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Musiktheater
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Der Tod und die Malerin

Ballett von Bridget Breiner
nach dem Werk Leben? Oder Theater? von Charlotte Salomon
Musik von Michelle DiBucci


Aufführungsdauer: ca. 2h 20' (eine Pause)

Uraufführung im Großen Haus des Musiktheater im Revier am 14. Februar 2015
(rezensierte Aufführung: 22. Februar 2015)


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Musiktheater im Revier
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Malen und tanzen gegen die Todesangst

Von Stefan Schmöe / Fotos:Costin Radu

Charlotte Salomon, 1917 als Tochter eines jüdischen Chirurgen in Berlin geboren, war 9 Jahre alt, als ihre Mutter Selbstmord beging. Dem Kind erzählte man, die Mutter sei an einer Grippe verstorben. Erst viel später erfuhr sie die wahren Umstände, als sich auch die Großmutter umbrachte, im südfranzösischen Exil, das nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen nicht mehr sicher war. Charlotte flüchtete sich in die Malerei, nicht zuletzt aus Angst, einer vererblichen Depression zum Opfer zu fallen. Kunst hatte sie studiert, wenn auch nur kurz, weil die antisemitische Hetze im Nazideutschland sie schnell von der Akademie vertrieben hatte. Auf weit über eintausend Blättern malte sie ihre Lebensgeschichte, fügte 769 davon unter dem Titel Leben? Oder Theater? zu einer mitunter fast comichaften Art Autobiographie zusammen. Darin erzählt sie vom engen, nicht unkomplizierten Verhältnis zu Paula Lindberg, der zweiten Frau des Vaters, von einer heftigen Affäre mit deren Gesangslehrer, von ihrer Emigration zu den Großeltern nach Südfrankreich und dem Tod der Großmutter. In düsterer Vorahnung übergab sie einen Koffer mit diesem Werk an einen befreundeten Arzt - kurz darauf wurde sie, jung verheiratet und schwanger, mit ihrem Mann nach Auschwitz deportiert und vermutlich sofort ermordet.

Szenenfoto kommt später

Hinter dem Fenster lauert der Tod (Jonathan Ollivier): Charlotte (Kusha Alexi)

Bereits die Salzburger Festspiele 2014 haben sich mit Marc-André Dalbavies Oper Charlotte Salomon in der Regie von Luc Bondy Leben und Werk der Künstlerin angenommen (unsere Rezension). In Gelsenkirchen legt nun Ballettchefin Bridget Breiner mit einem formidablen zweistündigen Handlungsballett nach, für das die amerikanische Komponistin Michelle DiBucci die Musik geschrieben hat. Vom Gestus her sind beide Produktionen gar nicht so verschieden, bewegen sich im Wesentlichen linear an Leben? Oder Theater? entlang, beziehen die Bilder Charlotte Salomons in Bühnenbild und Handlung ein und werden getragen von einer durchaus wohlklingenden Musik, die sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängt und hier und da die Musikstücke, die auf den Bildern von der Künstlerin als mitzudenkende Grundierung genannt werden (u.a. die Habanera aus Carmen oder Glucks Orpheus-Klage Ach, ich habe sie verloren), zitiert. Michelle DiBucci verwendet neben dem Orchester noch eine Sopranistin (etwas angestrengt: Anke Sieloff, leider oft unschön elektronisch verstärkt) und ein Männerstimmen-Quintett (solide: Lars-Oliver Rühl, Thomas Diestler, Michael Dahmen, Piotr Prochera und Joachim G. Maas). Dabei fungieren die Gesangsstimmen aber allzu oft in erster Linie als Stichwortgeber, bleiben aber selbst zu unbedeutend, um der Musik opernhafte Züge zu geben - eine vollständige Reduktion auf Instrumentalmusik und Tanz wäre vielleicht zwingender gewesen als diese ein wenig unentschlossene Zwitterlösung, bei der die Sänger teilweise im Graben, teilweise auf der Bühne agieren.

Szenenfoto kommt später

Maskiert mit den eigenen Köpfen aus Leben? Oder Theater?: Stiefmutter Paulinka (Ayako Kikuchi, rechts) und deren Gesangslehrer Daberlohn (Junior Demetre)

Davon abgesehen sind Musik, Choreographie und Ausstattung so eng aufeinander abgestimmt, dass sie nicht voneinander zu trennen sind. Das beginnt beispielhaft mit dem Prolog, bei dem Charlotte vor der ersten Sitzreihe im Zuschauerraum hockt, ein Steg führt über den Orchestergraben hinüber auf die Bühne, die durch zwei Holzleiten links und unten ganz dezent gefasst ist wie ein Bilderrahmen oder eine Staffelei. Per Video wird ein Ausschnitt aus einem Bild der Künstlerin auf einen Vorhang projiziert, Wellen, wobei die Linien in Bewegung geraten; dazu setzt eine verschwimmende Musik, die beinahe minimalistisch auf einem schlichten Dreiklangsmotiv aufgebaut ist, ein. Wenn Charlotte die Bühne betritt, öffnet sich das Bild auf mehrere gestaffelte Fenster, mit wenigen Strichen gemalt, und Chiffre für den Tod (Mutter wie Großmutter Charlottes stürzten aus dem Fenster in den Tod). Das ist eine sehr poetische, sofort fesselnde Eröffnung.

