Der Blick hinter den Kuss der
Natur
Von Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Walter Braunfels war Gründer der staatlichen
Musikhochschule in Köln, leitete sie bis 1933 und
kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg erneut als
Direktor der Hochschule nach Köln zurück. Sein
künstlerischer Durchbruch als Opernkomponist fällt
in eine Zeit, in der viele Künstler und Musiker wie
Bartok, Strawinsky, Webern und Berg bemüht sind, das
romantische Gewand abzustreifen, neue harmonische
Ordnungen, Klänge und musikalische Ausdrucksformen
zu finden. Seine spätromantische, traumverlorene,
chromatisch schillernde musikalische Sprache kommt
beim Publikum an. Bis 1933 zählt er neben Richard
Strauß und Franz Schreker zu den meistgespielten
Opernkomponisten an deutschen Bühnen. Doch trotz
dieses Erfolges werden seine Werke auch nach dem
Zweiten Weltkrieg und Tod des Komponisten im Jahre
1954 so gut wie gar nicht aufgeführt. Die Opern Der
Traum ein Leben (in dieser Saison in Bonn
gespielt, siehe unsere
Rezension) und Jeanne d’Arc (zuletzt
konzertant bei den Salzburger Festspielen)
werden sogar erst im 21. Jahrhundert uraufgeführt.
Zaunschlüpferchen
Passend zum Gedenken an den
Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert das Theater
Osnabrück nun in einer einfühlsamen, gelungenen
Inszenierung an Braunfels’ dritte Oper Die Vögel,
die er zwischen 1913 und 1919 komponierte und die im
November 1920 unter Bruno Walter uraufgeführt wurde.
Wie viele seiner Zeitgenossen befürwortet Braunfels
den Krieg, kämpft entgegen der Bitte seiner Frau,
die im April 1917 ihr viertes Kind gebar, weiter und
wird 1918 schwer verwundet. Noch Jahre später, so
heißt es in den Lebenserinnerungen seiner Frau kann
er an diesen „schrecklichen Krieg (...) nicht mit
Trauer zurückdenken, weil sich in ihm an mir jenes
Wort erfüllte: dass nur derjenige, der sein Leben
wegwirft, es gewinnt.“ Eine zwiespältige Erkenntnis,
die Braunfels mit der Konversion zum Katholizismus
vollendet. Das Libretto schrieb der Komponist selbst
nach der Komödie des Aristophanes. Yona Kim zeigt in
ihrer Inszenierung, welch zeitkritisches,
satirisches Potential die Oper enthält. Mit
analytischem Esprit wirft sie einen
interpretierenden Blick auf die künstlerischen
Strömungen der Entstehungszeit der Oper, beleuchtet
kritisch das zwischen Kriegsrealität und
künstlerischer Aufbruchsstimmung schillernde,
Zwischenreich der Avantgarde.
Die
warnenden Rufe des Adler sind unerwünscht.
Ein mit Schultornister und
Kniebundhose ausgestatteter Ratefreund macht sich
auf, um im symbolistischen Reich der Natur Antworten
auf seine künstlerische Schaffenskrise zu finden.
Auch Freund Hoffegut will seine enttäuschte Liebe in
Waldeinsamkeit und Naturromantik vergessen. Sie
begegnen Wiedehopf und Nachtigall, ohne deren
verbrecherische Menschenvergangenheit zu ahnen.
Träumer Hoffegut, betört vom wunderbaren Gesang der
Nachtigall, lernt sehen, während Ratefreund, beseelt
von Machtgedanken, die Vögel überzeugt, eine eigene
Stadt als Bollwerk zwischen Himmel und Erde zu
errichten. Warnende Rufe des Adlers ertönen. Von
Tamtamklängen angekündigt erscheint Prometheus. Aber
auch seine Wundmale und Berichte verhallen ohne
Konsequenz. Berauscht von Macht und
Freiheitsgedanken und aufgewiegelt von Ratefreund
rufen die Vögel zum Krieg gegen die Götter auf,
erleben deren Zorn und die Zerstörung ihrer Stadt.
Am Ende glaubt Ratefreund, unter Anklängen an
Richard Strauß'sche musikalische Verschmitzt- und
Verspieltheit, trotz furchtbarer Erlebnisse die
künstlerische Schaffenskrise überwunden zu haben.
Hoffegut, eingeleitet von warnenden, dissonanten
Bläserakkorden, betrauert sehnsuchtsvoll den
vereinigenden, spätromantisch schwärmenden Kuss der
Natur, während im goldenen Käfig schon die nächste
ideologische Verlockung wartet.
Die be- und verzaubernde
Nachtigall
Symbolträchtig hat Evi Wiedemann
die Bühne in golden funkelndes Ambiente getaucht.
Hugo Holger Schneider nutzt die fantasievoll
glitzernde Mode der Zeit, um humorvoll Tier- und
Menschencharakter zu verbinden. So empfängt ein
selbstverliebter, üppig gefiederter und mit
überlangem Schnabel ausgestatteter Wiedehopf die
beiden Wanderer auf samtgrüner Chaiselongue, während
die reizende, im goldenen Käfig angekettete
Nachtigall, in wunderschönen Koloraturen ihrer
grausamen Vergangenheit nachsinnt. Angereichert im
zweiten Akt mit Filmdokumenten der Zeit und Caspar
David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer
ist aus der Oper ein schillerndes, feinsinnig
analysiertes Dokument des Lebensgefühls der Zeit
geworden.
Generalmusikdirektor Andreas Hotz,
die Gesangssolisten, Chor, Extrachor und das
Osnabrücker Symphonieorchester ergänzen das
eindrückliche Bild. Mal leicht und verspielt, mal
mit süßlichem, chromatisch gefärbtem Schmelz führt
uns Hotz die musikalische Dramaturgie vor Augen.
Textverständlich, ausdrucksstark und rhythmisch
geschärft erklingen die hasserfüllten Bedenken und
euphorischen Kriegsgeschreie des Vogelvolkes.
Johannes Schwärsky ist ein kraftvoll warnender, mit
klangvollem Bassbariton ausgestatteter Prometheus.
Bariton Heikki Kilpeläinen stellt mit lyrischem
Stimmklang den auch selbstverliebt kolorierenden
Ratefreund dar. Alexander Spemanns tragfähiger Tenor
strahlt und beeindruckt vor allem im Monolog gegen
Ende des zweiten Aktes. Star des Abends ist
Ensemblemitglied Marie-Christine Haase, die mit
schlank geführtem Sopran, wohlklingenden,
differenziert gestalteten Koloraturen und brillanten
Spitzentönen das Publikum zu verzücken weiß.
FAZIT
Inszenierung, Personenregie,
Bühnenbild, Kostüme, Gesang und Musik – das Theater
Osnabrück bereichert das Gedenken an den Ausbruch
des Ersten Weltkriegs mit einer stimmigen,
feinsinnig analysierten Dokumentation des
Lebensgefühls der künstlerischen Avantgarde.