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Terra brasilis

Zeitgenössische brasilianische Choreographien von
Tindaro Silvano, Henrique Rodovalho und
Luiz Fernando Bongiovanni

Impromptu
Choreographie von Tindaro Silvano, Musik von Egberto Gismonti

Ausschnitte (Uraufführung)
Choreographie von Henrique Rodovalho, Musik von Paula Morelenbaum

Tupí, or not Tupí, That is the Question (Uraufführung)
Choreographie von Luiz Fernando Bongiovanni, Musik von Di Freitas und Banda de Pifanos de Bendegó

Aufführungsdauer: ca. 1 h 40' (zwei Pausen)

Premiere im Theater Hagen am 8. Februar 2014


Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Drei Gesichter von Brasilien

Von Thomas Molke / Fotos von Stefan Kühle (Rechte Theater Hagen)

Anlässlich seines zehnjährigen Jubiläums als Ballettdirektor am Theater Hagen hat sich Ricardo Fernando einen lang gehegten Wunsch erfüllt, einen Ballettabend über sein Heimatland Brasilien zu zeigen. Dabei präsentiert Fernando an diesem Abend allerdings keine eigene Kreation, sondern hat drei renommierte Choreographen aus Brasilien eingeladen, die zeigen, dass das Land, das mit 8,5 Mio. kmē fast die Hälfte der Fläche von ganz Südamerika einnimmt und somit um ein Vielfaches größer als Deutschland ist, weit mehr zu bieten hat als Fußball, Karneval, Samba und Zuckerhut. Welch vielschichtige Ausprägungen der Tanz in diesem bevölkerungsreichsten Land Südamerikas aufweist, kann das Publikum in Hagen bei einem Ballettabend erleben, der diese drei Choreographen erstmalig zusammenführt. In Brasilien haben die drei nämlich noch nie zusammen gearbeitet.

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Ensemble in Impromptu

Den Anfang macht Tindaro Silvano mit einer Choreographie, die er schon mehrere Male mit unterschiedlichen Compagnien erarbeitet hat, erstmals in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Cisne Negro in São Paolo: Impromptu. Zur Musik von Egberto Gismonti, der in seinen Kompositionen Jazz mit brasilianischer Folklore verbindet, lässt er das hektische Treiben einer Großstadt spürbar werden. Zu Beginn ist die Bühne in einen wabernden Nebel gehüllt. Ist das der Morgendunst einer allmählich erwachenden Großstadt? In einem Lichtkegel steht eine Tänzerin. Noch bevor die Musik einsetzt, kommen weitere Tänzerinnen hinzu und suchen ihren Platz auf der Bühne. Erst dann setzt die Musik ein und treibt das Ensemble in einem geschäftigen Rausch über die Bühne. Da bleibt kaum Zeit, um einmal innezuhalten. Beeindruckend gelingen die Soli von Brendon Feeney und Ana Rocha Nené, die das rastlose Umherirren des Individuums in einer hektischen von Termindruck bestimmten Gesellschaft deutlich machen.

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Brendon Feeney und Ana Rocha Nené in Ausschnitte

Der zweite Teil des Abends, Ausschnitte, dürfte zumindest musikalisch am ehesten die Erwartungshaltung des Publikums an brasilianische Musik wecken. In den Liedern von Paula Morelenbaum wird ein schwungvoller Bossa-Nova-Rhythmus hörbar, der im Zuhörer selbst den Wunsch nach Bewegung wecken dürfte. Henrique Rodovalho hat dieses Stück als Uraufführung für die Hagener Compagnie kreiert. Der Titel bezieht sich dabei auf einen brasilianischen "coxa de retalhos", eine Art Flickendecke. So wie diese Decke aus unterschiedlichen Teilen bunt zusammengesetzt ist, setzt er auch Lieder von Paula Morelenbaum aneinander, ohne sie dabei vollständig zu präsentieren. Wie ein Flicken brechen die Lieder mittendrin ab, und ein neues Stück beginnt. Dies wird ebenso in der Lichttechnik umgesetzt. Rechteckige Lichtflächen werden auf den Bühnenboden geworfen, in die die Tänzerinnen und Tänzer vorsichtig eintreten und sich den rhythmischen Bewegungen hingeben. Mit jedem neuen Lied erfolgt eine neue Lichteinstellung, die allerdings immer nur bestimmte Teile der Bühne ausleuchtet, so dass auch das Licht an eine Art Flickendecke erinnert. Im weiteren Verlauf des Stückes halten sich die Tänzerinnen und Tänzer allerdings nicht mehr an die von den Lichtflächen vorgeschriebenen Bühnenraum und gehen in ihrem Tanz darüber hinaus.

