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Die hypernervöse Einsamkeit der letzten Riesenschildkröte
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Der Abend beginnt mit einem magischen Bild: Aus der Dunkelheit leuchtet der Rücken von Yuko Kato auf, das Kleid hinten tief ausgeschnitten. Yuko Kato wird allein bleiben, zwar unterstützt von einem „Schutzengel“ (vom schlaksigen Marcos Menha mit einer wunderbaren Prise Understatement getanzt), aber der erträumte Mann bleibt Vision oder Erinnerung: Alexander Simões, im Programmheft als „Liebe“ bezeichnet, wird ebenso schnell wieder entschwinden, wie er plötzlich erschienen ist. Zwischen diesen intimen Szenen, von denen es vier gibt und die mit „Realität“ überschrieben sind, stehen drei große Ensemble-Blöcke: „Illusion/Vergangenheit“, „Illusion/Traumwelt“ und „Illusion/Surreale Welt“. Doch Yuko Kato bleibt eine Ausgeschlossene, steht unbeteiligt inmitten des Geschehens, läuft gegen den Strom, findet keinen Kontakt. Das hört sich alles ein wenig kitschig an, was es aber auf der Bühne nicht ist – allerdings in seiner schematischen Erzählweise auch nicht besonders originell.
Für dieses hier uraufgeführte 35-Minuten-Ballett Illusion verwendet die südkoreanische Choreographin Young Soon Hue das Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester von Philip Glass, das formal ritornellartig die Struktur vorgibt: Vier introvertierte Abschnitte für die beiden Solo-Instrumente stehen im Wechsel mit drei Sätzen für das Orchester. Siegfried Rivinius (Violine, mit ein paar Ungenauigkeiten im Finalteil) und Friedemann Pardall (Cello) sind ausgezeichnet aufeinander abgestimmt, die Duisburger Philharmoniker spielen unter der Leitung von Wen-Pin Chien klangschön, nicht nur zum Vorteil der Komposition, die allzu behaglich einlullt - man könnte das Werk ruhig genauer sezieren, mehr auf Struktur und rhythmische Verschiebungen beleuchten als auf Wohlklang trimmen. Und das setzt sich in gewisser Hinsicht in der Choreographie fort: Young Soon Hue bleibt (auch) in den Ensembles recht konventionell, gestaltet hübsch anzusehende Tableaus in beeindruckenden Kostümen (Ausstattung: Keso Dekker), leider nicht immer ganz synchron getanzt – da fehlt es dem Ensemble an der letzten Präzision. Und bei Yuko Kato hat man den Eindruck, dass sie in der recht pauschal gehaltenen Hauptpartie ziemlich unterfordert ist. Illusion kratzt nicht allzu tief an der Oberfläche. Illusion: Die Frau (Yuko Kato) und die Liebe (Alexander Simões) Um Einsamkeit geht es auch, das verrät bereits der Titel, in Lonesome George von Marco Goecke, 1972 in Wuppertal geboren und Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett, der hier zum ersten Mal mit dem Düsseldorf-Duisburger Ballett am Rhein arbeitet. „Lonesome George“ war der Name der letzten Riesenschildkröte auf den Galapagos-Inseln, die vermeintlich letzte ihrer Art (inzwischen sind auf einer Nachbarinsel weitere Exemplare entdeckt worden), während der Entstehungsphase des Balletts 2012 gestorben - wegen einer Erkrankung Goeckes wurde die Arbeit seinerzeit unterbrochen. Auch Goeckes Tänzerinnen und Tänzer scheinen gegen den Untergang zu kämpfen, mit den für den Choreographen typischen flatterhaften, abgerissenen, wie mechanisch erscheinenden Bewegungen, die hier kaum einmal einen fließenden, sanften Übergang erlauben. In dunkelroten Hosen, die Damen mit gleichfarbigen schulterfreien Trikots, die Herren mit unbekleidetem Oberkörper, wird im harten Streiflicht der muskulösen Körperbau betont. Das 25 Minuten lange Ballett wirkt dadurch ungeheuer kraftvoll, als seien da höchst komplexe Maschinen am Werk. Die Bewegung erfolgt ganz überwiegend durch die Arme, in vibrierender Dynamik sehr nuanciert. Eine Interaktion zwischen den Tänzern gibt es dagegen eher selten, eher werden die Bewegungsabläufe gedoppelt oder laufen unabhängig voneinander ab: Man bleibt einsam.
