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Zauberberg

Ballett von Xin Peng Wang
nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann
Musik von Lepo Sumera

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Dortmund am 8. November 2014
(rezensierte Aufführung: 14.11.2014)



Theater Dortmund
(Homepage)

Flucht aus der Realität

Von Thomas Molke / Fotos von Bettina Stöss (Stage Pictures)

In seiner Zeit als Ballettdirektor in Dortmund hat sich Xin Peng Wang in den vergangenen Jahren nicht nur Ballettklassikern wie Schwanensee und Nussknacker gewidmet, sondern auch mit seinem Chefdramaturgen Christian Baier immer wieder große Werke der Weltliteratur in ein Handlungsballett umgewandelt, die man eigentlich überhaupt nicht mit Tanz in Verbindung bringt. Zu erwähnen sind hier Leo Tolstois Roman Krieg und Frieden, der Ballettabend Der Traum der roten Kammer, der auf einem chinesischen Nationalroman basiert, und Ödön von Horváths Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald. Mit allen drei Produktionen konnte das Ballett Dortmund auch überregional große Aufmerksamkeit erlangen. In dieser Spielzeit setzt Wang nun einen weiteren wortgewaltigen Roman in Tanz um, der auf den ersten Blick eigentlich "unvertanzbar" scheint: Thomas Manns Zauberberg. Insgesamt zweieinhalb Jahre benötigten Wang und sein Dramaturg Baier, um aus dem 800 Seiten umfassenden Klassiker des 20. Jahrhunderts ein Ballett zu formen, das die Handlung dieses Romans durchaus noch erkennen lässt, ohne dabei den Versuch zu unternehmen, die monströse Sprachgewalt Manns in Bewegung zu transferieren. Hinzu kommt, dass Wang mit diesem Abend auch noch einen Beitrag zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren leistet.

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Hans Castorp (Dmitry Semionov) entflieht im Sanatorium der Realität.

Erzählt wird die Geschichte des Studenten Hans Castorp, der kurz vor seinem Volontariat in einer Hamburger Schiffswerft seinen kranken Cousin Joachim Ziemßen in einem luxuriösen Lungensanatorium in den Schweizer Bergen besucht. Dort fasziniert ihn die illustre Gesellschaft aus Todgeweihten und Hypochondern so sehr, dass er seinen Aufenthalt immer weiter ausdehnt und der Realität allmählich entgleitet. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs reißt ihn aus seiner Traumwelt, da alle Patienten mit Ausnahme der Sterbenden und der unheilbar Kranken das Sanatorium verlassen und in ihre Heimatländer zurückkehren müssen. So landet Castorp schließlich im Schützengraben. Als Musik hat Wang Werke des estnischen Komponisten Lepo Sumera ausgewählt, der hierzulande größtenteils unbekannt sein dürfte. Sumeras Musik kennzeichnet eine Einfachheit, die mit minimalistischen Repetitionsmustern eine sukzessive Steigerung erlangt, die den Zuhörer mit einer Dynamik in ihren Bann zu ziehen vermag. Daneben hat er auch eine Klavier-Variation von Bizets Stierkämpfer-Lied aus Carmen komponiert, die von Wang ebenfalls in den Abend eingebaut wird.

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Makabrer Maskenball im Sanatorium (Ballet Dortmund)

Mit einer beeindruckenden Videoprojektion von Knut Geng taucht man direkt zu Beginn zur 1. Symphonie von Sumera, die den "Lindenbaum" als Leitmotiv für eine heile Welt aufgreift, in eine surreale Bergwelt ein, in der Castorp ankommt und auf seinen Cousin Ziemßen trifft. Aus dem Schnürboden hängen weiße Tücher herab, auf denen sich langsam aus schwarzen Strichen eine Berglandschaft herauskristallisiert. Diese "weiße Idylle" wird auch später im Bühnenbild von Frank Fellmann wieder aufgegriffen, da im Hintergrund ein großer weißer Kubus steht, auf dessen Dach unbefleckte weiße Berggipfel zu sehen sind. Doch diese Reinheit trügt. Schon bei seiner Ankunft kommen Castorp schwarz gekleidete Bauern entgegen, die auf großen Schlitten einen in weiße Tücher eingewickelten Leichnam aus dem Sanatorium abtransportieren. Dabei erinnern sie schon beinahe an den Fährmann Charon, der in der Mythologie die verstorbenen Seelen über den Fluss Styx in die Unterwelt fährt. Wenn die weißen Tücher in den Schnürboden gezogen werden, sieht man auf der Bühne viele solcher in weiße Tücher eingewickelten Körper. Doch diese Körper bewegen sich noch und entschlüpfen diesen Tüchern gewissermaßen wie einem Kokon. Damit ist Castorp in eine andere Welt eingetaucht, die ihn dem realen Leben immer mehr entzieht.

