Wenn die Zitternadel zum Maschinengewehr wird
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg
Immer mal wieder kramt das Theater Osnabrück in der
Sparte Musiktheater seltene Werke aus, richtet sein
Augenmerk auf quasi in Vergessenheit geratene
Komponisten. In der Spielzeit 2014/15 ist es Soldaten,
die 1930 in Düsseldorf uraufgeführte, dritte
Oper des 1890 geborenen Manfred Gurlitt - dargeboten
in einer mit Videodokumenten angereicherten, satirisch
zugespitzten, provokanten und nachdenklich stimmenden
Inszenierung von Florian Lutz, deren Aktualität gerade durch
die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit kaum zu überbieten
ist. Am 7. Februar sendet Deutschlandradio Kultur den
Premierenmitschnitt. Schade, dass die Bilder des Regieteams im
Radio nicht übertragen werden können. So nimmt man auch dem
ursprünglichen Werk seine antimilitaristische,
gesellschaftskritische Wirkung.
Soldaten erinnert an die Wozzek-Thematik,
an die Militarisierung der Gesellschaft zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte
der attraktiven, nach Höherem strebenden
Bürgertochter Marie. Obwohl mit dem Tuchhändler
Stolzius verlobt, flirtet sie – mit dem
Einverständnis ihrer Eltern - mit dem in
militärischen Diensten stehenden Baron Desportes.
Dieser macht sich ihre sexuelle Naivität und Neugier
rücksichtslos und standesgemäß zunutze, entzieht
sich jedoch einer engeren Bindung und der Einlösung
seines Heiratsversprechens. Die enttäuschte und
verletzte Marie versucht vergeblich, sich weiter
nach oben zu schlafen. Von der vergnügungssüchtigen
Soldatengesellschaft verstoßen, endet sie
schließlich auf der Straße, während der sie nach wie
vor liebende Stolzius Rache nimmt, Desportes
vergiftet und sich selbst das Leben nimmt.
1. Akt, 4. Szene: Abendessen
bei Weseners. Der Streit beginnt.
vorne: Susann Vent-Wunderlich (Marie), Erika
Simons (Charlotte); hinten: José Gallisa (Herr
Wesener), Almerija Delic (Frau Wesener)
In Florian Lutz’ aktualisierender
Regieinterpretation stirbt der hasserfüllte Rächer Stolzius nicht. Aufrecht und anklagend blickt er ins
Publikum. Und nicht nur bei seinen Schlussworten
„Gott wird mich nicht verdammen“ werden
Assoziationen an die Terrormilizen und
Selbstmordattentäter unserer Zeit wach, deren
Gewaltbereitschaft Menschen auf der ganzen Welt in
Angst und Schrecken versetzen. Vater Wesener ist im
internationalen Waffenhandel tätig. Tochter Marie
lässt sich anstelle der Zitternadel mit dem Geschenk
einer Maschinenpistole verführen. Die
Kaffeehaus-Szene verwandelt sich in einen
Schützengraben, in dem auch grausame, aus Guantanamo
bekannte Folterszenen vor Augen geführt werden.
Zugleich spitzt Regisseur Lutz die Geschichte
satirisch auf bundesdeutsche Verhältnisse zu, wenn
gegen Ende des zweiten Aktes nicht eine neue Figur,
die Gräfin, die Bühne betritt, sondern die ebenso
zur Überbehütung neigende Mutter von Stolzius, die
sich zudem als Karikatur der bundesdeutschen
Verteidigungsministerin und siebenfachen Mutter
erweist. Machthungrig und selbstverliebt sonnt sie
sich im Lichte der Medien konterkariert von Conchita
Wurst, den Von-Der-Leyens und um Asyl bettelnden
Flüchtlingsfamilien. Und während im Video die
Bundeswehr mit attraktiven Berufskarrieren wirbt,
üben die Soldaten zwischen Kriegseinsatz und
Heimaturlaub das Füttern und Windelnwechseln. Auch
der einflussreiche Wesener nutzt die
sensationshungrigen Medien, wenn er in der
vorletzten Szene seine Tochter in die Arme schließt.
Zusammengehalten wird dieser aufwühlende,
assoziations- und bilderreiche Rundumschlag aus
Bühnengeschehen und Videocollage von dem wunderbar
mobilen Bühnenbild Sebastian Hannaks. Bühnenhohe,
mit feinen Netzlinien versehene, ansonsten
schmucklos weiße Wände schaffen immer neue
Raumperspektiven und Spielräume. Der Einsatz der
Drehbühne sorgt zusätzlich für einen nicht
abreißenden Spannungsbogen.
2. Akt, 2.
Szene: Stolzius mutiert vom braven
Muttersohn zum hasserfüllten Rächer.
Jan Friedrich Eggers (Stolzius)
Musikalisch liefen Chor, das ausgesprochen
textverständlich singende Solistenensemble und das
Osnabrücker Sinfonieorchester an diesem
Premierenabend zur Hochform auf. Allen voran Susan
Vent-Wunderlich, die die Rolle der Marie anrührend
gestaltet und die oft rezitativisch wirkende
Gesangslinie zu einer gebundenen und
textverständlichen Melodie zu formen versteht.
Klangvoll vereint sie sich im Streit-Terzett mit
Erika Simons als Charlotte und Almerija Delic als
Mutter Wesener. José Gallisas wohltimbrierter
Bariton bildet stimmlich den Kontrapunkt in der
Familie. Jan Friedrich Eggers verkörpert mit
schlanker, fast vibratoloser Stimme einen kühlen,
nüchtern die Rache kalkulierenden Stolzius. Joselyn
Rechter überzeugt als energische Mutter von Stolzius
ebenso wie als standesbewusste, dramatisch
erschütternde Gräfin, Per-Hakan Precht als
gewissenloser Desportes.
Ob im frischen, flotten Marschrhythmus, vielstimmig
flirrend oder kammermusikalisch pathetisch und
getragen, Andreas Hotz setzt die Stil- und
Ausdrucksvielfalt Gurlitts mit viel Liebe zu
differenzierten Tempi und Ausdrucksgestaltung in
Szene. Wunderbar z.B. das musikalisch von
zahlreichen Farbvarianten durchzogene Abendessen bei
Weseners im spritzigen Allegro giocoso oder die
Streit-Terzett-Szene, in die sich Trompetensignale
und Fanfarenmotive mischen, um sich sodann, bei
Maries Gedanken an Stolzius, in ein wehmütiges
Bratschensolo zu verwandeln.
FAZIT
Eine gelungene, nachdenklich stimmende,
assoziationsreiche Inszenierung, in der Bühnenbild und
Videokunst zum integrierten Bestandteil des Bühnengeschehens
und der Musikdarbietung werden