Ein Schwarm von Elstern
Von Thomas Molke /
Fotos von Wolfgang
Runkel
Dass Rossinis Gazza ladra nicht zu den Werken des Pesaresen
zählt, die größtenteils vergessen sind, dürfte, obwohl das Werk als Ganzes eher
selten auf den Spielplänen steht, vor allem der berühmten Ouvertüre zu verdanken
sein, die häufig in Wunschkonzerten zum Besten gegeben wird. Rossinis Anekdote
über die Entstehung dieses Vorspiels dürfte hingegen wohl eher im Bereich der Legenden zu
verorten sein. Zu unwahrscheinlich scheint es bei dem programmatischen Charakter
dieser Ouvertüre, dass er sie wirklich erst am Tag der Uraufführung komponiert
habe, eingesperrt im Dachgeschoss der Mailänder Scala und bewacht von vier
Maschinisten, die jedes Notenblatt sofort nach der Fertigstellung aus dem
Fenster werfen mussten, damit es von den unten wartenden Kopisten abgeschrieben
werden konnte, und die Auflage gehabt haben sollen, Rossini selbst aus dem
Fenster zu werfen, falls er keine Noten zu Papier bringen werde. Bemerkenswert
an diesem Werk ist, dass Rossini einen Großteil der Musik neu komponiert hat und
nur selten auf früher komponierte Melodien zurückgreift, weshalb der
Rossini-Experte Alberto Zedda der Oper eine besondere Stellung in Rossinis
Schaffen einräumt, zumal sie auch seiner Meinung nach die Reinform einer
Opera semiseria darstellt.
Pippo (Alexandra Kadurina) und die Elster Die Handlung geht
zurück auf eine wahre Begebenheit, die sich Ende des 18. Jahrhunderts zugetragen
haben soll und von Théodore Baudouin d'Aubigny und Louis-Charles Caigniez zu dem
Theaterstück La pie voleuse verarbeitet wurde, das sich in den ersten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit auf den europäischen Bühnen
erfreute und den italienischen Librettisten Giovanni Gherardini veranlasste, für
einen Opernwettbewerb in Mailand ein Libretto mit dem Titel Avviso ai giudici
zu verfassen, welches zunächst Ferdinando Paër zur Vertonung angeboten
wurde, der sich allerdings weigerte den Stoff zu vertonen. Rossini hingegen war
sofort von der Geschichte begeistert und vertonte sie unter dem neuen Titel
La gazza ladra. Darin wird das Dienstmädchen Ninetta beschuldigt, ihrer Herrin
einen silbernen Löffel und eine silberne Gabel gestohlen zu haben. Als sie dabei
beobachtet wird, wie sie ein ähnliches Besteck, das sie von ihrem auf der Flucht
befindlichen Vater Fernando erhalten hat, an den Händler Isacco verkauft,
scheint ihre Schuld bewiesen. Um ihren Vater zu schützen, verschweigt sie die
Wahrheit und soll zum Tode verurteilt werden. Erst in letzter Sekunde kann der
Bauernjunge Pippo beweisen, dass die eigentliche Übeltäterin eine diebische
Elster ist, die das Besteck in ihrem Nest versteckt hat. Ninetta wird begnadigt
und einer Hochzeit mit Giannetto steht nun nichts mehr im Wege.