Rosa Ana Chanzá hat für diesen Teil speziell für die Frauen interessant geschnittene Kostüme entwickelt, die in ihrem blau-grauen Wollstoff wie abgeschnittene unvollständige Kleider wirken, die erst noch durch weitere Flicken zu einem ganzen Kostüm ergänzt werden müssten. In teils schlangenförmigen Bewegungen wiegen sich die Tänzerinnen zu den sanften Bossa-Nova-Rhythmen. Zum Ende hin wird der schwarze Vorhang im Hintergrund in den Schnürboden gezogen und offenbart die Sicht auf einen dunkelblauen Prospekt. Wenn diese blaue Farbe sich lichtmäßig auf den Bühnenboden überträgt, ist das Stück zu Ende. Aus den einzelnen losgelösten Teilen ist in langsam fließenden Bewegungen zusammen mit der Lichtregie und der Musik ein ästhetisch faszinierendes Ganzes geworden.

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Melanie Lopez Lopez und Bobby Briscoe in Tupí or nor Tupí, That is the Question

Der letzte Teil des Abends widmet sich dem Nordosten Brasiliens, der gewissermaßen als Einwandererland von einer Musik geprägt wird, die auf selbst gebauten Instrumenten gespielt wird und sich "Musica nordestina" nennt. Die Choreographie von Luiz Fernando Bongiovanni mit dem Titel Tupí or not Tupí, That is the Question klingt zwar wie eine Anspielung auf das berühmte Shakespeare-Zitat aus Hamlet, ist aber tatsächlich der Beginn des dritten Paragraphen des "Anthropophagischen Manifestes" von 1928, in dem brasilianische Künstler und Intellektuelle den Aufbau einer eigenen brasilianischen Identität und die geistige Lösung von Europa forderten. Die Tupí waren vor der Kolonialzeit eine der größten Ethnien Brasiliens, die allerdings durch die Kolonialisierung mehr und mehr versklavt wurden und ihre eigene Identität verloren, die sich durch Kannibalismus, Nacktsein und eine gewisse sexuelle Freizügigkeit ausgedrückt hatte und den christlich geprägten europäischen Völkern minderwertig erschien. Nach diesem Manifest sollte die Tradition der Ureinwohner  ein neues Selbstverständnis gewinnen und sich nicht länger die Kultur der Eroberer überstülpen lassen.

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Ensemble in Tupí or not Tupí, That is the Question

Bongiovanni übernimmt in seiner für die Hagener Compagnie entworfenen Uraufführung diese Idee, indem er die Tänzerinnen und Tänzer das klassische Ballett quasi "aufessen" und neue Bewegungen erfinden lässt, die nur noch durch den Raum, die Zeit und den Körper begrenzt werden. Während zu Beginn des Stückes einzelne Tänzer auftreten, in ihrer Landessprache jeweils bis acht zählen und dabei klassische Ballettposen einnehmen, durchbricht Melanie Lopez Lopez diesen Kreislauf, indem sie zunächst bis neun zählt und dann das Publikum auffordert, ihr möglichst große Zahlen zu nennen. Erst bei einer Millionen gibt sie sich zufrieden und präsentiert zu dieser Zahl eine Pose, die mit klassischem Tanz nun gar nichts mehr zu tun hat. Lopez gestaltet diese Szene mit großem komödiantischem Talent. Erst jetzt verschwindet ein Bilderrahmen, der den Tänzerinnen und Tänzern scheinbar Grenzen gesetzt hat, in den Schnürboden, und es werden zahlreiche bunte Bilder mit Blumenmustern in unterschiedlichen Größen herabgelassen, die für die Vielschichtigkeit des nun folgenden Bewegungsapparates stehen. Die verwendete Musik von Di Freitas und der Banda de Pifanos de Bendegó vermischt originär brasilianische Folklore mit musikalischen Einflüssen aus Irland und Japan und gibt den Tänzerinnen und Tänzern die Möglichkeit ihre körperlichen Grenzen auszutesten.

