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Die Jüdin aus Reihe sechs
Von Joachim Lange
/ Fotos von Annemie Augustijns
Dass die Flämische Oper Fromental Halévys Jüdin aus dem Jahre 1835 in ihr Programm nimmt, ist ein Verdienst um die Pflege des unterbewerteten Genres Grand Opéra. Es ist hier aber auch ein Politikum. Die jüdischen Gemeinden in Antwerpen und in Gent, wo die erfolgreiche Zweistädteoper abwechselnd mit ihren Premieren herauskommt, sind wachsendem Antisemitismus ausgesetzt und das Wahnsinnsattentat von Brüssel sitzt allen noch in den Gliedern. So wird die Sorge um die Sicherheit diesmal schon vor der Oper demonstriert. Deutlich sichtbar mit bewaffneten Beamten, aber auch unsichtbar backstage.
Intendant Aviel Cahn hat heuer zu einer zweitätigen Konferenz über das "Judentum in der Musik" eingeladen, bei der die Europäische Musiktheater Akademie (Wien) zu den Mitveranstaltern und sowohl der Wiener Staatsoperndirektor Dominique Meyer, als auch sein Vorgänger Ioan Holender zu den Teilnehmern zählen. Letzterer wird mit Neil Shicoff diskutieren. Jossi Wieler, Barrie Kosky und Peter Konwitschny sollen über ihre Erfahrungen mit den einschlägigen Stücken sprechen. Shicoff hatte in Wien seinerzeit in der Jüdin als Eléazar triumphiert. Jetzt in Gent ist Roberto Sacca ein so ganz anderer Jude - sehr heutig, sehr wütend und kämpferisch. Doch er vermag es bei all seinem offen zur Schau gestellten vokalen Selbstbewusstsein in seiner großen Arie dem Publikum auch sehr nahe zu kommen. Vokal und rein physisch. Bei den Juden daheim sieht die Tafel aus wie das Abendmahl. Im Mittelpunkt dieser Geschichte aus dem Konstanz von 1414 steht Rachel, die als Jüdin aufgewachsene Christin, die sich verbotenerweise in einen Christen verliebt. Als der Scheiterhaufen brennt, enthüllt ihr Ziehvater Eléazar dem Kardinal, dass der gerade seine eigene, tot geglaubte Tochter ins Feuer geschickt hat. Regietheatermatador Peter Konwitschny (70), der in der DDR zu einem der aufregendsten Regisseur reifte und dann vor allem in Graz und Hamburg Maßstäbe setzende Inszenierungen ablieferte, ist nach seinem gescheiterten Leipziger Intermezzo als Chefregisseur längst wieder zu alter Hochform aufgelaufen. Natürlich zieht er all' die Register, mit denen er u.a. bei seinem Wiener Don Carlo Furore machte. Für die nüchterne Bühne beschränkt sich Ausstatter Johannes Leiacker auf fahrbare, selbstleuchtende Gittertürme und eine gewaltige Kirchenglasrosette im Hintergrund.
Konwitschny entlässt das Publikum aber nicht in die abgedunkelte Beschaulichkeit des Zuschauerraums, sondern rückt ihm auf die Pelle. Macht es zum Komplizen von Hohn und Spott. Und zum anteilnehmenden Nachbarn. Das funktioniert, weil sich bei ihm die Christen und die Juden durch nichts unterscheiden als die Farbe ihrer Hände. Bei den einen sind sie blau, bei den anderen gelb. Ansonsten lassen alle beim gleichen Schneider fertigen und tragen das Alltagsgrau genormter Anzüge. Es steht auch kein siebenarmiger Leuchter, sondern nur ein dreiarmige Allerweltskerzenständer bei den Juden daheim auf der Tafel, die eh wie ein Abendmahl aussieht. Da es Konwitschny meisterhaft gelingt, seine intensive Personenregie immer der Musik abzulauschen, trifft hier die angeschwipst in ihre Koloraturen torkelnde Prinzessin Eudoxie (garndios: Nicole Chevalier) natürlich auch die Kerze, auf die sie mit der Pistole schießt. Direkt und im übertragenen Sinne. Oder wenn Rachel mitten aus dem Zuschauerraum mit ihrem christlichen Verehrer Leopold (Randall Bills) um ihre Liebe kämpft, ist die in jeder Hinsicht fabelhafte Asmik Grigorian wirklich die Nachbarin aus Reihe 6. Verzweiflung pur: Rachel mit Sprengstoffgürtel
Konwitschnys Trick, dem Kampf der Fanatiker auf Leben und Tod so verblüffend nah zu kommen, besteht darin, dass er aus den Christen und Juden Menschen macht, die in den Mechanismen von Manipulation, Verachtung und Feindbilder befangen sind. Und zwar auf allen Seiten. Eléazar ist genauso intolerant, wie der Kardinal Brogni (Dmitry Ulyanov) um die Mäßigung seines Mobs bemüht ist. Wenn dann aber die beiden Frauen, die Leopold lieben, im Kerker beschließen, dass Rachel vor dem Tribunal alle "Schuld" am Bruch des Liebesverbotes über die Religionsgrenzen hinweg auf sich nimmt, um wenigstens ihn zu retten, dann entledigen sich beide ihrer verschiedenfarbigen Handschuhe und beginnen sich abzuklatschen, wie in einem unschuldigen Kinderspiel. Diese großen Bilder und kleinen Gesten einer Übersetzung ins Allgemeine machen den Abend zu großer Kunst, die genau ins Hier und Heute gehört. Besonders das erstklassige Ensemble, aber auch Tomás Netopil am Pult des Orchesters der Flämischen Oper sorgten dafür, dass der Abend zur packenden Szene auch die musikalische Schubkraft bekam.
In Gent ist Peter Konwitschny eine grandiose Inszenierung von Halevys La Juive gelungen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Ausstattung
Licht
Chor
Kostüme
Solisten
Rachel
Eléazar
Kardinal Brogni
Leopold
Prinzessin Eudoxie
Ruggiero
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