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Tatjanas Bücherwelt und ihre Überwindung
Von Bernd
Stopka /
Fotos von N. Klinger
Mit der
Neuinszenierung von Tschaikowskys Eugen
Onegin schließt
das Staatstheater Kassel diese Spielzeit mit einem Glanzpunkt ab.
Regisseurin
Lisa Marie Küssner gelingt dabei
insbesondere eine Personenregie, die bis ins Feinste ausgefeilt ist und
dabei
doch ganz lebendig, ja natürlich wirkt. Sie setzt den Fokus auf
Tatjanas
Leidenschaft für das Lesen, zeichnet sie als ein Mädchen, das
mit, in und sogar
auf ihren Büchern lebt und entsetzt und überfordert ist, wenn
die Realität
anders aussieht, als ihre romangeschürten Träume – aber auch
als eine Frau, die
diese Illusionen aktiv überwinden kann, indem sie selbst zur
Schriftstellerin und
Gestalterin wird, anstatt ihr Leben von fremden Romanfiguren
beherrschen zu
lassen. Tatjanas geradezu zur Manie gewordene Bücherliebe setzt
Bühnenbildnerin
Justyna Jaszczuk eindrucksvoll, aber nicht aufdringlich um, indem sie
eine
fast bühnenbreite, flache Spielfläche aus Büchern auf
die Bühne stellt, deren
Seiten von Papierbahnen begrenzt sind, die
im Laufe der ersten Szenen immer weiter in
die Höhe gezogen werden. Kostümbildnerin Sabine Böing
sorgt dafür, dass wir uns
in der Jetztzeit wiederfinden.
Olga (Ulrike Schneider), Filipjewna
(Lona Culmer-Schellbach) und Larina (Inna Kalinina)
Zwischen der gutmütigen Amme
Filipjewna, der
lebenslustigen Mutter Larina und ihrer
der Mutter nacheifernden Schwester Olga, die aber eher als flippig
wirken
wollender Bauerntrampel gezeichnet ist, lebt Tatjana ein
Außenseiterleben – von
ihrer Mutter belächelt, von ihrer Schwester verspottet. Olga
fotografiert alles
und jeden mit ihrer Polaroid-Kamera (die Damen im letzten Bild sind
fortschrittlicher und machen Selfies mit ihren Handys), sie tanzt mit
einem
Kopfhörer auf den Ohren und sieht alles als ein Spiel – auch die
Blutsbrüderschaft, die sie mit Lenski schließt. Mit dem Blut
aus ihrer Hand malt sie ein Herz mit „O+W“ – Olga und Wladimir – auf die
Rückwand aus Papier. Lenski
hat es nicht leicht mit ihr, zumal er eher wie ein unglücklicher
Getriebener,
ja von Anfang an schon als der Typ „ewiger Verlierer“ mit einem Hauch
liebenswerter Trotteligkeit erscheint. Sein Freund Onegin ist ein
Unsympath,
der allenfalls eine dämonische Anziehungskraft ausüben kann.
Das mag auch an
seinem ständigen Begleiter Guillot liegen, einer androgynen Gestalt, die
Kammerdiener, heimliche/r Liebhaber/in oder auch Onegins Alter Ego sein kann.
Auf jeden Fall hält er/sie/es allgegenwärtig die Fäden in der Hand.
Auch in ihrem Schlafzimmer
findet Tatjana Guillot wieder,
der mit Überheblichkeit und Selbstsicherheit möglicherweise
sein emotionales
Territorium verteidigen will. Dennoch trotzt ihm Tatjana ein
Polaroidfoto ab
(Wer darauf abgebildet ist, kann man aber selbst aus der sechsten
Parkettreihe
nicht erkennen). Ihr Bett ist selbstverständlich aus Büchern
gebaut, auf
denen sie aber in dieser Nacht keine Ruhe findet. Tatjana schreibt den
Brief an
Onegin nicht wirklich, sie entwirft ihn im Selbstgespräch,
schreibt Notizen an
die Papierwände wie „E. O.“, „ Dein sein“, „Warum Du?“ „T + E, leben
mit Dir“ oder
„I love (=Herz) U“ – wobei sie in das „U“ ein Polaroidfoto
(von Onegin?) klebt. Zwischendurch hält sie
ihre zusammengewickelte Decke wie ein Baby im Arm, was ihre Sehnsucht
nach Ehe
und Familie umso deutlicher werden lässt. Anstatt eines Briefes
gibt sie ihrer
Amme ein Foto (von sich?), das Onegin überbracht werden soll. Ein
Bild sagt
mehr als tausend Worte – und Onegin weiß ohnehin, worum es geht.
