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Musiktheater
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Eugen Onegin

Lyrische Szenen in drei Akten
Libretto von Konstantin Schilowski und PeterTschaikowsky
nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin
Musik von Peter Tschaikowsky

in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden 50 Minuten  (eine Pause)

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 4. Juli 2015

 



Staatstheater Kassel
(Homepage)

Tatjanas Bücherwelt und ihre Überwindung

Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger

Mit der Neuinszenierung von Tschaikowskys Eugen Onegin schließt das Staatstheater Kassel diese Spielzeit mit einem Glanzpunkt ab. Regisseurin Lisa Marie Küssner gelingt  dabei insbesondere eine Personenregie, die bis ins Feinste ausgefeilt ist und dabei doch ganz lebendig, ja natürlich wirkt. Sie setzt den Fokus auf Tatjanas Leidenschaft für das Lesen, zeichnet sie als ein Mädchen, das mit, in und sogar auf ihren Büchern lebt und entsetzt und überfordert ist, wenn die Realität anders aussieht, als ihre romangeschürten Träume – aber auch als eine Frau, die diese Illusionen aktiv überwinden kann, indem sie selbst zur Schriftstellerin und Gestalterin wird, anstatt ihr Leben von fremden Romanfiguren beherrschen zu lassen. Tatjanas geradezu zur Manie gewordene Bücherliebe setzt Bühnenbildnerin Justyna Jaszczuk eindrucksvoll, aber nicht aufdringlich um, indem sie eine fast bühnenbreite, flache Spielfläche aus Büchern auf die Bühne stellt, deren Seiten von Papierbahnen begrenzt sind,  die im Laufe der ersten Szenen immer weiter in die Höhe gezogen werden. Kostümbildnerin Sabine Böing sorgt dafür, dass wir uns in der Jetztzeit wiederfinden.

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Olga (Ulrike Schneider), Filipjewna (Lona Culmer-Schellbach) und Larina (Inna Kalinina)

Zwischen der gutmütigen Amme Filipjewna, der lebenslustigen  Mutter Larina und ihrer der Mutter nacheifernden Schwester Olga, die aber eher als flippig wirken wollender Bauerntrampel gezeichnet ist, lebt Tatjana ein Außenseiterleben – von ihrer Mutter belächelt, von ihrer Schwester verspottet. Olga fotografiert alles und jeden mit ihrer Polaroid-Kamera (die Damen im letzten Bild sind fortschrittlicher und machen Selfies mit ihren Handys), sie tanzt mit einem Kopfhörer auf den Ohren und sieht alles als ein Spiel – auch die Blutsbrüderschaft, die sie mit Lenski schließt. Mit dem Blut aus ihrer Hand malt sie ein Herz mit „O+W“ – Olga und Wladimir – auf die Rückwand aus Papier. Lenski hat es nicht leicht mit ihr, zumal er eher wie ein unglücklicher Getriebener, ja von Anfang an schon als der Typ „ewiger Verlierer“ mit einem Hauch liebenswerter Trotteligkeit erscheint. Sein Freund Onegin ist ein Unsympath, der allenfalls eine dämonische Anziehungskraft ausüben kann. Das mag auch an seinem ständigen Begleiter Guillot liegen, einer androgynen Gestalt, die Kammerdiener, heimliche/r Liebhaber/in oder auch Onegins Alter Ego sein kann. Auf jeden Fall hält er/sie/es allgegenwärtig die Fäden in der Hand.

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Tatjana (Jaclyn Bermudez)

Auch in ihrem Schlafzimmer findet Tatjana Guillot wieder, der mit Überheblichkeit und Selbstsicherheit möglicherweise sein emotionales Territorium verteidigen will. Dennoch trotzt ihm Tatjana ein Polaroidfoto ab (Wer darauf abgebildet ist, kann man aber selbst aus der sechsten Parkettreihe nicht erkennen). Ihr Bett ist selbstverständlich aus Büchern gebaut, auf denen sie aber in dieser Nacht keine Ruhe findet. Tatjana schreibt den Brief an Onegin nicht wirklich, sie entwirft ihn im Selbstgespräch, schreibt Notizen an die Papierwände wie „E. O.“, „ Dein sein“, „Warum Du?“ „T + E, leben mit Dir“ oder „I love (=Herz) U“ – wobei sie in das „U“ ein Polaroidfoto  (von Onegin?) klebt. Zwischendurch hält sie ihre zusammengewickelte Decke wie ein Baby im Arm, was ihre Sehnsucht nach Ehe und Familie umso deutlicher werden lässt. Anstatt eines Briefes gibt sie ihrer Amme ein Foto (von sich?), das Onegin überbracht werden soll. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – und Onegin weiß ohnehin, worum es geht. Die Papierbahnen werden von hinten eingeschnitten, Köpfe der Choristinnen erscheinen und malen mit ihren Lippenstiften wirre Schlingungen aufs Papier. Tatjana beobachtet entsetzt, ja verzweifelt, wie ihre hehren emotionalen Ergüsse auf diese profane Weise nicht nur entweiht werden, sondern ihr auch ein ganzes Stück der Hoffnung rauben. Onegin erscheint als übergroßer Schatten auf dem papiernen Hintergrund und schreibt auf die Rückseite ein einziges egoistisches „ICH“ bevor er mit Guillot eintritt und ihr höflich, aber kaum mehr, erklärt, dass es nicht an ihr liegt, er für eine Beziehung nicht geschaffen sei usw.  – alles das, was man in solchen Situationen auch heute noch so sagt oder zu hören bekommt

