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Vertreibung aus dem Paradies
Von Stefan Schmöe / Fotos: Oliver Look
Ein Kinderstück? Irgendwie schon: Gleich zu Beginn räkeln sich zwei Tänzerinnen wie Säuglinge auf dem Rücken, und den ganzen Abend hindurch krabbelt ein Tänzer mit überdimensionierter Windel über die Bühne. Irgendwann liest die unvergleichliche Mechthild Grossmann dem Ensemble aus dem Kinderbuch Bambi vor. Und, durch einen halbdurchsichtigen Vorhang vor voyeuristischen Blicken geschützt, tollen alle in kindlich-unschuldiger Nacktheit herum. Es geht ziemlich unbeschwert zu in Danzón. Als das Stück 1995 uraufgeführt wurde, wie üblich zunächst titellos, war mancher hartgesottene Bausch-Fan leise enttäuscht: Es fehlt das abgründig Verzweifelte, das die Bausch-Werke der 70er- und 80er-Jahre prägte, die hysterische Kehrseite. Stattdessen hübsch anzusehende, gefällig arrangierte, humorvolle Spielereien, und dazu ein ästhetischer Mehrwert, gegen den Pina Bausch doch früher anchoreographiert hatte. Statt eines Bühnenbilds immer wieder Dia-Einblendungen auf Zwischenvorhänge, die den ansonsten leeren Raum nach Bedarf wirkungsvoll gliedern: Kirschblüten, Urwald, eine imposante Felslandschaft - eine Ansammlung von Urlaubsparadiesen, scheinbar ungebrochen. Und hin und wieder wird sogar richtig getanzt. Sprechszenen gibt es zwar auch (hinreißend komisch Dominique Mercy als alte Dame aus dem Publikum, die vermeintlich unvorbereitet auf die Bühne gebeten wird und sichtlich Gefallen daran findet - und natürlich auch die Großmann: "Ich bin die Tante Mechthild"), aber die nehmen weniger Raum und weniger Gewicht ein als in den früheren Stücken. Die Rebellion gegen das etablierte Ballett-Theater scheint abgeschlossen. Hier lernt man richtiges KüssenBei alledem verblüfft Danzón durch eine innere Dramaturgie, beinahe eine Art "Handlung", wie in keinem anderen Bausch-Tanzabend, sieht man von den frühen Stücken ab. Das Paradies ist nämlich kein beständiges. "Die zwei blauen Augen von meinem Schatz, die haben mich in die weite Welt geschickt": Das letzte der Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler markiert einen Bruch. Es vertreibt die verspielten Tänzerinnen und Tänzer aus ihren Kindheitsparadiesen. Danach betritt Dominique Mercy die Bühne und verstreut Erde, und auch wenn man mit Deutungen und Symbolen bei Pina Bausch immer extrem vorsichtig sein muss, ist der Bedeutungsgehalt hier unübersehbar: Ein Begräbniszeremoniell, das neben die Kindlichkeit die Sterblichkeit setzt. Von da an ist nichts mehr wie zuvor. Danzón ist aber vor allem in Erinnerung geblieben, weil seinerzeit völlig unvermittelt Pina Bausch höchstpersönlich (die ansonsten nur in Café Müller selbst zu sehen war) die Bühne betrat und zu tanzen begann, fast nur den Oberkörper und die Arme bewegend, während hinter ihr Filmaufnahmen aus Aquarien eingeblendet wurden - das berühmte Szenenfoto von damals ziert auch das aktuelle Programmheft. Kaum vorstellbar, wie diese Szene bei einer Neueinstudierung nach dem Tod der Choreographin noch "funktionieren" könne - und doch gelingt dies verblüffend gut: Ale Čuček, ganz in Schwarz gekleidet mit weiten Hosen und androgyn in der Erscheinung, er tanzt die Szene nicht einfach nach (das tut er auch, und er trifft, bis in Pina Bauschs unvergesslich melancholisches leises Winken beim Verlassen der Bühne, den Gestus hinreißend genau), aber weil die Szene von einem Mann und nicht einer Frau getanzt wird, liegt ein winziges Moment der Brechung darin, der Distanz schafft. Ale Čuček in der legendären Szene, die Pina Bausch einst höchstpersönlich tanzte
Natürlich ist das Ensemble, in Teilen identisch mit dem der Uraufführung, gealtert (das Publikum auch), was der Thematik gar nicht schlecht bekommt. Danzón ist, von kurzen Momenten abgesehen, keines der besonders athletischen und dynamischen Stücke (getanzt wird ungeachtet dessen auf exzellentem Niveau), im Charakter eher leise und unaufgeregt und mit weniger als zwei Stunden Spieldauer (ohne Pause) recht kompakt. Wenn Mechthild Großmann am Ende vorträgt, wie der alte Goethe kurz vor seinem Tod noch einmal zu jener Waldhütte hinauf steigt, in der er seinerzeit "Über allen Wipfeln ist Ruh'" niederschrieb, dann ist das ein großer Abschied. Und die Kindheit ganz weit weg.
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