Die Choreographin und ihr Team finden auch an anderen Stellen unaufdringliche, aber sehr wirkungsvolle Bilder. Für die Reichsprogromnacht, früher beschönigend "Reichskristallnacht" genannt, reicht ein zersplitterndes Trinkglas. Auf Hakenkreuze und NS-Emblematik dagegen ist (anders als in der Salzburger Opernproduktion) praktisch vollständig verzichtet. Bridget Breiner erzählt in erster Linie von einer jungen Künstlerin und nicht von der verfolgten Jüdin (schon gar nicht hat sie ein Geschichtsdrama kreiert). Diese Akzentuierung auf die Auseinandersetzung einer jungen Frau mit der eigenen (zunächst unpolitischen) Familientragödie rehabilitiert Charlotte Salomon als lebensbejahende, nach ihrer Rolle suchende Frau und Malerin. Es gibt eine ganze Reihe von komischen Momenten. Verdrängt wird die historische Dimension dadurch keineswegs: Die Schatten der NS-Zeit schwingen immer mit. Aber sie dominieren nicht.

Szenenfoto kommt später

Im südfranzösischen Exil wird Charlotte (links) die Tragik ihrer Familie bewusst: Die Großmutter ist bereits tot (Rita Duclos, rechts), vom Großvater (Hugo Mercier) ist nichts Gutes zu erwarten

Der ein wenig pathetisch geratene Titel Der Tod und die Malerin spielt auf Matthias Claudius' Gedicht Der Tod und das Mädchen (von Schubert vertont und in den Variationssatz des gleichnamigen Streichquartetts übernommen). Wie im Gedicht ist der Tod personifiziert, hier durch einen Tänzer, bleibt aber recht zurückhaltend - seinen großen Auftritt hat er in einem eindrucksvollen pas de deux im Finale, und das hätte angesichts des Wissens um die Gaskammern von Auschwitz auch kräftig danebengehen können. Bridget Breiner hat eine überzeugende, offene Lösung gefunden: Tod und Mädchen tanzen allmählich aus dem Bild heraus, schreiten auf dem Steg über den Orchestergraben Richtung Zuschauerraum, und bis zuletzt fragt man sich, ob Charlotte sich vielleicht doch wehren kann. Alles Weitere spielt sich im Kopf des Zuschauers ab. Ein Einwand bleibt freilich doch: Angesichts des ambitionierten und gerade in den schwierigen Momenten souverän eingelösten Anspruchs, den dieses Ballett stellt, verwundert die formal arg konventionelle Anlage, die allzu brav Nummer an Nummer reiht.

Szenenfoto kommt später

Finaler pas de deux: Der Tod und die Malerin

Die Faszination des Abends hängt sicher ganz entscheidend an der charismatischen Kusha Alexi, bis zur vorigen Spielzeit fest am Haus und jetzt als Gast für die Partie der Charlotte nach Gelsenkirchen zurück gekehrt: Eine (sehr attraktive) Tänzerin, die sich dem oft etwas uniformen Ballett-Schönheitsideal widersetzt und ungemein viel Persönlichkeit einbringt. Daneben hat es selbst der Tod, getanzt von Jonathan Ollivier, ziemlich schwer. Ein wenig unscheinbar bleibt Ayako Kikuchi als Stiefmutter Paulinka (zur Verdeutlichung der Geschichte und als Verknüpfung mit Charlotte Salomons künstlerischem Werk tragen alle Protagonisten immer wieder kurz riesige Masken, ausgeschnittene Köpfe, die Leben? Oder Theater? entnommen sind). Junior Demetre als Gesangslehrer und Gelegenheitsliebhaber (im Stück heißt er Daberlohn) bringt komödiantische Elemente ein. Sehr eindrucksvoll gelingen die kurzen Charakterstudien der Großeltern: Rita Duclos als hochpathologische Großmutter, Hugo Mercier als unheimlicher und gefährlicher Großvater. Valtteri Rauhalammi dirigiert umsichtig die klangschön aufspielende Neue Philharmonie Westfalen.


FAZIT
Bridget Breiner und ihr Gelsenkirchener Ballett im Revier gehen sensibel mit einem heiklen Thema um: Die Bildwelt Charlotte Salomons, Musik und Choreographie verbinden sich zu einem insgesamt sehr überzeugenden und spannenden Tanzabend.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Valtteri Rautalammi

Choreographie
Bridget Breiner

Ausstattung
Jürgen Kirner

Projektionen
Philipp Contag-Lada

Lichtdesign
Bonnie Beecher

Ballettmeister
Lynne Charles

Dramaturgie
Juliane Schunke


Neue Philharmonie Westfalen


Solisten

Charlotte
Kuscha Alexi

Der Tod
Jonathan Ollivier

Daberlohn
Junior Demitre

Paulinka
Ayako Kikuch

Tänzerinnen
Francesca Berruto
Nora Brown
Rita Duclos
Sara Zinna

Tänzer
Fabio Boccalatte
Ordep Rodriguez Chacon
Valentin Juteau
Hugo Mercier
José Urrutia

Sängerin
Anke Sieloff

Sänger (Männerquintett)
Lars-Oliver Rühl
Thomas Diestler
Michael Dahmen
Piotr Prochera
Joachim G. Maas




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