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Musiktheater
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Faust

Oper in fünf Akten
Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach Goethe
Musik von Charles Gounod

In französischer Sprache mit niederländischen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 30 (eine Pause)

Premiere der Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid am 10. Mai 2014
Besuchte Aufführung: 25. Mai 2014


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De Nederlandse Opera
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Großes Theater für Herz und Verstand

Von Thomas Tillmann / Fotos von Ruth Walz


"Homunculus Project at the Amsterdam High-performance computer center of the cell biology" steht Furcht einflößend oberhalb eines Laboratoriums in der Bühnenmitte, an der Seite sieht man einen Sessel für Faust, dessen Skizzen das Bühnenbild zieren. Für Àlex Ollé, einer der sechs künstlerischen Leiter des Regiekollektivs La Fura dels Baus, das mit dieser ursprünglich am Teatro Real in Madrid herausgekommenen Produktion zum ersten Mal in Amsterdam arbeitet, ist Faust ein Mensch unserer Zeit, den ein nicht zu stillender Hunger nach Erkenntnis quält. Die virtuelle Welt ist zentrales Element dieser fulminanten Inszenierung mit all ihren prallen Bildern im faszinierenden Bühnenbild von Alfons Flores: Faust versucht einen gigantischen Rechner zu humanisieren, einen Computer zu kreieren, der Ratio und Emotion in sich vereinigt. Méphistophélès gewährt ihm Einblick in diesen Computer, mit all seinen Abartigkeiten und Alpträumen. Faust entdeckt, dass er wie jeder und jede von uns einen Teufel in sich hat, ein verborgenes Verlangen, eine dunkle, triebhafte Seite, die man ins Gleichgewicht bringen muss mit den übrigen Anteilen der Persönlichkeit. Und so ist Méphistophélès letztlich nichts anderes als eine Projektion Fausts, die all das auslebt, was dieser sich nicht traut, solange er sich nicht nach dem anstrengenden Laboralltag das eine oder andere Glas gönnt.


Vergrößerung Faust (Michael Fabiano) ist gespannt, welche Facetten des Lebens er in Zukunft kennen lernen wird.

Und so stattet Lluc Castells die Frauen des Stücks konsequent aus Fausts Perspektive aus: Marguerite ist mit kurzer Schuluniform und Strümpfen ebenso Männerfantasien entsprungen wie die hochgewachsenen Schaufensterpuppen mit den langen blonden Haaren, die über die Bühne stolzieren oder marschieren, oder die blondgelockten reiferen Damen mit ihren immens großen, in Kostümchen mit gewagten Dekolletés ausgestellten Brüsten und den ausgestopften Popos. Dagegen sind die Männer entweder Bier trinkende Fußballfans oder Soldaten. In der Walpurgisnacht werden die Zuschauer Zeugen einer sehr drastischen Fress- und Sexorgie, in deren Zentrum übermäßig ausgestopfte Männer und die bereits bekannten, zu Lustobjekten degradierten Puppen stehen, Marguerites Geschick wird gehässig parodiert, als Hunde gehaltene Männer balgen und beißen sich blutig, den Frauen mit den Riesenbrüsten werden während des Stillens ihre Säuglinge weggenommen, bevor auch sie vergewaltigt werden.


Vergrößerung

Faust (Michael Fabiano) ist rasend verliebt in Marguerite (Irina Lungu).

Beklemmend auch die Kerkerszene: Es dauert ewig, bis Faust unter den Todeskandidaten Marguerite ausmacht. Faust und Méphisto sehen jetzt fast gleich aus, sind eigentlich nicht mehr zwei Personen, sondern zwei Seiten einer einzigen, die nach Integration drängen, und so ist es nur folgerichtig, dass Marguerite die beiden verwechselt. Faust verharrt betend zwischen den Zellen in seinem Laboratorium, Méphistophélès nimmt im Sessel platzt. Und ganz am Ende gibt es dann doch so etwas wie ein "happy" end: "Faust, me." wird da auf die Bühne projiziert, Faust hat gelernt, dass er beide Seiten in sich trägt und mit ihnen leben muss.


Vergrößerung Die schwangere Marguerite (Irina Lungu) leidet Todesqualen in der Kirche. Méphistophélès (Mikhail Petrenko) erscheint ihr in der Gestalt des Gekreuzigten.

Àlex Ollé gelingt es, eine klare, stringente, trotzdem sehr durchdachte und eine intensive Beschäftigung mit dem Stoff erkennen lassende Inszenierung zu präsentieren, die beides schafft, nämlich intellektuell herauszufordern und gleichzeitig emotional zu packen. Er bringt Figuren aus Fleisch und Blut auf die Bühne, die sehr natürlich agieren, er kommentiert das fesselnde Bühnengeschehen mit Projektionen von Kernbegriffen, Kommentaren (der zweite Teil beginnt mit der Projektion "The Hangover", das Ehebruchsgebot wird in Endlosschleife präsentiert) und Bemerkungen zu den Figuren (in englischer Sprache), die ein wenig an Brechts Verfremdungseffekt denken lassen. Da sind viele Szenen, in denen man den Atem anhält, wenn sich etwa die zunächst hinter rotem Plexiglas nur zu ahnende Jesusfigur vom Kreuz löst, auf Marguerite zukommt und sich als weitere Inkarnation Méphistos entpuppt. Bei all den tollen Bühneneffekten und Einfällen muss man sich trotzdem nicht über nervigen Aktionismus wie in manch anderen modernen Inszenierungen ärgern, da ist immer wieder Raum für kontemplative Momente, in denen einfach nur gesungen wird. Und auch wirklich witzige Szenen gibt es, etwa wenn Marthes Verfolgung des "Postboten" Méphisto daran scheitert, dass sie mit ihren Riesenbrüsten zwischen den Häuserwänden hängen bleibt.