Die Papierbahnen werden von hinten eingeschnitten, Köpfe der
Choristinnen erscheinen und malen mit ihren Lippenstiften wirre
Schlingungen
aufs Papier. Tatjana beobachtet entsetzt, ja verzweifelt, wie ihre
hehren
emotionalen Ergüsse auf diese profane Weise nicht nur entweiht
werden, sondern
ihr auch ein ganzes Stück der Hoffnung rauben. Onegin erscheint
als übergroßer Schatten auf dem papiernen
Hintergrund und schreibt auf die Rückseite ein einziges
egoistisches „ICH“
bevor er mit Guillot eintritt und ihr höflich, aber kaum mehr, erklärt, dass es
nicht an ihr liegt, er für eine Beziehung nicht geschaffen sei usw. –
alles das, was man in solchen Situationen auch heute noch so sagt oder zu hören
bekommt
Maskenball zu Tatjanas Geburtstag
Tatjana sinkt zu Boden und
bleibt allein zurück. Dann
verschwimmen Fiktion und Realität: Tatjanas Kuschelbär nimmt
lebendige Gestalt an, erscheint aber nicht als
Tröster, sondern als Entführer in die Wirklichkeit, die sich
als bunter Maskenball
zu Tatjanas Geburtstag darstellt. Er tanzt mit dem Geburtstagskind, das
sich,
wie schon im ersten Bild, durchaus dem Vergnügen hingeben kann und
dies mit sehr
viel echterer Leidenschaft als Olga, die auch hier mehr gewollt als
wirklich
fröhlich erscheint. Zu Monsieur
Triquets
Couplet steht Tatjana auf einem Podest, das (selbstverständlich)
aus Büchern
gebaut aus dem Bühnenboden aufgefahren wird. Eine herrliche Szene
– besonders
köstlich wenn der körpergewaltige, leidenschaftliche Dichter
Tatjana seine Rosen
singend erst einzeln überreicht und ihr dann den ganzen
Reststrauß mit
leidenschaftlichem Spitzenton an die Brust schlägt.
Der Streit zwischen den beiden Freunden eskaliert zu einem
südländischen
Zweikampf, während dem Lenski Onegin mit einem Springmesser
angreift, das er
sich dann doch, mit seiner Selbsttötung drohend, an den Hals
hält. Er reißt die
inzwischen bühnenhohen Papierbahnen herunter und zertrümmert
damit das ganze
emotionale Konstrukt, das hier nicht auf tönernen Füßen
steht, sondern an
papiernen Bahnen hängt. Das Duell zur Ehrenrettung scheint
unausweichlich und
wirkt auch gar nicht antiquiert.
Auf den Trümmern von Tatjanas Gefühlen, ganz bildhaft auf
dem Müll der Papierbahnen und des Kostümfestes und auf dem
Boden ihres Lebens, gräbt sich Lenski Bücher
herausreißend sein Grab. Onegin unternimmt einen
Versöhnungsversuch, dem Lenski
ausweicht. Guillot wird zu Onegins Sekundanten, aber auch zur
treibenden und
bestimmenden Kraft wenn er Onegin zum Schießen zwingt,
während Lenski mit
ausgebreiteten Armen auf ihn zugeht. Als Versöhnungsversuch, als
bewusster Gang
in den Tod? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen.
Tatjana, wirft
Lenski eine der Rosen ins Grab, die sie von Triquet erhalten hatte.
Onegin
(Marian Pop) und Lenski (Bassem Alkhouri)
Eine Pause und
16 Jahre später findet sich Onegin auf dem
Ball des Fürsten Gremin wieder, doch die Polonaise wird für
ihn zum von Guillot
inszenierten Totentanz um Lenskis Grab, der in der Vision der
Auferstehung des
getöteten Freundes und einer Wiederholung des
Duells gipfelt, das die Züge einer Exekution annimmt.
Während Onegin mit
verbundenen Augen zusammenbricht, flieht der blutüberströmte
Lenski. Eine Szene,
die im krassen Gegensatz zur Musik steht, aber doch wirkungsvoll die
anschließend von Onegin besungene Seelenverfassung illustriert.
Vielleicht ist
es aber auch der befreiende Albtraum, der Onegin erst die
Möglichkeit gibt,
sich für Tatjana zu öffnen. Vielleicht ist diese aufflammende
Leidenschaft für
sie aber auch nur seiner einsamen Verzweiflung geschuldet und dem
Umstand, dass
er ihren Wert erst schätzt, weil sie nun einem anderen
gehört.
