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Drei Gesichter von Brasilien
Von Thomas Molke
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Fotos von Stefan Kühle (Rechte Theater Hagen)
Anlässlich seines zehnjährigen Jubiläums als Ballettdirektor am Theater Hagen hat sich Ricardo Fernando einen lang gehegten Wunsch erfüllt, einen Ballettabend über sein Heimatland Brasilien zu zeigen. Dabei präsentiert Fernando an diesem Abend allerdings keine eigene Kreation, sondern hat drei renommierte Choreographen aus Brasilien eingeladen, die zeigen, dass das Land, das mit 8,5 Mio. kmē fast die Hälfte der Fläche von ganz Südamerika einnimmt und somit um ein Vielfaches größer als Deutschland ist, weit mehr zu bieten hat als Fußball, Karneval, Samba und Zuckerhut. Welch vielschichtige Ausprägungen der Tanz in diesem bevölkerungsreichsten Land Südamerikas aufweist, kann das Publikum in Hagen bei einem Ballettabend erleben, der diese drei Choreographen erstmalig zusammenführt. In Brasilien haben die drei nämlich noch nie zusammen gearbeitet. Ensemble in Impromptu Den Anfang macht Tindaro Silvano mit einer Choreographie, die er schon mehrere Male mit unterschiedlichen Compagnien erarbeitet hat, erstmals in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Cisne Negro in São Paolo: Impromptu. Zur Musik von Egberto Gismonti, der in seinen Kompositionen Jazz mit brasilianischer Folklore verbindet, lässt er das hektische Treiben einer Großstadt spürbar werden. Zu Beginn ist die Bühne in einen wabernden Nebel gehüllt. Ist das der Morgendunst einer allmählich erwachenden Großstadt? In einem Lichtkegel steht eine Tänzerin. Noch bevor die Musik einsetzt, kommen weitere Tänzerinnen hinzu und suchen ihren Platz auf der Bühne. Erst dann setzt die Musik ein und treibt das Ensemble in einem geschäftigen Rausch über die Bühne. Da bleibt kaum Zeit, um einmal innezuhalten. Beeindruckend gelingen die Soli von Brendon Feeney und Ana Rocha Nené, die das rastlose Umherirren des Individuums in einer hektischen von Termindruck bestimmten Gesellschaft deutlich machen. Brendon Feeney und Ana Rocha Nené in Ausschnitte Der zweite Teil des Abends, Ausschnitte, dürfte zumindest musikalisch am ehesten die Erwartungshaltung des Publikums an brasilianische Musik wecken. In den Liedern von Paula Morelenbaum wird ein schwungvoller Bossa-Nova-Rhythmus hörbar, der im Zuhörer selbst den Wunsch nach Bewegung wecken dürfte. Henrique Rodovalho hat dieses Stück als Uraufführung für die Hagener Compagnie kreiert. Der Titel bezieht sich dabei auf einen brasilianischen "coxa de retalhos", eine Art Flickendecke. So wie diese Decke aus unterschiedlichen Teilen bunt zusammengesetzt ist, setzt er auch Lieder von Paula Morelenbaum aneinander, ohne sie dabei vollständig zu präsentieren. Wie ein Flicken brechen die Lieder mittendrin ab, und ein neues Stück beginnt. Dies wird ebenso in der Lichttechnik umgesetzt. Rechteckige Lichtflächen werden auf den Bühnenboden geworfen, in die die Tänzerinnen und Tänzer vorsichtig eintreten und sich den rhythmischen Bewegungen hingeben. Mit jedem neuen Lied erfolgt eine neue Lichteinstellung, die allerdings immer nur bestimmte Teile der Bühne ausleuchtet, so dass auch das Licht an eine Art Flickendecke erinnert. Im weiteren Verlauf des Stückes halten sich die Tänzerinnen und Tänzer allerdings nicht mehr an die von den Lichtflächen vorgeschriebenen Bühnenraum und gehen in ihrem Tanz darüber hinaus. Rosa Ana Chanzá hat für diesen Teil speziell für die Frauen interessant geschnittene Kostüme entwickelt, die in ihrem blau-grauen Wollstoff wie abgeschnittene unvollständige Kleider wirken, die erst noch durch weitere Flicken zu einem ganzen Kostüm ergänzt werden müssten. In teils schlangenförmigen Bewegungen wiegen sich die Tänzerinnen zu den sanften Bossa-Nova-Rhythmen. Zum Ende hin wird der schwarze Vorhang im Hintergrund in den Schnürboden gezogen und offenbart die Sicht auf einen dunkelblauen Prospekt. Wenn diese blaue Farbe sich lichtmäßig auf den Bühnenboden überträgt, ist das Stück zu Ende. Aus den einzelnen losgelösten Teilen ist