Gerichtsverhandlung im Haus der Vingraditos: auf
der linken Seite: Ninetta (Sophie Bevan), Giannetto (Francisco Brito), Lucia
(Katarina Leoson), Fabrizio (Federico Sacchi) und vorne Pippo (Alexandra
Kadurina), rechts: Gottardo (Kihwan Sim), im Hintergrund Mitte. Amtsrichter
(Carlos Krause) David Alden entwickelt in
seiner Inszenierung eine recht eigenwillige Sicht auf die Elster. Während der
Ouvertüre scheint sie nämlich Pippos liebgewonnenes Haustier zu sein, das dieser in
einem Käfig hält. Erst am Ende der Ouvertüre lässt Pippo den Vogel aus dem Käfig
frei und fortan flattert er in einer Videoprojektion von Bibi Abel über den
grauen Vorhang und entwickelt sich im weiteren Verlauf des Stückes zu einem
regelrechten Schwarm, was in den Videosequenzen stellenweise an Alfred
Hitchcocks Vögel erinnert. Mit diesem Schwarm von Elstern scheint aber im
Stück auch eine ganze Reihe von Dieben aufzutreten. Dass der Händler Isacco
seine Mitmenschen bestiehlt, scheint inhaltlich noch nachvollziehbar sein, auch
wenn es sehr albern wirkt, wenn er während der ersten Verhandlung im Hause der
Vingraditos über den Tisch läuft und den drei Richtern ihre hohen schwarzen Hüte
stiehlt. Auch dass er im zweiten Akt auftritt, um dem schlafenden Amtsrichter einen Ring
zu stibitzen,
wirkt absolut unmotiviert. Das wesentlich größere Problem stellt allerdings die
Deutung Pippos dar. Wenn Ninetta beschuldigt wird, das Besteck gestohlen zu
haben, sieht man ihn schuldbewusst das Besteck aus seiner Tasche ziehen. Soll er
die diebische Elster sein, motiviert von der unerfüllten Liebe zu Ninetta, die ihn zwar gern hat, deren Herz aber
Giannetto gehört? Führt er deshalb
den Kerkermeister und den Diener des Bürgermeisters zu einem Turm, in dem sie
die gestohlenen Gegenstände finden? Am Ende drückt er auch die anfangs
freigelassene Elster wieder inniglich an sich, obwohl er sie im Verlauf des
Stückes ständig verflucht.Ein weiterer zentraler Moment der
Inszenierung ist eine riesige Kutsche, in der der Bürgermeister Gottardo bei
seinen Auftritten auf die Bühne gefahren wird. Nachdem Ninettas Unschuld
bewiesen worden ist, tritt auch sie in der mittlerweile etwas ramponierten Kutsche auf, was zunächst noch so gedeutet werden könnte, als ob sie doch
dem Drängen des Bürgermeisters nachgegeben habe. Nach und nach besteigen
allerdings auch die Vingraditos und Pippo die Kutsche, so dass damit wohl eher
zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der Podestà nun endlich besiegt ist. Wenn er dann zu
den feierlichen Gesängen des Volkes schließlich selbst wieder die Kutsche
besteigt, um die Bühne zu verlassen, fängt die Kutsche Feuer, und das Volk
befreit sich mit der Kutsche auch von der Willkürherrschaft des Bürgermeisters.
Verurteilung im Gerichtssaal: von links:
Amtsrichter (Carlos Krause), Ninetta (Sophie Bevan), Gottardo (Kihwan Sim),
Fernando (Jonathan Lemalu), Fabrizio (Federico Sacchi) und Giannetto (Francisco
Brito), im Hintergrund: Chor und Statisterie) Während
Aldens Personenregie in den Seria-Momenten wunderbar aufgeht, wirken die buffonesken
Szenen extrem aufgesetzt, was vor allem bei den Szenen im Kerker diskutabel ist.
Ob es lustig ist, wenn Michael McCown als Kerkermeister Antonio mit im Takt
zitternder Hand zum Telefonhörer greift oder in ein Mikrophon mit Echo spricht,
ist sicherlich Geschmackssache. Gleiches gilt für die Gerichtsszene, wenn
Fernando bei seinem Auftritt mit einem Gewehr im Rhythmus der Musik einzelne
Mitglieder des Chors abschießt oder sich die Soldaten nach Ninettas Verurteilung
im Walzerschritt wiegen. Die düsteren Szenen gehen hingegen unter die Haut. Sei
es der brutale Versuch des Bürgermeisters, sich Ninetta gefügig zu machen,
Lucias späte Reue, weil sie sich dafür verantwortlich fühlt, dass Ninetta
verurteilt worden ist, oder Ninettas Leiden selbst, da sie einerseits nicht die
Wahrheit sagen will, um ihren Vater zu schützen, andererseits sich nicht dem
Bürgermeister hingeben will, um begnadigt zu werden. Das Bühnenbild von Charles
Edwards ist mit dem riesigen runden Raum im Stil des beginnenden 20.
