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Guillaume Tell

Oper in vier Akten
Libretto von Étienne de Jouy und Hippolyte Bis nach Friedrich Schiller
Musik von Gioachino Rossini

in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 30' (eine Pause)

Premiere im Nationaltheater am 28.06.2014 im Rahmen der Münchner Opernfestspiele
(rezensierte Aufführung: 13.07.2014)

 

 



Bayerische Staatsoper München
(Homepage)

Motive eines Vaters

Von Thomas Molke / Fotos von Wilfried Hösl

Nachdem im letzten Jahr sowohl das Belcanto Opera Festival Rossini in Wildbad als auch das Rossini Opera Festival in Pesaro Rossinis letzte Oper Guillaume Tell auf den Spielplan gesetzt haben, hat man sich in dieser Spielzeit auch an der Bayerischen Staatsoper entschieden, diese einzige originär für Paris komponierte Grand Opéra als erste Festspielpremiere anzusetzen. Anders als in Bad Wildbad und Pesaro erhebt man aber keineswegs den Anspruch, eine ungekürzte Fassung zu spielen, sondern spürt einem Subtext nach, den der Regisseur Antú Romero Nunes zwischen den Zeilen des Librettos sucht. Ausgangspunkt ist für ihn die Frage, was einen Vater dazu bringen kann, auf seinen eigenen Sohn zu schießen, und dabei entwickelt er einige recht hanebüchene Theorien. Dass er sich bei der Charakterisierung der Titelfigur eher auf die Novelle Wilhelm Tell oder Die freie Schweiz des französischen Dichters Jean-Pierre Claris de Florian als auf den im Libretto erwähnten Friedrich Schiller bezieht, mag dabei noch nachvollziehbar sein.

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Liebe ohne Zukunft: Mathilde (Marina Rebeka) und Arnold (Bryan Hymel)

Während bei Schiller nämlich Tell beim Rütlischwur gar nicht beteiligt ist und eher zufällig durch sein persönliches Schicksal zwischen die Habsburger und die gegen die Fremdherrschaft aufbegehrenden Schweizer gerät, übernimmt er bei Rossini wie bei Florian eine ganz zentrale Rolle im Freiheitskampf. So empfindet Rossinis Tell die Habsburger Fremdherrschaft im Gegensatz zu vielen seiner Mitbürger als Unterdrückung und verfolgt von Anfang an den Plan, sein Volk zu befreien. Von Florian dürfte auch die Ermordung Geslers übernommen sein, da diese bei Rossini als reiner Akt der Notwehr erfolgt, als Tell nach seiner Flucht aus dem Boot von Gesler verfolgt wird, während Tell bei Schiller Gesler in der berühmten hohlen Gasse auflauert, um ihn gezielt zu beseitigen. In beiden Vorlagen fehlen die Hochzeitsfeierlichkeiten im ersten Akt, die allerdings in Antoine-Marin Lemierres (1766) französischer Bearbeitung des Tell-Mythos und in Grétrys gleichnamiger Oper von 1791 zu finden sind. Die Liebesgeschichte zwischen der Habsburger Prinzessin Mathilde und dem jungen Arnold Melcthal kommt allerdings auch dort nicht vor. In Arnold dürfte Rossini den Sohn des alten Melcthal und Ulrich von Rudenz aus Schillers Drama kombiniert haben. Während ersterer bei Schiller eher als eine Randfigur auftritt und letzterer zunächst auf der Seite der Habsburger steht und sich erst durch den Einfluss Berta von Brunecks den Schweizer Eidgenossen anschließt, gibt bei Rossini die Ermordung des alten Melcthal durch Geslers Soldaten für Arnold den Ausschlag, sich mit den Schweizer Eidgenossen im legendären Rütlischwur gegen die Habsburger zu verbünden und sich von Mathilde loszusagen.

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Beeindruckender Rütlischwur (links vorne: Walter Furst (Goran Jurić), Guillaume Tell (Michael Volle) und Arnold (Bryan Hymel) mit dem Herrenchor)