Das passt zur Musik, der Orchesterfassung von Schostakowitschs expressivem 8. Streichquartett c-Moll op. 110, auch wenn Goecke nicht unmittelbar auf die Komposition eingeht, sondern diese mehr als Klangraum für seine Arbeit verwendet, der gelegentlich von Atemgeräuschen und dem gesprochenen Name „George“ aufgebrochen wird. So entwickelt sich ein kühl distanziertes, sehr intensives, in der fehlenden Entwicklung statisches Ballett, das aber noch zwei Überraschungsmomente bereit hält: Zunächst lässt Ausstatterin Michaela Springer wie einen Blitz silbrige Fäden herab fallen, die dann wie Lametta von der Decke hängen, kühl metallisch. Und dann erscheint für ein großes Solo als Schlusspunkt Marlúcia do Amaral mit freiem Oberkörper, das Haar maskulin zurück gekämmt, gleichzeitig aber weiblich-erotisch mit entblößten Brüsten. Lonesome George bleibt ein rätselhaftes, sich der schnellen Deutung entziehendes, faszinierendes und berührendes Stück. Voices Borrowed: Ensemble
Amanda Miller hat bereits 2013 mit dem Ballett am Rhein gearbeitet (Crops im Ballettabend b.15). Für Voices Borrowed, auch dies eine Uraufführung, verwendet sie Arnold Schönbergs eigenartiges Konzert für Streichquartett und Orchester nach Händels Concerto grosso op.6 Nr.7. Schönberg spinnt darin Händels Material auf sehr eigensinnige, intellektuelle Weise fort, wie eine Standortbestimmung der Moderne auf dem festen Boden der Tradition. So in etwa ist auch die Choreographie angelegt. Man sieht einen Saal mit angedeuteter Eisenrückwand, kein typischer Ballettsaal mit Spiegel und Stange, aber man darf an einen leer stehenden Fabrikraum denken, in dem jenseits des Akademischen getanzt wird (Bühne: Claus Stump). Darinnen Tänzerinnen in Kleidchen und luftigem Tutu, die Tänzer (barfuß) in Bermuda-Shorts und schick durchdesignten Oberteilen, hier wie da sehr individuell und farbenfroh gestaltet. Das sieht aus wie eine bunte Mischung aus Freizeit-Look und Tanzausrüstung. Wie zufällig ergeben sich durchaus klassische Figuren, entwickeln sich locker Formationen, die hier und da Händels barocke Figuren aufgreifen. Das ist sehr leicht gearbeitet und hat eine Reihe interessanter, auch humorvoller Szenen. Nur hat man relativ schnell den Eindruck, das Prinzip durchschaut zu haben – und Schönberg-Händels merkwürdige Musik kann das Stück nicht auffangen. So plätschert Voices Borrowed irgendwann so vor sich hin. Und für ein leichtes Frühsommerstück zum Saisonausgleich ist es dann, nicht zuletzt eben der verqueren Musik wegen, auch nicht schwungvoll genug. Freundlicher, eher knapper Applaus.
Mit drei Uraufführungen unterstreicht das Ballett am Rhein seinen innovativen Anspruch – wobei Young Soon Hues Illusion ein wenig zu bieder, Amanda Millers Voices Borrowed eher harmlos-schematisch daher kommt. Nachhaltig in Erinnerung bleiben dürfte allein Marco Goeckes Lonesome George. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamIllusion
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Siegfried Rivinius, ViolineFriedeman Pardall, Violoncello Tänzerinnen und Tänzer
Frau
Schutzengel
Liebe
Drei Traumpaare
Tänzerinnen und Tänzer Lonesome George
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Dramaturgie
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerMarlúcia do AmaralCamille Andriot Wun Sze Chan Mariana Dias Nathalie Guth Christian Bloßfeld Martin Chaix Filipe Frederico Sonny Locsin Alexandre Simões Marcos Menha Voices Borrowed
Choreographie
Bühne
Bühne und Licht
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Siegfried Rivinius, ViolineMatthias Bruns, Violine Mathias Feger, Viola Friedeman Pardall, Violoncello Tänzerinnen und TänzerSachika AbeCamille Andriot Doris Becker Wun Sze Chan Feline van Dijken Sonia Dvorak Yuko Kato Helen Clare Kinney Claudine Schoch Virginia Segarra Vidal Jackson Carroll Martin Chaix Michael Foster Philipp Handschin Richard Jones Marquet K. Lee Sonny Locsin Alexander McKinnon Alban Pinet Boris Randzio
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