Es fallen Blätter vom Bühnenhimmel, die Tatjana
offensichtlich als den Brief an Onegin wieder erkennt (wobei sie den
doch gar
nicht wirklich zu Papier gebracht hatte…). Im Original hat sich Tatjana
der
Realität gefügt, ist brav mit einem alten gemütlichen
Mann verheiratet, der
über das Leben, die Welt und die liebreizende Tatjana ein
schönes Liedchen
singt – und sie bleibt standhaft und anständig, wenn Onegin sie
nun doch haben
will. Das Regieteam hier arbeitet eine
Ebene heraus, die intensiver und tiefer gehender ist: Tatjana hat
sich durch das Verfassen eines eigenen Romans aus ihrer
fiktiven Welt befreit (und damit auch gleich einen Bestseller
gelandet). So hat sie ihr Gefangensein in Träumen und
Sehnsüchten
überwunden und ist zu einer Frau gereift, die einen höchst
attraktiven jungen
Mann geheiratet hat, der ihren ganz besonderen Wert, den ihr ihr Weg
verliehen
hat, schätzt und als sein größtes Glück preist –
im Gegensatz zur
Schlechtigkeit der Welt, die er recht aggressiv besingt, während
Tatjana im
Hintergrund eine Signierstunde absolviert.
Onegins Werben erinnert Tatjana nicht nur an eine alte
unglückliche und demütigende Liebe, sondern bedroht sie auch
mit dem Zurück in ihre
alte Geisteswelt. Das, nicht Onegin, macht ihr Angst, sodass sie vor
ihm in
die Arme Gremins flieht, der zumindest den Schluss der Szene vom
Zuschauerraum
aus beobachtet hat und jetzt seine Arie eigentlich mit doppelter
Überzeugung noch
einmal singen könnte (was auch das Publikum sehr freuen
würde). Guillot streckt ihm die Hand entgegen. Er hat ihn wieder. Selten
hat man das Finale dieser Oper so unter die Haut gehend, so wahrhaftig und echt
erlebt.
Jaclyn Bermudez
ist eine fantastische Tatjana. Ihr
klangschöner Sopran gleitet bruchlos durch alle Register, bedient
sich
farbenreicher Interpretationsvarianten und lässt keine
Wünsche offen. Auch
szenisch kann diese Sängerdarstellerin mit intensiver, aber nie
überzogener,
sondern ganz natürlich wirkender Ausdruckskraft bezaubern und
erweist sich als
echter Glückfall für diese Partie. Als ihre Mutter Larina
lässt Inna Kalinina
mit klangvollem, tragfähigem Mezzo aufhorchen. Ulrike Schneider
singt die Olga hochkultiviert
und mit edlem Stimmklang. Als Lenski lässt Bassem Alkhouri seinem
höhensicheren, voluminösen
Tenor leidenschaftlich freien Lauf. Marian Pop singt den Onegin
zunächst mit
Zurückhaltung, läuft dann aber im Finale zu
großer Form und nachhaltiger
stimmlicher Präsenz auf. Friedemann Röhlig lässt seinen
großen Bass üppig
strömen und setzt die oben beschriebene Interpretation seiner
großen Arie
eindringlich und überzeugend um. Ovidiu Weinschenk, ein Urgestein
des Kasseler Opernchores,
der auch regelmäßig im Bayreuther Festspielchor
unübersehbar ist, singt die
erste Strophe des Triquet-Couplets mit vollstimmiger Leidenschaft und
die zweite
im zartesten Pianissimo. Herrlich! Wie schade, dass das Couplet nur
zwei
Strophen hat.
Ruben Gazarian gelingt der Spagat zwischen
leidenschaftlichen Klängen und feiner Detailarbeit. Kaum merklich
zieht er das
Publikum in den Sog dieser Musik, die den Hörer mit
subtilen Mitteln in ihrem Bann hält. Das Orchester
folgt dem Dirigenten mit gleicher kultivierter Leidenschaft und
Konzentration,
sodass man ihm weniger zu verzeihen hatte, als man bei der großen
Hitze
durchaus gewillt gewesen wäre. Prachtvoll und ausgewogen klingen
Chor und
Extrachor. Eine überzeugende, konsequente und nachvollziehbare szenische Interpretation, die mit exzellenter Personenregie die Figuren lebendig werden lässt und zusätzliche, aber nicht gewaltsam aufgepfropfte Interpretationsaspekte ermöglicht. Auch gesanglich sind Tatjana und Gremin das glücklichste Paar des Premierenabends. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
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