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Vorwärts in die Vergangenheit
Von Joachim Lange / Fotos © Monika Rittershaus
Was für ein Auftakt: Andreas Homoki beginnt seine zweite Spielzeit in Zürich ausgerechnet mit den Soldaten von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) - und das auch noch in einer Inszenierung von Calixto Bieito! Also mit dem allseits bestaunten, aber selten gespielten Opernmonstrum, das, mit einiger Verspätung wegen vermeintlicher Unspielbarkeit, 1965 in Köln uraufgeführt wurde. Und obendrein mit einem Mann, dem immer noch sein Ruf als Skandalregisseur vorauseilt. Auch wenn der längst seinen Platz unter den souverän agierenden, zwar ambitionierten und deutlichen, vor allem aber ernsthaften Regisseuren gefunden hat. Bei so viel Risikobereitschaft muss sich selbst ein mutiger Intendant schon ziemlich sicher fühlen auf seinem Posten. Mit gutem Grund, denn das Züricher Premierenpublikum spielt mit und reagiert mit einhelligem Jubel. Auch für den Regisseur. Gräfin de la Roche (Noemi Nadelmann) und Marie (Susanne Elmark)
Für den Dirigenten Marc Albrecht und die Philharmonia Zürich sowieso. Wie ein Feldherr führt und koordiniert er eine aufgerüstete Riesentruppe. Passend zum Stück stecken er und seine Musiker in Kampfuniformen. Sie sind auf die Gerüstplateaus verteilt, mit denen Rebecca Ringst die gesamte Bühne zugebaut hat. Vorn in der ersten Reihe ist Vladimir Junyent der Adjutant, der seine Kommandos direkt an die Sänger und den Chor weitergibt, wenn die sich, wie meistens, über dem abgedeckten Orchestergraben an der Rampe, also im Rücken des Dirigenten, befinden. Ensemble
Zimmermann hatte sich das Libretto für seinen, mit einer Pause knapp zweieinhalbstündigen Vierakter aus dem gleichnamigen, etwas irreführend Komödie genannten Stück des Sturm-und-Drang Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) aus dem Jahre 1775 destilliert. Das erzählt davon, wie das Militär in jungen Männern den Abgrund Mensch aufreißt. Wie sie aus Standesdünkel und als Meute eine junge Frau benutzen und zur Hure machen. Wie Stolzius, ein einfacher, braver Mann, daran kaputt geht, dass sein Traum vom Leben mit dieser Marie zerstört wird. Und wie er dazu getrieben wird, sich und den ersten ihrer Freier zu vergiften. Das singuläre Meisterwerk der späten Moderne erzählt vor allem davon, wie diese Marie zum Leidens-Symbol einer vergewaltigten Welt wird. Bieito greift dafür zu einem ganz großen Bild. Bei ihm wird Marie erst vergewaltigt und steht dann am Ende, fast nackt, innerlich zerstört und äußerlich mit Blut übergossen, wie eine Gekreuzigte an der Rampe. Hier ist der Heiland weiblich. Was ja durchaus Sinn macht in einer Welt, in der immer noch die Herrschaft der Männer Gewalt gegen die Frauen mehr oder weniger selbstverständlich einschließt. Soldaten
Bieito erzählt (anders als der Hyperrealist Alvis Hermanis 2012 in der Salzburger Felsenreitschule - unsere Rezension) keine beklemmende historische Geschichte. Der Katalane tut nicht so, als ob Standesunterschiede oder die Jungfräulichkeit einer Frau immer noch die gleiche Rolle spielen wie im 18. Jahrhundert. Er sucht ganz im Sinne der genialen, ausladenden, anklagenden, oft geradezu apokalyptisch schreienden Musik nach den psychischen Verwerfungen, die in den Männern wie ein Charaktergift freigesetzt werden, wenn militärische Strukturen auf das Gewaltpotenzial im Menschen setzen, das sonst von einer zivilisierten Schutzschicht in Schach gehalten wird. Meistens jedenfalls. Bieito setzt damit bewusst nicht auf die Geschichte, die konkret erzählt wird und die in Zürich mit imponierender Wortverständlichkeit über die Rampe kommt. Er setzt vielmehr auf ihr metaphorisches, zeitlos anklagendes und warnendes Potenzial, das Zimmermann, durch eigene Kriegserfahrung und mit dem Trauma der ersten Atombombeneinsätze belastet, im Sinn hatte. Und das er mit der Wut umsetzte, die in die 68er-Revolte mündete. Seine Zeitangabe lautet vielsagend: gestern, heute, morgen. Marie (Susanne Elmark)
Die Melange aus Rampenspiel und dem Orchestergerüst inklusive seiner beweglichen Plattformen liefert den räumlich gestaffelten Raumklang und zugleich die abstrakten Spielflächen. Für die beklemmenden Aufmärsche uniformierter Chöre und die Simultanszenen. Für das Philosophieren und Schwadronieren. Und für die Exzesse der Männer und die Demütigung der Frauen. Zu allem gibt es auch eine gehörige Portion des von Bieito erwarteten Brutalo-Realismus, samt einer kleinen Dosis Videozuspielung. Doch das ist kein ausgestelltes Schocktheater, sondern baut auf eine Personenführung und exemplarische Figurenporträts. So nah wie diesmal waren die Musik und das gesungene Wort noch bei keiner Soldaten-Inszenierung am Zuschauer. Das durchweg überzeugende Protagonistenensemble wird von Susanne Elmark als kraftvoll vitaler Marie angeführt. Michael Kraus ist ihr braver Bräutigam Stolzius. Noemi Nadelmann läuft als mondäne Gräfin de La Roche zur Hochform auf. Bei den Männern nirgends eine Schwachstelle - verdiente Ovationen für alle Beteiligten nach einem großen Theaterabend.
Die Oper in Zürich hat die Saison mit einem spektakulären Coup eröffnet. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme
Licht
Video
Choreographie
Dramaturgie
Solisten
Wesener
Marie, seine Tochter
Charlotte, seine Tochter
Weseners alte Mutter
Stolzius
Stolzius' Mutter
Obrist
Desportes
Pirzel
Eisenhardt
Haydy
Mary
Erster junger Offizier
Zweiter junger Offizier
Dritter junger Offizier
Gräfin de la Roche
Junger Graf
Andaluserin/ Madame Roux
Drei Hauptleute
Betrunkener Offizier
Junger Fähnrich
Bedienter der Gräfin
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