Doch was hat Nunes nun Spannendes zwischen den Zeilen gefunden, die ihn seiner Frage für Tells Motivation, auf den eigenen Sohn zu schießen näher bringen könnten? Zunächst einmal vertritt er die Ansicht, dass der gesprochene bzw. vielmehr gesungene Text nicht der Wahrheit entsprechen muss, da er den Figuren ja nur in den Mund gelegt sei, um die anderen Figuren mit diesen Äußerungen zu manipulieren. So zeigt er Leuthold zu Beginn der Oper nicht als einen Vater, der, wie er später sagt, einen Soldaten getötet habe, um seine einzige Tochter zu rächen, die von diesem geraubt worden sei, sondern als einen kaltblütigen Mörder. Während das Publikum noch glaubt, dass der Herr, der im schwarzen Anzug die Bühne betritt, wieder eine der gefürchteten Ansagen über die Indisposition eines Darstellers verkünden werde, greift Leuthold ihn aus dem Hintergrund an und metzelt ihn grausam nieder. Da passt dann natürlich stimmungsmäßig auch nicht mehr die Ouvertüre, die deshalb einfach an den Beginn des zweiten Teils nach der Pause gesetzt wird. Während man über diesen Regie-Einfall geteilter Meinung sein kann, geht Nunes mit seiner zweiten These aber eindeutig zu weit. Wie können Tell und Walter Furst den "abtrünnigen" Arnold Melcthal dazu bringen, für die Sache der Schweizer und damit gegen seine geliebte Mathilde einzustehen? Natürlich indem der alte Melcthal ermordet wird. Und wenn Geslers Soldaten aber gar nicht so weit gehen, sondern wie im Programmheft behauptet wird, Melcthal nach der Verhaftung wieder freilassen, was so übrigens nicht im Libretto steht? Da müssen Tell und Furst den Mord eben selbst begehen und ihn Geslers Soldaten anlasten. Natürlich hat man auch im Libretto dafür nur Tells Wort, aber kann man denn wirklich so weit gehen und diesen Helden zu einem radikalen Separatisten degradieren? Nach Nunes hätte man vielleicht dann das Motiv, wieso Tell auf den eigenen Sohn schießt.

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Guillaume Tell (Michael Volle, vorne links) vor dem Apfelschuss (Mitte vorne: Jemmy (Evgeniya Sotnikova), Mitte hinten: Gesler (Günther Groissböck) mit dem Chor)

Aber das tut er ja - auch in der Inszenierung - eben nicht aus freien Stücken. Als Gesler ihn mit diesem Befehl in die Knie zwingen will, gibt er sich ja auch in Nunes' Ansatz geschlagen. Da ist er eben kein eiskalter Rächer mehr, der über Leichen geht, um seine Ziele zu verfolgen. Sein Sohn Jemmy muss ihn regelrecht zum Apfelschuss zwingen, und danach ist er ein gebrochener Mann. Bei allem Unverständnis über Nunes' Theorie muss man allerdings eingestehen, dass der Apfelschuss in der Inszenierung wirklich gelungen ist. Mit welcher Bühnenmagie es dem Regieteam gelingt, den Eindruck zu erwecken, dass Tell Jemmy, der dafür an der Bühnenrampe kniet, den Apfel wirklich vom Kopf schießt, grenzt schon an einen filmischen Effekt und lässt den Zuschauer den Atem stocken. Danach ist dann auch erst einmal Pause, um sich von diesem Showdown zu erholen. Danach sieht man einen verträumten - oder traumatisierten? - Jemmy in der gleichen Position an der Rampe sitzen, während die melancholischen Cello-Klänge der Ouvertüre ansetzen. Was danach während der nun endlich folgenden Ouvertüre passiert, wirft allerdings wieder einige Fragen auf. Das Bühnenbild von Florian Lösche mit den fünfzig Säulen, die variabel aus dem Schnürboden herabkommen und unterschiedliche abstrakte Muster formen, mal einen Wald, dann eine Hütte, ist sicherlich Geschmacksache. Wieso dann aber aus dem abstrakten Wald zunächst ein Kind mit Hasenohren zu Jemmy tritt, bevor es von anderen leicht unheimlich wirkenden Fabelwesen in den Wald entführt wird, sich anschließend eine Schar schwarz vermummter Gestalten im Stechschritt zum berühmten Galopp in der Ouvertüre bewegt und dann zwei Gestalten in ein schwanengleiches Pas de deux ausbrechen, bevor am Ende alle umfallen, bleibt völlig unklar. Soll das eine Traumvision Jemmys sein, bevor er realisiert, dass der Schuss des Vaters wirklich den Apfel und nicht seinen Kopf getroffen hat?

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Ouvertüre nach dem Apfelschuss: Jemmy (Evgeniya Sotnikova) mit dem Hasen und anderen Fabelwesen)

