Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Wer so schön singt, den lassen die Götter nicht sterben
Von Stefan Schmöe
/
Fotos von Bettina Stöß
Die opera seria erzählt von Königen und Göttern. Beispielsweise von König Idomeneo, der auf hoher See bei einem schweren Unwetter dem Meeresgott Neptun als Preis für die Rettung den ersten Menschen, dem er an Land begegnet, zum Opfer anbietet – um dort prompt auf seinen eigenen Sohn Idamante zu treffen. Die „großen“ Opern Mozarts von der Entführung aus dem Serail bis zur Zauberflöte erzählen von Dienern, Kammerzofen und Vogelfängern, zwar auch noch von Grafen oder Königinnen, aber der freimaurerische Geist der Zauberflöte verschiebt die Akzente: „Er ist ein Prinz.“ „Mehr: Er ist ein Mensch.“ Als Mozart für das Münchner Residenztheater den Idomeno formal leidlich korrekt entlang des seria-Schemas komponierte, mag die Humanität des Figaro noch ein Stück entfernt sein, aber latent unterwandert sie bereits die vordergründig konventionellen Figuren. Francesco Negrin hebt das in seiner Essener Neuinszenierung hervor: Mögen sie auch König, Prinz oder Prinzessin heißen – hier geht es um die Nöte von (sehr heutigen) Menschen. Der erste Mensch, dem Idomeneo (Eric Cutler, links) begegnet, ist zum Opfer für Meeresgott Neptun bestimmt - und es ist Idomeneos Sohn Idamante (Michaela Selinger)
Die Bühne (Tobias Hoheisel) zeigt im Vordergrund ein aufgerissenes Schiffswrack, dahinter eine verwüstete Fläche, im Hintergrund eine Leinwand, die im Wesentlichen für raffinierte Lichteffekte genutzt wird und nie reale Bilder zeigt (Licht: Christian Sierau, Video: Joan Rodón): Eine Küstenlandschaft mit Spuren der Verwüstung. Das Personal ist denkbar schlicht gekleidet, arme Leute im antiken Griechenland oder im 18. Jahrhundert oder heute, das bleibt offen, und das eine oder andere Kostüm lässt entfernt an Diktaturen wie Nordkorea denken, ohne konkret darauf hinzuweisen. Das ist die große Stärke der Regie: Die Geschichte in poetischen Bildern nachzuerzählen und vorsichtig Assoziationsmöglichkeiten einzubauen. Wenn nach dem Unwetter zu Beginn leblose Körper an dieser unwirtlichen Küste herumliegen, sind die Bilder von ertrunkenen Bootsflüchtlingen am Strand von Lampedusa nicht weit und auch nicht die Erinnerung an den Tsunami von 2004. Negrin zieht diesen doppelten Boden unaufdringlich ein, gibt keine konkreten Verweise. Aber er zeigt sehr intensiv Menschen in einer Katastrophensituation, die sich in Idomeneo einen Anführer suchen. Das lieto fine, das glückliche Ende, das gibt es freilich nur bedingt; Negrin lässt Idomeneo sterben, von Elektra im Zorn getötet. Erstaunlicherweise funktioniert auch das: Der Jubelschluss wird in ein Bestattungsritual umgedeutet, und die Musik trägt das mit. Aus dieser Perspektive kann man die Aufführung auch als ein großes Ritual verstehen, mit dem die Toten an den Küsten dieser Welt (und nicht nur dort) betrauert werden. Die Schrecken gehen weiter: Ilia (Julia Kleiter) unter antikem Steinschlag
Bei dreieinhalb Stunden handlungsarmer Spieldauer würde das aber kaum funktionieren, wäre nicht auch das musikalische Niveau entsprechend hoch. Nie wieder hat Mozart eine so wichtige Chorpartie geschrieben (das spiegelt auch die Regie wieder), und der auch schauspielerisch entsprechend geforderte Opernchor des Aalto-Theaters (Einstudierung: Alexander Eberle) imponiert mit weichem, nie massigem Ton, differenzierter Gestaltung und großer Beweglichkeit. Die Essener Philharmoniker erreichen als "klassisches" Symphonie- und Opernorchester naturgemäß zwar nicht die pointierte Schärfe von Spezialensembles für solche Musik, spielen aber unter der Leitung ihres Chefdirigenten Tomaš Netopil sehr nuanciert und mit hellem und schlankem, transparentem Klang, leicht aufgerauht, zupackend und agil. Das dürfte den Klangvorstellungen Mozarts schon recht nahe kommen. Rückzug in die armseligen Behausungen, die zugleich Seelenräume sind: Ilia (Julia Kleiter, links), Elektra (Simona Šaturová), Idamante (Michaela Selinger) und Idomeneo (Eric Cutler)
Ganz ausgezeichnet singen die Solisten, allen voran Julia Kleiter als Ilia mit jugendlich leuchtendem, in der klaren Tongebung beinahe entrückten Sopran, aber ebenso Michaela Selinger in der Hosenrolle des Königssohns Idamante und Simona Šaturová als eifersüchtige Nebenbuhlerin Elektra, beide mit hellen, nicht zu schweren, aber tragfähigen Stimmen. Nein, solche Frauenstimmen kann ein einigermaßen musikliebender Gott nicht sterben lassen. Wenn man da überhaupt etwas auszusetzen hat, dann vielleicht, dass sich die drei Stimmen im Charakter zu wenig unterscheiden. Eric Cutler als Idomeneo erreicht, was die Schönheit der Tongebung betrifft, mit seinem baritonal eingedunkelten Tenor nicht ganz dieses hohe Niveau, der etwas brüchige Charakter der Stimme passt allerdings sehr gut zur Rollenanlage des an sich selbst verzweifelnden Anführers wider Willen. Michael Smallwood als Arbace, Berater des Idomeneo, fehlt es ein wenig an stimmlichem Glanz, aber auch hier ist die Partie sehr schön gestaltet; Albert Kludszuweit ist ein solider Oberpriester. Und sie alle bilden ein hervorragend abgestimmtes Ensemble, geben der Aufführung einen melancholisch gedeckten, nie vordergründigen Tonfall.
Francisco Negrin ist eine ruhige, unaufdringliche Inszenierung gelungen, die berührt, und musikalisch bleiben kaum Wünsche offen: Dieser Idomeneo gehört zum besten, was das Aalto-Theater in den letzten Jahren auf die Bühne gestellt hat. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Video
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten
Idomeneo
Idamante
Elektra
Ilia
Arbace
Der Oberpriester des Poseidon
Die Stimme des Orakels
Kreterinnen und Kreter
Trojaner
Neptun
|
© 2014 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de