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Castorp (Dmitry Semionov) gesteht Clawdia (Monica Fotescu-Uta) in einem bewegenden Pas de deux seine Liebe.

Wang konzentriert sich in seiner Choreographie auf einzelne Lebensstationen des Protagonisten, die dieser nun auf diesem Zauberberg erlebt. Dabei gelingt es den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern die Charaktere der jeweiligen Figuren im Tanz wunderbar deutlich zu machen. Monica Fotescu-Uta verleiht der Madame Clawdia Clauchat, in die sich Castorp direkt bei seiner Ankunft verliebt und die auch ein Grund dafür sein dürfte, wieso er seinen Aufenthalt im Sanatorium immer weiter ausdehnt, die gleiche Extravaganz, mit der die Figur auch im Buch auftritt. Selbst das Knallen der Türen, mit dem sie im Buch jeweils ihren Auftritt ankündigt, wird bei ihrem ersten Auftritt übernommen. Giuseppe Ragona und Arsen Azatyan verkörpern die beiden unheilbar kranken Patienten Ludovico Settembrini und Naphta ebenfalls nah an der Beschreibung im Buch. So erinnert Ragona als Settembrini mit seinem nervösen Tänzeln und seiner leichten Hektik an einen Clown à la Charlie Chaplin, während Azatyans Bewegungen als glaubensstrenger Jesuit Naphta absolut geradlinig sind. Jelena Ana Stupar begeistert als Nelly mit einer mädchenhaften Eleganz und naivem Spiel, das deutlich macht, dass diese Figur die Ausmaße ihrer Krankheit noch nicht erkannt hat. Beklemmend gelingt hierbei der Übergang von einem koketten ausgelassenen Tanz in das über Tonband eingespielte schwere Keuchen einer Lunge, das auch bereits bei der allwöchentlichen Lungenuntersuchung eingespielt wird, wenn vier riesige Röntgenbilder aus dem Schnürboden herabhängen.

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Joachim Ziemßen (Dann Wilkinson) kämpft verzweifelt gegen seinen Tod an.

Im weiteren Verlauf des Abends findet Wang mit seiner Compagnie zahlreiche ästhetisch beeindruckende Bilder, von denen nur einige genannt werden können. Da ist zunächst der große Maskenball im ersten Akt. Mit überdimensionalen Köpfen treten die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer auf, um relativ ausgelassen eine Hochzeit zu feiern. Doch dann erscheint der Tod mit einer riesigen Totenkopfmaske und macht deutlich, dass die Ausgelassenheit im Sanatorium nur Lug und Trug ist und dieser Ort für die meisten die letzte Station sein wird. Großartig gelingen auch die beiden großen Pas de deux zwischen Castorp und Clawdia. Während Castorp im ersten Pas de deux zu dem "Quasi improvisato" für Violine und Klavier Clawdia seine Liebe gesteht, verwandeln sich die auf die Rückwand projizierten herabfallenden Schneeflocken in einen Text, der wohl aus dem Roman übernommen worden ist und in ausufernder Sprachgewalt die Bedeutungslosigkeit dieser Scheinwelt unterstreicht. Im zweiten Pas de deux, in dem die Beziehung zwischen Castorp und Clawdia ihrem Ende zusteuert, fallen zur Originalfassung der 1. Symphonie die einzelnen Buchstaben dieser Worte wieder herab und bilden auf dem Boden eine hohe Schneedecke.