Doch die Inszenierung hat auch bei aller Kritik und allem Unverständnis ihre bewegenden Momente neben dem Apfelschuss. Beeindrucken kann auf jeden Fall die Schwurszene. Mit leuchtenden Fackeln auf der ansonsten recht dunkel gehaltenen Bühne begeistert der Herrenchor der Bayerischen Staatsoper gemeinsam mit Michael Volle, Bryan Hymel und Goran Jurić als Guillaume Tell, Arnold Melcthal und Walter Furst. Wie ein Orkan fegt dieser Schwur von der Bühne in den Zuschauerraum und lässt das Publikum den Atem stocken. Auch Mathildes große Szene zu Beginn des zweiten Aktes wird zu einem Höhepunkt des Abends. Zu ihrer großen Arie "Sombre forêt", in der sie darauf hofft, ihren Geliebten und Retter Arnold im einsamen Wald wiederzutreffen, formieren die Säulen eine beeindruckende Waldlandschaft, in der Mathilde regelrecht verloren wirkt. Entscheidenden Anteil an dem Eindruck dieser Szene dürfte allerdings Marina Rebekas musikalische Interpretation dieser großartigen Arie haben. Mit welchen Nuancen Rebeka die Sorge der Habsburger Prinzessin in Töne umsetzt und auch die Höhen absolut klar und sauber gestaltet, reißt das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Gleiches gilt für Bryan Hymel, der die anspruchsvolle Partie des Arnold übernommen hat. Beweist er schon in den Duetten mit Rebeka tenoralen Glanz mit klaren Spitzentönen, ohne dabei zu forcieren, krönt er seine überragende Leistung im letzten Akt mit seiner großen Arie "Asile héréditaire", in der er jeden einzelnen Spitzenton sauber aussingt, und läuft auch im anschließenden Ensemble mit den Schweizer Eidgenossen zu Höchstform auf, wenn er mit den Waffen aus dem Haus des Vaters gemeinsam mit ihnen gegen die Habsburger in den Kampf ziehen will. Warum sein Gesicht durch eine große Narbe entstellt sein muss, ist ein weiterer unnötiger Einfall der Regie.

Auch die übrigen Solisten bewegen sich auf Festspielniveau. Evgeniya Sotnikova stattet den Jemmy nicht nur mit einem strahlenden jugendlichen Sopran aus, sondern passt auch aufgrund ihrer zierlichen Körperstatur wunderbar in diese Rolle, da sie ihrem Vater gerade mal bis zur Schulter reicht. Michael Volle begeistert in der Titelpartie mit kräftigem Bariton. Bei aller darstellerischen Präsenz kann es ihm aber nicht gelingen, Nunes' Regie-Konzept bezüglich Tells Charakter nachvollziehbar zu machen. Erst wenn er seine Verzweiflung über den bevorstehenden Schuss zum Ausdruck bringen darf, beweist Volle, welche bewegende Tiefe er der Titelfigur zu verleihen vermag. Günther Groissböck präsentiert den Bösewicht Gesler mit schwarzem Bass wunderbar fies. Enea Scala stattet die kleine, aber anspruchsvolle Partie des Fischers Ruodi mit lyrischem Tenor aus. Jennifer Johnston gefällt als Hedwige mit warmem Mezzo und auch die übrigen Solisten wissen, stimmlich zu überzeugen. Das Bayerische Staatsorchester arbeitet unter der Leitung von Dan Ettinger die scheinbare Leichtigkeit von Rossinis Musik wunderbar heraus, und auch die von Sören Eckhoff einstudierten Chöre punkten, so dass es am Ende großen Applaus für die musikalische Umsetzung des Abends gibt. Dass der Abschlusschor, in dem die siegreichen Schweizer ihre Freiheit und glückliche Zukunft besingen, auf der Bühne alles andere als zuversichtlich wirkt, da die Männer alle blutüberströmt zu Boden sinken, kann den musikalischen Genuss dann auch nicht mehr trüben.

FAZIT

Auch wenn die Ouvertüre erst nach der Pause zu hören ist, lässt der Abend musikalisch keine Wünsche offen. Für die Inszenierung lässt sich das leider nicht sagen. Manchmal sollte man vielleicht doch dem gesprochenen Text der Bühnenfiguren glauben.

Weitere Rezensionen zu den Münchner Opernfestspielen 2014

 


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Dan Ettinger

Inszenierung
Antú Romero Nunes

Bühne
Florian Lösche

Kostüme
Annabelle Witt

Licht
Michael Bauer

Chöre
Sören Eckhoff

Dramaturgie
Rainer Karlitschek

 

Chor und Extrachor
der Bayerischen Staatsoper

Statisterie, Kinderstatisterie und
Opernballett der
Bayerischen Staatsoper

Bayerisches Staatsorchester


Solisten

Guillaume Tell
Michael Volle

Arnold Melcthal
Bryan Hymel

Walter Furst
Goran Juri
ć

Melcthal
Christoph Stephinger

Jemmy
Evgeniya Sotnikova

Gesler
Günther Groissböck

Rodolphe
Kevin Connors

Ruodi
Enea Scala

Leuthold
Christian Rieger

Mathilde
Marina Rebeka

Hedwige
Jennifer Johnston


Weitere
Informationen

erhalten Sie unter 
Bayerische Staatsoper München
(Homepage)



Da capo al Fine

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