Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Der Versuch, die Wunden des Alltäglichen wegzulachen
Von Stefan Schmöe / Foto: Ulli Weiss
1980 hätte ein Wendepunkt für das Wuppertaler Tanztheater sein können: Im Januar 1980 war Rolf Borzik, Lebensgefährte und als Bühnenbildner kongenialer künstlerischer Partner Pina Bauschs, nach langer Krankheit verstorben. Für Arien und die Keuschheitslegende im Jahr zuvor hatte er noch die Bühne gestaltet, für das neue Stück fand die Choreographin in Peter Pabst einen neuen, auf seine Weise ebenso verrückt-genialen Partner wie zuvor Borzik 24 weitere gemeinsame Stücke sollten folgen. Der Titel des Stücks 1980 mag - unterbewusst oder zufällig - programmatisch auf den Einschnitt anspielen, künstlerisch setzte Pina Bausch ihre Linie konsequent fort (und deshalb ist es doch kein Wendepunkt geworden). Ein vorgegebenes Konzept gibt es bestenfalls ansatzweise, vielmehr folgt die Dramaturgie des sowieso handlungslosen, collagierten Stücks offensichtlich dem Probenprozess. Eines ist es aber wohl trotzdem geworden: Ein Stück Trauerarbeit. Wovor hast Du Angst? Viel beschrieben worden ist die Arbeitstechnik Pina Bauschs, den Tänzerinnen und Tänzern Fragen zu stellen und diese direkt in das neue Stück einzubauen. Kindliche Ängste sind in 1980 ein großes Thema, immer an der Grenze zur Komik angesiedelt. Im Jahr 1980 war das beim Wuppertaler Publikum hart umstritten. Obwohl doch Tanz draufsteht, erwartet das Publikum doch vor allem Theater, kleine Spielszenen, bei denen der Tanz nur ganz am Rande angedeutet wird. Ein paar Mal schreitet das Ensemble in einer lässigen Art, wie sie Pina Bausch so unnachahmlich choreographieren konnte, durch den Zuschauerraum (die Reihe 5 im Wuppertaler Opernhaus ist dafür extra freigehalten), ein paar mal gibt es minimalistisch auf wenige Handbewegungen reduzierte Ensembles, die auf die Herkunft vom Tanz zurückverweisen, und hin und wieder tanzt im Hintergrund Helena Pikon so großartig wie weltverloren einsam vor sich hin. Aber ansonsten ist 1980 ein Stück zwischen Pantomime und Sprechtheater. "Bitte zeigen Sie etwas Bein": Die strenge Ordnung ist im Angesicht eines Mikrophons bald vergangenZurück zum Bühnenbild: Peter Pabst hat die Bühne bis weit hinten zur Brandmauer öffnen lassen und mit Rollrasen ausgelegt (weshalb man das Stück angeblich nur zu Jahreszeiten spielen kann, an denen Rollrasen verfügbar ist). Ist der Rasen schön grün. Herrlich!, dröhnt die unvergleichliche Mechthild Großmann mit ihrer immer noch so abgründig tiefen Stimme. Sie hat schon in der Uraufführung gespielt, in einer der Hauptrollen, und auch ihr Partner von damals ist auf die Bühne zurück gekehrt: Lutz Förster, heute künstlerischer Leiter des Wuppertaler Tanztheaters, der große, kühle, so unendlich elegante Star, und die beiden brillieren in dieser Wiederaufnahme wie eh und je. Wenn Lutz Förster das Ensemble und insbesondere die Tänzerinnen freundlich, aber bestimmt herumkommandiert (Ich möchte etwas Bein sehen), hat das inzwischen natürlich auch den Witz, dass hier der künstlerische Leiter zu seinen Angestellten spricht (sich aber brav einreiht und auch das eigene Bein zeigt). Von der Uraufführungsbesetzung ist noch Nazareth Panadero, immer noch aktive Tänzerin, dabei, Jean-Laurent Sasport ist zurückgekehrt, Ed Kortland setzt sich immerhin noch kurz an das Harmonium, das völlig absurd auf der grünen Wiese herumsteht. Den genial schrägen Jan Minarek vermisst man (die Lücke, die durch seinen Weggang entstanden ist, hat das Tanztheater nie wirklich schließen können). Andere trumpfen groß auf, vor allem Julie Shanahan (die Mitte der 80er zum Ensemble stieß) als zickig-schrille Diva. Auf dem so herrlich grünen Rasen posieren die Tänzerinnen und Tänzer in ziemlich schräger Art und Weise wie Sonnenbadende. Ausgerechnet Lutz Förster zeigt dem (1980 darob vermutlich in Teilen entgeisterten) Publikum das entblößte Gesäß, während Oberkörper und Beine durch Laken vor der mitzudenkenden Sonne geschützt sind. Irgendwann schreitet ein Paar hoheitsvoll über die Bühne, der Mann mit nichts as eine Pappkrone bekleidet. Ein ausgestopftes Reh schaut dem absurden Treiben fassungslos zu. Die Tänzerinnen und Tänzer spielen scheinbar sich selbst (eine Absage an jegliches Illusionstheater), die Damen werden, geordnet nach Nationalitäten, namentlich dem Publikum vorgestellt. Später sagt jeder Tänzer, jede Tänzerin drei Worte zu seinem bzw. ihrem Heimatland eine Anhäufung von grellen Klischees. Jeder wird einen Satz zum Thema Dinosaurier gebeten. Immer wieder werden Kinderspiele gespielt. Ein Zauberkünstler, ein Geiger und ein nicht mehr ganz junger Turner unterstreichen den zwanghaft anmutenden Drang, unterhalten (werden) zu wollen. Johannes Brahms' Wiegenlied (Guten Abend, gute Nacht) wird in ziemlich kitschigen Versionen eingespielt, ebenso Judy Garlands Over the Rainbow in zwei verschiedenen Fassungen. Über all dem liegt ein beinahe hysterischer Humor, dem (wie in allen Buasch-Stücken der 70er- und 80er-Jahre) nicht zu trauen ist. Schon gar nicht, wenn in einer Fernseh-Show-Parodie besonders tragische Schicksale gekürt werden oder Tänzerinnen und Tänzer sich gegenseitig darin überbieten, ihre Narben und Verletzungen anzupreisen. Auf der anderen Seite steht eine verhangene Melancholie. Ein altenglisches Lied, vor allem aber der langsame Satz aus Beethovens 5. Cellosonate wird immer wieder eingespielt im knisternden Langspielplatten-Sound. Dazu liegt die Bühne im milden Dämmerlicht. 1980 zeigt den Versuch, sich irgendwie in seiner Existenz zu behaupten. Jeden Tag schwimmt das Glück über'n Ozean / Und die Liebe, die fährt mit da an Bord. singt Mechthild Großmann mehrfach vor sich hin. Christiana Moganti prüft, wie viele Küsse der Raseb breit ist sie selbst bleibt ungeküsst. Am Ende steht die hübsche Ruth Amarante allein dem Ensemble gegenüber, sehr lange, bis das Licht verlöscht. Man ahnt: Das Jahr 1980 dauert hier bis heute an.
Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Inszenierung und Choreographie
Bühne
Kostüme
Dramaturgie
Mitarbeit
Künstlerische Leitung
Probenleitung und Mitarbeit Wiederaufnahme
Mitarbeit Wiederaufnahme Solisten
Tänzerinnen und Tänzer
Zauberkünstler
Geiger
Turner am Barren
Harmonium
|
© 2013 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de