene auch ein ironisches Spiel mit der eigenen Rolle ist. Und dann haken sie ein, tänzeln mit kleinen, vorsichtigen Tanzschritten davon, der kleine und der große Mann, und was vor fast 30 Jahren als spielerische Vision vom Altwerden gesehen werden konnte, ist für die beiden über 60-jährigen trotz ungebrochener Vitalität – und für das Publikum – Realität.

Durch den natürlichen Alterungsprozess der Tänzer bekommen die Stücke Pina Bauschs eine eigene Dynamik und sind nicht museal, sondern viel mehr work in progress, sich immer wieder der momentanen Situation, den aktuell agierenden Tänzerinnen und Tänzern anpassend. Jean-Louis Sasportes, Jahrgang 1952, im Bauchtänzerinnenhabit um die Eleganz eines Anzugträgers bemüht – das geht, das kann eigentlich gar nicht anders sein. Das sich-wiederfinden in den skurrilen kleinen Szenen, in dieser oft hart geschnittenen Collage zwischen Aggression und Melancholie, zwischen Witz und unbestimmter Traurigkeit, das funktioniert noch immer, auch 29 Jahre nach der Uraufführung und nachdem die Schlachten des Tanztheaters gegen das etablierte Ballett (und um ein seinerzeit Türe knallend den Saal verlassendes Publikum) längst geschlagen und gewonnen sind.

Szenenfoto

Es gibt fabelhafte junge Tänzer im Ensemble, die sich in der Energie ihrer (gänzlich unakademischen) Sprünge vor den himmelgreifenden Sprüngen in Martin Schläpfers preisgekröntem Deutschem Requiem nebenan in Düsseldorf nicht verstecken brauchen. In der mit Torf bedeckten nach hinten und zu den Seiten hin unbegrenzten Bühne (Peter Pabst), die natürlich an die Geschlechterkämpfe in Bauschs Le Sacre du Printemsps erinnert, jagen zwei Gruppen von jungen Männern einen Mann und eine Frau, drücken die heftig Widerstrebenden zum Kuss zusammen (dazu erklingt vom Band Mendelssohns Kriegsmarsch der Priester), boshafterweise im Gestus gar nicht einmal unähnlich dem berühmten Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum-Musik. Das ist eine von mehreren Szenen, in denen körperliche Gewalt dominieren. In einer anderen Szene werden die Frauen auf verschiedene Weisen von den Männern geschlagen, eine fulminante Ensemble-Szene, wie auch die folgende, in der sich Gruppen wie im Ruderboot hintereinander setzen und eine imaginäre Regatta im Torf fahren. Leid und Freud' liegen überrumpelnd nahe beieinander.

„Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehöret, viel Klagens, Weinens und Heulens, Rahel beweinete ihre Kinder und wollt sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.“ Heinrich Schütz hat diesen Bibelvers aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 2,18 – er bezieht sich auf den Kindesmord in Bethlehem) in seiner Geistlichen Chormusik von 1648 als Motette vertont. Diese Musik wird an zentraler Stelle, nämlich unmittelbar vor der Pause, vom Band eingespielt. Die kleine Ditta Miranda Jasjfi, die an anderen Stellen so großartig tanzt, steht dazu unbeweglich, verloren und allein auf der Bühne. Die Szene gibt dem Stück den Titel, aber wie fast alle Titel bei Pina Bausch ist das nicht programmatisch, eher zufällig. Wie das Stück ist auch die Musik collagenhaft zusammengesetzt, neben Schütz, Mendelssohn und Purcell stehen Lieder, Chansons und Schlager, irische Volksmusik, und im zweiten Teil der Live-Auftritt einer Laien-Blaskapelle. Für eine kurze Szene wird der Boden mit Tannenbäumen bedeckt. Am Schluss steht eine verkürzte Reprise, die wichtige Szenen noch einmal aufgreift. Auch wenn sich der Bühnennebel mehrfach poetisch schön im warmen Dämmerlicht verteilt, ist Auf dem Gebirge ... kein Stück der ganz großen, einprägsamen Bilder wie etwa Nelken. Aber es geht unter die Haut. Stehende Ovationen im voll besetzten Wuppertaler Opernhaus.


FAZIT

Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört fasziniert immer noch - und wieder neu.



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Produktionsteam

Inszenierung und Choreographie
Pina Bausch

Bühne und Kostüme
Peter Pabst

Kostüme
Marion Cito

Mitarbeit
Hans Pop

Musikalische Mitarbeit
Matthias Burkert

Probenleitung
Bénédicte Billiet
Matthias Burkert
Lutz Förster
Julie Shanahan


Solisten

Jakob Andersen
Pablo Aran Gimeno
Rainer Behr
Andrey Berezin
Aleš Čuček
Clémentine Deluy
Silvia Farias Heredia
Lutz Förster
Ditta Miranda Jasjfi
Scott Jennings
Nayoung Kim
Daphnis Kokkinos
Dominique Mercy
Thusnelda Mercy
Cristiana Morganti
Nazareth Panadero
Helena Pikon
Jean-Laurent Sasportes
Franko Schmidt
Azusa Seyama
Julie Anne Stanzak
Michael Strecker
Fernando Suels Mendoza
Anna Wehsarg
Paul White
Tsai-Chin Yu


Eine hervorragende Auswahl
an Fotos von den Stücken
Pina Bauschs - auch diesem -
findet man unter
www.jochenviehoff.de


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal
(Homepage)




Da capo al Fine

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