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Le Grand Macabre

Oper in vier Bildern
Libretto von Michael Meschke und György Ligeti
Frei nach Michel de Ghelderodes Schauspiel La Balade du Grand Macabre
Musik von György Ligeti

in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (eine Pause)

Premiere im Aalto-Theater Essen am 14. Februar 2015


Logo:  Theater Essen

Theater Essen
(Homepage)
Der Weltuntergang ist zu ernst, um ernst genommen zu werden

Von Stefan Schmöe / Fotos von Matthias Jung

Eine apokalyptische Vision: Aus einem Grab ersteht der grimmige Tod, Nekrotzar wird er genannt, und zieht durch die Lande, die Menschheit zu vernichten. Um Mitternacht soll ein Komet die Erde zerstören. Auf dem Weg zum Fürsten ist ein gewisser Piet vom Fass, von Beruf Weinabschmecker, der erste Mensch, dem er begegnet. Nun ja: Piet sitzt gerade im Aalto-Theater, Parkett, wenn auch opernunkorrekt gekleidet und mit geöffneter Bierdose (und Nekrotzars "Grab" ist der Orchestergraben, man muss da nur die letzten beiden Buchstaben weglassen). Gespielt wird offenbar der Rosenkavalier in historischer Kostümierung, wobei das junge Paar auf der Bühne sich gerade intensiv dem Geschlechtstrieb hingibt und auf der Suche nach einem ungestörten Plätzchen dafür in das Grab respektive Graben hinab steigt. Nekrotzar aber (Monty Pythons Ritter der Kokosnuss lassen grüßen) reitet auf Piet in die Welt. Da geht gerade eine Theaterwelt zugrunde.

Vergrößerung in neuem Fenster Eigentlich sind wir gar nicht im Rosenkavalier, aber das verliebte Pärchen Amando (Karin Strobos, rechts) und Amanda (Elizabeth Cragg) ist direkt dieser Oper entsprungen und jetzt auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ungestörten Geschlechtsverkehr. Da bietet sich ein "Grab" doch an.

Alles falsch. Piet ist gar nicht in der Oper, er sitzt, wir sind im nächsten Bild, am heimischen Computer, ein verwahrloster "Gamer", der gerade "Le grand Macabre" spielt und sich als Avatar, als Spielfigur sozusagen, den "Sensenmann" wählt, eben jenen Nekrotzar, der ihm verdammt ähnlich sieht. Der Weltuntergang als Computerspiel? Vielleicht, aber so einfach machen es sich Regisseurin Mariame Clément und Ausstatterin Julia Hansen nicht. Sie entfalten einen vielschichtigen und anspielungsreichen Bilderbogen, in dem der Realitätsverlust, den die Entstehung virtueller Parallelwelten mit sich bringt, ein Aspekt von vielen ist. Sie erzählen die wirre Handlung nicht linear nach, sondern in sprunghaft wechselnden Szenen, die sich erst am Ende zu einem Panorama zusammen setzen. Ein heikles Unterfangen, und in vor ein paar Wochen in Köln gezeigten Zauberflöte sind Mariame Clemént solche Endzeitgedankenspiele aus dem Ruder gelaufen (unsere Rezension). Hier aber geht das wirre Spiel mit Ligetis "Ant-Anti-Oper" auf. Wie auch der Komponist, der sich mit Le grand Macabre nicht zuletzt gegen seine eigenen Versuche auf dem Bereich der inhaltslosen "Anti-Oper" (Adventure und Nouvelle Adventure) stellt, Sinnhaftigkeit und höheren Blödsinn verschwimmend ineinander übergehen lässt, hält auch die Regie vieles in der Schwebe.

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Gamer-Schicksal: Piet vom Fass (Reiner Maria Röhr, vorne) mit dem Avatar "Sensenmann", dem großen makabren Tod, der auf den Namen "Nekrotzar" hört (Heiko Trinsinger)

Der Hof von König Go-Go ist das Oval Office im Weißen Haus, wo Mr. President zur "lahmen Ente" zwischen seinen Ministern (hier Vertreter der beiden Parteien) geworden ist (das gelbe Gummientchen auf seinem Schreibtisch ist ein hübsches Symbol). Eine billige Pointe, zugegeben, wie auch der Quickie mit der Sekretärin, aber es diese Trash-Versatzstücke sind bewusst eingeplant. Zu Ligetis schriller Toccata aus Klingeln starrt er auf das rote Telefon (und man erinnere sich: Der Tod, der heißt "Nekrot-Zar"; da wird die Apokalypse ganz nebenbei auf weltpolitischer Ebene verhandelt). Und wird die Handlung gerade noch wie ein schlechter Comic-Strip auf der Bühne abgehandelt, so dreht sich plötzlich die Theaterwelt um und der Untergang findet im Zuschauerraum statt, mit Rundum-Beschallung von den Seiten und Rängen und Choristen, die kaum unterscheidbar sind von den Premierenbesuchern und an plötzlich verschlossenen Saaltüren rütteln (man denkt auch ohne konkreten Verweis an die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 mit 130 Toten). Weg von der Guckkastenbühne und hin zum totalen Theater - das mag als Mittel längst ausgedient haben (Dietrich Hilsdorf hat das vor rund 25 Jahren ausgiebig in Essen durchgespielt), aber Le grand Macabre ist schließlich auch ein Stück der 1970er-Jahre und fährt nicht schlecht mit solchen Brechungen.