in langsam fließenden Bewegungen zusammen mit der Lichtregie und der Musik ein ästhetisch faszinierendes Ganzes geworden. Melanie Lopez Lopez und Bobby Briscoe in Tupí or nor Tupí, That is the Question Der letzte Teil des Abends widmet sich dem Nordosten Brasiliens, der gewissermaßen als Einwandererland von einer Musik geprägt wird, die auf selbst gebauten Instrumenten gespielt wird und sich "Musica nordestina" nennt. Die Choreographie von Luiz Fernando Bongiovanni mit dem Titel Tupí or not Tupí, That is the Question klingt zwar wie eine Anspielung auf das berühmte Shakespeare-Zitat aus Hamlet, ist aber tatsächlich der Beginn des dritten Paragraphen des "Anthropophagischen Manifestes" von 1928, in dem brasilianische Künstler und Intellektuelle den Aufbau einer eigenen brasilianischen Identität und die geistige Lösung von Europa forderten. Die Tupí waren vor der Kolonialzeit eine der größten Ethnien Brasiliens, die allerdings durch die Kolonialisierung mehr und mehr versklavt wurden und ihre eigene Identität verloren, die sich durch Kannibalismus, Nacktsein und eine gewisse sexuelle Freizügigkeit ausgedrückt hatte und den christlich geprägten europäischen Völkern minderwertig erschien. Nach diesem Manifest sollte die Tradition der Ureinwohner ein neues Selbstverständnis gewinnen und sich nicht länger die Kultur der Eroberer überstülpen lassen. Ensemble in Tupí or not Tupí, That is the Question Bongiovanni übernimmt in seiner für die Hagener Compagnie entworfenen Uraufführung diese Idee, indem er die Tänzerinnen und Tänzer das klassische Ballett quasi "aufessen" und neue Bewegungen erfinden lässt, die nur noch durch den Raum, die Zeit und den Körper begrenzt werden. Während zu Beginn des Stückes einzelne Tänzer auftreten, in ihrer Landessprache jeweils bis acht zählen und dabei klassische Ballettposen einnehmen, durchbricht Melanie Lopez Lopez diesen Kreislauf, indem sie zunächst bis neun zählt und dann das Publikum auffordert, ihr möglichst große Zahlen zu nennen. Erst bei einer Millionen gibt sie sich zufrieden und präsentiert zu dieser Zahl eine Pose, die mit klassischem Tanz nun gar nichts mehr zu tun hat. Lopez gestaltet diese Szene mit großem komödiantischem Talent. Erst jetzt verschwindet ein Bilderrahmen, der den Tänzerinnen und Tänzern scheinbar Grenzen gesetzt hat, in den Schnürboden, und es werden zahlreiche bunte Bilder mit Blumenmustern in unterschiedlichen Größen herabgelassen, die für die Vielschichtigkeit des nun folgenden Bewegungsapparates stehen. Die verwendete Musik von Di Freitas und der Banda de Pifanos de Bendegó vermischt originär brasilianische Folklore mit musikalischen Einflüssen aus Irland und Japan und gibt den Tänzerinnen und Tänzern die Möglichkeit ihre körperlichen Grenzen auszutesten. Besonders beeindruckend ist der Moment, wenn die komplette Compagnie mit rhythmischem Stampfen und Klopfen selbst die Musik macht. Der folgende Tanz erinnert dann zwangsläufig auch ein wenig an Riverdance aus Irland. Interessant sind auch hier wieder die von Chanzá entwickelten Kostüme für die Tänzerinnen. Auf der Rückseite sind die durchgängigen kurzen einfarbigen Kleider jeweils eingeschnitten, was vielleicht ein Zeichen für den Bruch mit den klassischen Traditionen darstellt. Nach dem furiosen Finale dieses letzten Teils gibt es im Publikum so große Beifallsbekundungen, dass die Compagnie noch eine kurze Zugabe präsentiert. FAZIT Das Ballett Hagen stellt mit diesen drei absolut unterschiedlichen zeitgenössischen Choreographien erneut seine Vielseitigkeit unter Beweis und begeistert das Publikum auf ganzer Linie. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamChoreographische Assistenz und Bühne Kostüme Licht Dramaturgie
*Besetzung der Premiere Impromptu
Choreographie und Inszenierung Tänzerinnen und Tänzer
Solo Duett Solo Gruppe Ausschnitte Choreographie und
Inszenierung Tänzerinnen und Tänzer
Trio Duett Gruppe Tupí or not Tupí, That is the Question
Choreographie und Inszenierung Tänzerinnen und Tänzer
Solo
Quartett
Duett
Solo
Duett
Duett
Gruppe
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