Vergrößerung

Szene aus der Walpurgisnacht mit Faust (Michael Fabiano) und Méphistophéles (Mikhail Petrenko)

Und auch die musikalische Seite war beglückend: Marc Minkowskis größtes Verdienst als musikalischer Leiter des Rotterdams Philharmonisch Orkest war es, eine zügige, niemals sentimental-süßliche, dennoch immens stimmungsvolle, das Werk sehr ernst nehmende Wiedergabe verantwortet zu haben, die nichtsdestotrotz zu Herzen ging und Raum für große Emotionen bot und somit perfekt zur großartigen Szene passte.

Viel hatte man gehört über den neuen Tenorsuperstar aus den USA, und tatsächlich überrumpelte Michael Fabiano in der Titelpartie mit einem überwältigenden Timbre, einer legatostarken, auch im Piano nicht an Qualität verlierenden Stimme, die größer klingt als man nach dem Abhören der YouTube-Clips gemutmaßt hatte, dunkler auch, viriler, in einigen Momenten auch metallischer, ohne dass man den Eindruck hätte, dass er sie künstlich verändern würde. Manchmal neigte der noch nicht dreißigjährige Amerikaner zum Schmettern, vor allem vor dem Pakt mit Méphistophélès, was aber natürlich auch das krampfhafte Suchen Fausts nach Erkenntnis illustrierte. Als verliebter Jüngling überzeugte er mit weicherem Ton, tragfähigen mezza voce- und schönen Voix mixte-Effekten, furchtlos attackierten Acuti, mit viel Herzblut und Gestaltungsraffinesse und nicht zuletzt mit dem besten Französisch - anderthalb Jahre Arbeit mit einem Coach zeugen von hohem Berufsethos und haben sich ausgezahlt.


Vergrößerung Faust (Michael Fabiano) und Méphistophélès (Mikhail Petrenko) wollen Marguerite (Irina Lungu) vor ewiger Verdammnis retten.

Dieses Niveau konnten Mikhail Petrenko als Méphistophélès in immer neuen Outfits und mit viel Persönlichkeit und Spielfreude, aber etwas "slawischem" Französisch und einer eher allgemeinen, in Höhe wie Tiefe Grenzen erkennen lassenden Stimme und Florian Sempey als Valentin, der sich mit seinem kräftig-kernigen Bariton von schöner Färbung in erster Linie ein Stimmbesitzer vorstellte, was nicht heißt, dass er sich nicht nach Kräften um Ausdruck bemühte, nicht halten. Irina Lungu begann als Marguerite etwas verhalten und hatte etwas Mühe mit den ersten ihr reichlich tief liegenden Phrasen, die Stimme ist auch nicht die größte, aber vor allem in der leuchtenden Höhe sehr präsent. Im Laufe der Vorstellung offenbarte die Sopranistin erstaunliche Reserven, und auch schauspielerisch entwickelte sie großes Format. Mit frischem, sinnlich vibrierenden, farbenreichen Mezzo, der aufhorchen ließ, war die mit großer Verve singende Marianne Crebassa eine superbe Besetzung des Siebel, und auch die reiferen, charaktervollen, viel Erfahrung erkennen lassenden Töne von Doris Lamprecht passten hervorragend zur Marthe. Tomislav Lavoie war ein ordentlicher Wagner mit schönem Material. Einmal mehr exzellent sang und spielte auch der Koor van De Nationale Opera, diesmal in einer Einstudierung von Ching-Lien Wu, die ab dem 1. September die Leitung des Chores übernehmen wird.


FAZIT

Das war ein weiterer packender, bildgewaltiger, szenisch wie musikalisch erstrangiger Nachmittag in der niederländischen Metropole von einer Qualität, um die sie die größeren Häuser NRWs nur beneiden können.
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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Marc Minkowski

Inszenierung
Àlex Ollé
(La Fura del Baus)

Regiemitarbeit
Valentina Carrasco

Bühne und Video
Alfons Flores

Kostüme
Lluc Castells

Licht
Urs Schönebaum

Choreinstudierung
Ching-Lien Wu



Koor van
De Nederlandse Opera

Rotterdams
Philharmonisch
Orkest


Solisten

Marguerite
Irina Lungu

Siebel
Marianne Crebassa

Marthe
Doris Lamprecht

Faust
Michael Fabiano

Valentin
Florian Sempey

Méphistophélès
Mikhail Petrenko

Wagner
Tomislav Lavoie





Weitere Informationen
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De Nederlandse Opera
(Homepage)



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