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Maskenball zu Tatjanas Geburtstag

Tatjana sinkt zu Boden und bleibt allein zurück. Dann verschwimmen Fiktion und Realität: Tatjanas Kuschelbär nimmt lebendige Gestalt an, erscheint aber nicht als Tröster, sondern als Entführer in die Wirklichkeit, die sich als bunter Maskenball zu Tatjanas Geburtstag darstellt. Er tanzt mit dem Geburtstagskind, das sich, wie schon im ersten Bild, durchaus dem Vergnügen hingeben kann und dies mit sehr viel echterer Leidenschaft als Olga, die auch hier mehr gewollt als wirklich fröhlich erscheint.  Zu Monsieur Triquets Couplet steht Tatjana auf einem Podest, das (selbstverständlich) aus Büchern gebaut aus dem Bühnenboden aufgefahren wird. Eine herrliche Szene – besonders köstlich wenn der körpergewaltige, leidenschaftliche Dichter Tatjana seine Rosen singend erst einzeln überreicht und ihr dann den ganzen Reststrauß mit leidenschaftlichem Spitzenton an die Brust schlägt. Der Streit zwischen den beiden Freunden eskaliert zu einem südländischen Zweikampf, während dem Lenski Onegin mit einem Springmesser angreift, das er sich dann doch, mit seiner Selbsttötung drohend, an den Hals hält. Er reißt die inzwischen bühnenhohen Papierbahnen herunter und zertrümmert damit das ganze emotionale Konstrukt, das hier nicht auf tönernen Füßen steht, sondern an papiernen Bahnen hängt. Das Duell zur Ehrenrettung scheint unausweichlich und wirkt auch gar nicht antiquiert. Auf den Trümmern von Tatjanas Gefühlen, ganz bildhaft auf dem Müll der Papierbahnen und des Kostümfestes und auf dem Boden ihres Lebens, gräbt sich Lenski Bücher herausreißend sein Grab. Onegin unternimmt einen Versöhnungsversuch, dem Lenski ausweicht. Guillot wird zu Onegins Sekundanten, aber auch zur treibenden und bestimmenden Kraft wenn er Onegin zum Schießen zwingt, während Lenski mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugeht. Als Versöhnungsversuch, als bewusster Gang in den Tod? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen. Tatjana, wirft Lenski eine der Rosen ins Grab, die sie von Triquet erhalten hatte.

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Onegin (Marian Pop) und Lenski (Bassem Alkhouri)

Eine Pause und 16 Jahre später findet sich Onegin auf dem Ball des Fürsten Gremin wieder, doch die Polonaise wird für ihn zum von Guillot inszenierten Totentanz um Lenskis Grab, der in der Vision der Auferstehung des getöteten Freundes und einer Wiederholung des  Duells gipfelt, das die Züge einer Exekution annimmt. Während Onegin mit verbundenen Augen zusammenbricht, flieht der blutüberströmte Lenski. Eine Szene, die im krassen Gegensatz zur Musik steht, aber doch wirkungsvoll die anschließend von Onegin besungene Seelenverfassung illustriert. Vielleicht ist es aber auch der befreiende Albtraum, der Onegin erst die Möglichkeit gibt, sich für Tatjana zu öffnen. Vielleicht ist diese aufflammende Leidenschaft für sie aber auch nur seiner einsamen Verzweiflung geschuldet und dem Umstand, dass er ihren Wert erst schätzt, weil sie nun einem anderen gehört. Es fallen Blätter vom Bühnenhimmel, die Tatjana offensichtlich als den Brief an Onegin wieder erkennt (wobei sie den doch gar nicht wirklich zu Papier gebracht hatte…). Im Original hat sich Tatjana der Realität gefügt, ist brav mit einem alten gemütlichen Mann verheiratet, der über das Leben, die Welt und die liebreizende Tatjana ein schönes Liedchen singt – und sie bleibt standhaft und anständig, wenn Onegin sie nun doch haben will. Das  Regieteam hier arbeitet eine Ebene heraus, die intensiver und tiefer gehender ist: Tatjana hat sich  durch das Verfassen eines eigenen Romans aus ihrer fiktiven Welt befreit (und damit auch gleich einen Bestseller gelandet). So hat sie ihr Gefangensein in Träumen und Sehnsüchten überwunden und ist zu einer Frau gereift, die einen höchst attraktiven jungen Mann geheiratet hat, der ihren ganz besonderen Wert, den ihr ihr Weg verliehen hat, schätzt und als sein größtes Glück preist – im Gegensatz zur Schlechtigkeit der Welt, die er recht aggressiv besingt, während Tatjana im Hintergrund eine Signierstunde absolviert. Onegins Werben erinnert Tatjana nicht nur an eine alte unglückliche und demütigende Liebe, sondern bedroht sie auch mit dem Zurück in ihre alte Geisteswelt. Das, nicht Onegin, macht ihr Angst, sodass sie vor ihm in die Arme Gremins flieht, der zumindest den Schluss der Szene vom Zuschauerraum aus beobachtet hat und jetzt seine Arie eigentlich mit doppelter Überzeugung noch einmal singen könnte (was auch das Publikum sehr freuen würde). Guillot streckt ihm die Hand entgegen. Er hat ihn wieder. Selten hat man das Finale dieser Oper so unter die Haut gehend, so wahrhaftig und echt erlebt.