Besonders beeindruckend ist der Moment, wenn die komplette Compagnie mit rhythmischem Stampfen und Klopfen selbst die Musik macht. Der folgende Tanz erinnert dann zwangsläufig auch ein wenig an Riverdance aus Irland. Interessant sind auch hier wieder die von Chanzá entwickelten Kostüme für die Tänzerinnen. Auf der Rückseite sind die durchgängigen kurzen einfarbigen Kleider jeweils eingeschnitten, was vielleicht ein Zeichen für den Bruch mit den klassischen Traditionen darstellt. Nach dem furiosen Finale dieses letzten Teils gibt es im Publikum so große Beifallsbekundungen, dass die Compagnie noch eine kurze Zugabe präsentiert.

FAZIT

Das Ballett Hagen stellt mit diesen drei absolut unterschiedlichen zeitgenössischen Choreographien erneut seine Vielseitigkeit unter Beweis und begeistert das Publikum auf ganzer Linie.



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Produktionsteam

Choreographische Assistenz und Bühne
Ricardo Fernando

Kostüme
Rosa Ana Chanzá

Licht
Ernst Schießl

Dramaturgie
Maria Hilchenbach

 

*Besetzung der Premiere

Impromptu

Choreographie und Inszenierung
Tindaro Silvano

Tänzerinnen und Tänzer

Solo
Brendon Feeney

Duett
Eunji Yang
Bobby Briscoe

Solo
Ana Rocha Nené

Gruppe
Debora Buhatem
Tiana Lara Hogan
Hayley Macri
Melanie Lopez Lopez
Ana Rocha Nené
Eunji Yang
Bobby Briscoe
Brendon Feeney
Shinsaku Hashiguchi
Péter Matkaicsek
Tomoaki Nakanome
Huy Tien Tran

Ausschnitte

Choreographie und Inszenierung
Henrique Rodovalho

Tänzerinnen und Tänzer

Trio
*Melanie Lopez Lopez
*Eunji Yang
*Bobby Briscoe /
Debora Buhatem
Tiana Lara Hogan
Hayley Macri
Huy Tien Tran

Duett
*Brendon Feeney
*Ana Rocha Nené /
Péter Matkaicsek
Tiana Lara Hogan /
Shinsaku Hashiguchi
Hayley Macri

Gruppe
Hayley Macri /
Tiana Lara Hogan
Melanie Lopez Lopez /
Debora Buhatem
Ana Rocha Nené
Eunji Yang
Bobby Briscoe /
Tomoaki Nakanome
Brendon Feeney
Shinsaku Hashiguchi /
Péter Matkaicsek
Huy Tien Tran
 

Tupí or not Tupí, That is the Question

Choreographie und Inszenierung
Luiz Fernando Bongiovanni

Tänzerinnen und Tänzer

Solo
Melanie Lopez Lopez

Quartett
Debora Buhatem
Eunji Yang
Brendon Feeney
Shinsaku Hashiguchi

Duett
Ana Rocha Nené
Huy Tien Tran

Solo
Shinsaku Hashiguchi

Duett
Melanie Lopez Lopez
Bobby Briscoe

Duett
Tiana Lara Hogan
Leszek Januszewski

Gruppe
Debora Buhatem
Tiana Lara Hogan
Melanie Lopez Lopez
Hayley Macri
Ana Rocha Nené
Sandra Resende
Eunji Yang
Bobby Briscoe
Brendon Feeney
Shinsaku Hashiguchi
Leszek Januszewski
Péter Matkaicsek
Tomoaki Nakanome
Huy Tien Tran


 

Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen
(Homepage)




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