Vergrößerung in neuem Fenster Mr. President, ein "Fürst Go-Go" (Jake Arditti) mit rotem Telefon und gelber Ente bei der Arbeit -

Aber zurück zum Tod, dem großen Makabren: Der betrinkt sich und verpasst den Weltuntergang. Vielleicht, das hat schon Ligeti angemerkt, ist er ja auch nur ein armseliger Gaukler. Clément und Hansen bereiten indes den nächsten Theatercoup vor und verfrachten das Personal in jenes "Breughelland", in dem die Geschichte laut Libretto angesiedelt ist, nämlich in das Gemälde Die niederländischen Sprichwörter von Pieter Bruegel (Buchstabendreher gehören zum Prinzip des Librettos), gemalt 1559. So nimmt die Story eine absonderliche Wendung ins Märchenhafte, und es bleibt offen, ob die Apokalypse nun ausgefallen ist oder nicht. Den Schlusspunkt setzen Amanda und Amando, das liebestolle Rosenkavalier-Paar, das aus dem Grab(en) zurück kehrt und nichts mitbekommen hat von allen Weltuntergangssorgen. Und nachdem es zuvor diverse angehängte überformatige Geschlechtsteile gegeben hat, betritt am Ende ein junges unbekleidetes Paar in reiner, echter Nacktheit die Bühne. Ein überraschend poetisches, gleichwohl vieldeutiges Bild zum Finale. Ist das bereits der paradiesische Neuanfang nach der Menschheitsdämmerung?

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Und was tut der Tod (Heiko Trinsinger, links): Er betrinkt sich. Astradamors (Tijl Faveyts) wird, nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hat, messerscharf folgern: "Wir haben Durst, also leben wir". Sind wir also noch einmal davongekommen?

Wie aber funktioniert solches keineswegs absurdes, dafür durchweg tolldreistes Theater? Ganz einfach: Durch die Musik. Mit schneidender Schärfe sezieren die fabelhaften Essener Philharmoniker unter der Leitung von Dima Slobodeniouk (ein Name, den man sich unbedingt merken sollte) Ligetis Musik, und mehr noch: Sie stellen brillant die vielfachen Bezüge zur musikalischen Tradition her, die Ligeti vorschwebten - den barocken Toccata-Impetus in den Vor- und Zwischenspielen wie den erdenschweren Passacaglia-Gestus mit Verweis auf Beethovens Eroica-Finalsatz oder Offenbachs kaum verhüllt zitierte Cancan-Frivolitäten. Und das szenische Rosenkavalier-Zitat stünde auf tönernen Füßen, würde es nicht musikalisch beglaubigt, weil Dirigent und Orchester in der schrägen Musik Ligetis tatsächlich die Strauss'sche Celesta-Glitzerwelt auffinden und hörbar machen und die Musik doch durch und durch echter Ligeti bleibt - das ist schlichtweg phänomenal.

Eine ausgesprochene Sängeroper ist Le grand Macabre nicht, dazu sind die Figuren zu stark als Karikatur angelegt. So beeindruckt die Ensembleleistung als Ganzes mehr als die individuellen Rollenportraits. Daher seien Heiko Trinsinger als Nekrotzar, Reiner Maria Röhr als Piet vom Fass und Till Faveyts als durchgeknalltem, sexunlustigem Astronomen Astradamors im Soldaten-Tarnanzug stellvertretend für ein ungemein spielfreudiges, stimmlich durchweg souveränes Ensemble genannt, das am Ende vom Premierenpublikum gefeiert wurde wie auch Dirigent und Orchester und, noch stärker, das Regieteam: Das schräge Stück mit mancher szenischen und akustischen Provokation trifft offensichtlich den Zeitgeist.


FAZIT

Ist das noch Kunst oder hanebüchener Unsinn? Die Essener Produktion trifft ziemlich genau den Ansatzpunkt, von dem aus Ligetis Anti-Anti-Oper auch unsere ganz aktuellen Existenzängste satirisch aushebelt. Unsinn hin, Kunst her: Es ist großartig. Unbedingt ansehen.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Dima Slobodeniouk

Inszenierung
Mariame Clément

Ausstattung
Julia Hansen

Video
fettFilm
(Momme Hinrichs,
Torge Møller

Chor
Alexander Eberle

Dramaturgie
Janina Zell



Statisterie des Aalto-Theaters

Chor des Aalto-Theaters

Essener Philharmoniker


Solisten

Gepopo, Venus
Susanne Elmark

Amanda
Elizabeth Cragg

Amando
Karin Strobos

Fürst Go-Go
Jake Arditti

Mescalina
Ursula Hesse von den Steinen

Piet vom Faß
Rainer Maria Röhr

Nekrotzar
Heiko Trinsinger

Astradamors
Tijl Faveyts

Weißer Minister
Jeffrey Dowd

Schwarzer Minister
Karel Ludvik

Ruffiack
Harald Wittkopp

Schoblack
Holger Penno

Schabernack
Andreas Baronner






Weitere Informationen
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Theater Essen
(Homepage)




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