Jahrhunderts, in den das Haus der Vingraditos in Form einer kleinen
Guckkastenbühne hineingezogen wird, zwar bombastisch, erschließt sich inhaltlich
allerdings nicht. Unklar bleibt auch, wieso die Mitglieder des Chors wie die Amish in Amerika
eingekleidet sind.
Glückliches Ende in der Kutsche: Fernando
(Jonathan Lemalu) und Ninetta (Sophie Bevan) mit Chor und Statisterie
Musikalisch bewegt sich die Aufführung auf hohem Niveau. Sophie Bevan glänzt als
Ninetta mit eindringlichem Spiel und warmem Sopran, der sich federleicht durch
die Koloraturen bewegt. Besonders eindringlich gelingt ihr Gebet im zweiten Akt,
kurz bevor sie zur Hinrichtung abgeführt wird. Francisco Brito verfügt als
Giannetto über eine voluminöse Mittellage, stößt allerdings in den Höhen
stellenweise an seine Grenzen. Jonathan Lemalu stattet Ninettas Vater Fernando
mit einem fundierten Bass-Bariton aus, der sich in den Koloraturen ebenfalls
absolut beweglich zeigt. Alexandra Kadurina gefällt als Pippo stimmlich mit
warmem Mezzo. Ob man Aldens Personenregie dieser Figur folgen kann, ist
Ansichtssache. Auch Federico Sacchi, Katarina Leoson und Nicky Spence können als
Fabrizio und Lucia Vingradito und Händler Isacco stimmlich überzeugen. Star des
Abends ist Kihwan Sim als Bürgermeister Gottardo. Sein durchschlagender Bass ist so
schwarz wie der Charakter dieser Figur. Mit welcher Leichtigkeit er sich in
diesen Tiefen durch die schnellen Läufe bewegt, verdient ganz großen Respekt.
Henrik Nánási fängt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester den
leichtfüßigen Esprit von Rossinis Partitur wunderbar ein und rundet diesen Abend
musikalisch hervorragend ab.FAZIT
Musikalisch hat die Gazza ladra wesentlich mehr zu bieten als die
bekannte Ouvertüre, so dass sich über einzelne Regie-Einfälle hinwegsehen lässt
und man schon um der Musik willen diese Produktion in Frankfurt nicht versäumen
sollte.
Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Henrik Nánási Regie
David Alden Bühnenbild
Charles Edwards Kostüme
Jon Morrell
Licht
Olaf Winter Choreographie
Maxine Braham Videodesign
Bibi Abel Chor
Matthias Köhler
Dramaturgie
Zsolt Horpácsy Chor und Statisterie
der Oper Frankfurt Frankfurter Opern- und
Museumsorchester
Solisten
Ninetta, Dienstmädchen
Sophie Bevan
Fernando Villabella, ihr Vater
Jonathan Lemalu Fabrizio Vingradito
Federico Sacchi
Lucia, seine Frau
Katarina Leoson
Giannetto, sein Sohn
Francisco Brito
Gottardo, Bürgermeister
Kihwan Sim Isacco, Händler
Nicky Spence Pippo,
Bauernbursche
Alexandra Kadurina Antonio, Kerkermeister
Michael McCown Giorgio, Diener des Bürgermeisters
Iurii Samoilov Ernesto
Thomas Charrois Amtsrichter
Carlos Krause
Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Oper Frankfurt
(Homepage)
|