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Tatjana (Jaclyn Bermudez) und Gremin (Friedemann Röhlig)

Jaclyn Bermudez ist eine fantastische Tatjana. Ihr klangschöner Sopran gleitet bruchlos durch alle Register, bedient sich farbenreicher Interpretationsvarianten und lässt keine Wünsche offen. Auch szenisch kann diese Sängerdarstellerin mit intensiver, aber nie überzogener, sondern ganz natürlich wirkender Ausdruckskraft bezaubern und erweist sich als echter Glückfall für diese Partie. Als ihre Mutter Larina lässt Inna Kalinina mit klangvollem, tragfähigem Mezzo aufhorchen. Ulrike Schneider singt die Olga hochkultiviert und mit edlem Stimmklang. Als Lenski lässt Bassem Alkhouri seinem höhensicheren, voluminösen Tenor leidenschaftlich freien Lauf. Marian Pop singt den Onegin zunächst mit Zurückhaltung,  läuft dann aber im Finale zu großer Form und nachhaltiger stimmlicher Präsenz auf. Friedemann Röhlig lässt seinen großen Bass üppig strömen und setzt die oben beschriebene Interpretation seiner großen Arie eindringlich und überzeugend um. Ovidiu Weinschenk, ein Urgestein des Kasseler Opernchores, der auch regelmäßig im Bayreuther Festspielchor unübersehbar ist, singt die erste Strophe des Triquet-Couplets mit vollstimmiger Leidenschaft und die zweite im zartesten Pianissimo. Herrlich! Wie schade, dass das Couplet nur zwei Strophen hat. Ruben Gazarian gelingt der Spagat zwischen leidenschaftlichen Klängen und feiner Detailarbeit. Kaum merklich zieht er das Publikum in den Sog dieser Musik, die den Hörer  mit subtilen Mitteln in ihrem Bann hält. Das Orchester folgt dem Dirigenten mit gleicher kultivierter Leidenschaft und Konzentration, sodass man ihm weniger zu verzeihen hatte, als man bei der großen Hitze durchaus gewillt gewesen wäre. Prachtvoll und ausgewogen klingen Chor und Extrachor.

FAZIT

Eine überzeugende, konsequente und nachvollziehbare szenische Interpretation, die mit exzellenter Personenregie die Figuren lebendig werden lässt und zusätzliche, aber nicht gewaltsam aufgepfropfte Interpretationsaspekte ermöglicht. Auch gesanglich sind Tatjana und Gremin das glücklichste Paar des Premierenabends.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
*Ruben Gazarian /
Anja Bihlmaier /
Xin Tan

Inszenierung
Lisa Marie Küssner

Bühne
Justyna Jaszcuk

Kostüme
Sabine Böing

Licht
Brigitta Hüttmann

Chor
Marco Zeiser Celesti

Dramaturgie
Jürgen Otten

 

Staatsorchester Kassel

Opern- und Extrachor

Statisterie



Solisten

*Premierenbesetzung

Larina
Inna Kalinina

Tatjana
Jaclyn Bermudez

Olga
Ulrike Schneider

Filipjewna
Lona Culmer-Schellbach

Eugen Onegin
*Marian Pop /
Hansung Yoon

Lenski
*Bassem Alkhouri /
Tobias Hächler

Fürst Gremin
*Friedemann Röhlig /
Hee Saup Yoon

Triquet
Ovidiu Weinschenk

Ein Hauptmann
Michal Kuzma

Saretzkij
Abraham Singer

Guillot
*Tabea Götting /
Corinna Hartmann


Weitere
Informationen

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Staatstheater Kassel
(Homepage)



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