Auch Joachim Ziemßens verzweifelter Todeskampf wird von Dann Wilkinson bewegend umgesetzt. Hier verstummt zunächst die Musik und Wilkinson versucht krampfhaft, sich gegen den Tod zu wehren, der in Form der schwarzen Bauern mit einem großen braunen Schlitten auf ihn wartet. Dann erklingt das "Lindenbaum"-Motiv, dieses Mal aber nicht in der Version von Sumera und live vom Orchester, sondern in Franz Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore", das in einer alten Aufnahme der Comedian Harmonists über Band eingespielt wird. Wilkinson begeistert dabei durch eine unter die Haut gehende Tragik. Großartig gelingt auch das Schlussbild, wenn der Erste Weltkrieg dem weltentrückten Leben im Sanatorium ein Ende setzt. Aus zunächst unscharfen Projektionen auf die Rückwand kristallisieren sich allmählich die Kämpfe in den Schützengräben heraus. Das weiße Tuch vom Anfang des Stückes wird wieder aus dem Schnürboden herabgelassen und deckt die heftig dagegen ankämpfende Compagnie langsam zu. Wenn die Tänzerinnen und Tänzer dann unter diesem Tuch gewissermaßen begraben sind, tritt Castorp auf und schreitet über dieses Tuch seiner neuen, ungewissen Zukunft in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs entgegen. Musikalisch begleitet wird dieses Endszenario von Sumeras 2. Symphonie, die auch Castorps Schneetraum am Anfang des zweiten Teils untermalt, bei dem die Compagnie von leichtfüßigen und harmonischen Bewegungen einer arkadischen Landschaft zu einem archaischen Tanz wechselt, der einen Blick in die Abgründe der Menschheitsgeschichte liefert. Wang stellt hierbei zunächst eine schneeweiße Madonna mit einem Baby in den sich drehenden Kubus im Hintergrund, die bei der nächsten Umdrehung des Kubus von zwei halbnackten Kannibalinnen ersetzt wird, die das Kind zerfleischen.

Besonders hervorzuheben ist auch Dmitry Semionov als Castorp, der mit grandiosen Sprüngen und Drehungen begeistert und der Hauptfigur eine tiefe Melancholie verleiht, die vor allem in seinem großen Solo im ersten Akt deutlich wird, wenn er sich zu Sumeras "Trauriger Toreador" für Klavier solo, einer Bearbeitung des Stierkampf-Liedes aus Bizets Carmen, einsam über die Bühne bewegt, während aus dem Schnürboden Stühle herabgelassen werden, die surreal in der Luft schweben. Mit Fotescu-Uta findet er in den beiden Pas de deux zu einer bewegenden Innerlichkeit. Die Dortmunder Philharmoniker setzen unter der Leitung von Motonori Kobayashi Sumeras Musik eindringlich um, so dass es am Ende großen Applaus für alle Beteiligten gibt.

FAZIT

Xin Peng Wang hat es erneut geschafft, einen Roman der Weltliteratur, den man überhaupt nicht mit Tanz verbindet, absolut überzeugend in ein packendes Handlungsballett umzuwandeln.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Motonori Kobayashi

Choreographie, Inszenierung
Xin Peng Wang

Bühne
Frank Fellmann

Kostüme
Alexandra Schiess

Lichtdesign
Carlo Cerri

Videodesign
Knut Geng

Konzept, Szenario, Dramaturgie
Christian Baier

 

Statisterie des Theater Dortmund

Dortmunder Philharmoniker

Solo-Violine
*Shinkyung Kim /
Alexander Prushinsky

Klavier
Tatiana Prushinskaya

 

Tänzerinnen und Tänzer

*rezensierte Aufführung

Hans Castorp, ein junger Mann
*Dmitry Semionov /
Harold Quintero
Stephen C. King

Madame Clawdia Chauchat, eine Patientin
*Monica Fotescu-Uta /
Emilie Nguyen /
Clara Carolina Sorzano Hernandez

Mynher Pieter Peppercorn, ihr Geliebter
*Andrei Morariu /
Alysson da Rocha Alves

Joachim Ziemßen, Cousin von Castorp
*Dann Wilkinson /
Stephen C. King

Nelly, eine Patientin, von Ziemßen verehrt
*Jelena Ana Stupar /
Denise Chiarioni

Ludovico Settembrini, ein unheilbarer Patient
und Freigeist

*Giuseppe Ragona /
Francesco Nigro

Naphta, ein unheilbarer Patient und Jesuit
*Arsen Azatyan /
Gal Mazor Mazahri

Vier Bauern
*Francesco Nigro /
Giuseppe Ragona
*Gal Mazor Mahzari /
Arsen Azatyan
*Harold Quintero /
Alysson da Rocha Alves
*Dayne Florence /
Hiroaki Ishida

Patienten, Liebespaare, Gesellschaft
Denise Chiaroni
Stephanine Ricciardi
Clara Carolina Sorzano Hernandez
Sayo Yoshida
Jacqueline Bâby
Sakura Sakamoto
Moonsun Yoon
Nae Nishimura
Risa Terasawa
Amanda Vieira
Francesco Nigro
Gal Mazor Mahzari
Stephen C. King
Harold Quintero
Yuri Polkovodtsev
Giacomo Altovino
Davide D' Elia
Dayne Florence
Hiroaki Ishida
Tigran Sargsyan
 


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Informationen

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Theater Dortmund
(Homepage)



Da capo al Fine

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