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Flüchtlingsproblematik als Leidensweg Christi
Dass Oratorien szenisch auf der Opernbühne aufgeführt werden,
kennt man heutzutage hauptsächlich von den Werken Georg Friedrich Händels. Seine
Vertonungen alttestamentarischer oder auch mythologischer Texte weisen eine so
dramatische Struktur auf, dass man ihnen durchaus einen opernhaften Charakter
bescheinigen kann. Dies soll auch für die Johannes-Passion von Johann
Sebastian Bach gelten, die erstmals am Karfreitag 1724 in der Nikolaikirche
Leipzig zur Aufführung gelangte und in den folgenden Jahren noch dreimal von
Bach überarbeitet wurde. Während beispielsweise das Ballett Schindowski dieses
Werk vor knapp 20 Jahren in Gelsenkirchen vertanzte und in Salzburg vor fünf
Jahren bei den Osterfestspielen ein szenischer Ansatz gewählt wurde, hat
man sich nun auch in Wuppertal entschieden, zum Ende einer Spielzeit, die vom
absoluten Standardrepertoire geprägt war, mit der szenischen Aufführung dieses
neben Bachs Matthäus-Passion berühmtesten Chorwerkes etwas
Außergewöhnliches zu präsentieren. Da es keine vollständig erhaltene Partitur
gibt, hat Jörg Halubek, der musikalische Leiter, aus den vier unvollständig
erhaltenen Varianten eine eigene Fassung erstellt. Das Volk (Opernchor) ist über
die Ankunft der Fremden (vorne von links: Peter Paul, Lucie Ceralová, Johannes
Grau und Laura Demjan) nicht glücklich. Die Geschichte basiert auf der Überlieferung im
Johannes-Evangelium und beschreibt den Leidensweg Christi in zwei Teilen, die
sich grob in fünf Akte unterteilen lassen. Der erste Teil beginnt mit dem Verrat
und der Gefangennahme Jesus, die bei Bach relativ kurz abgehandelt wird. So wird
auf den berühmten Judas-Kuss verzichtet. Stattdessen liefert sich Jesus den
Hohepriestern selbst aus. Etwas mehr Raum wird dann Petrus gegeben, der im
Anschluss Jesus dreimal verleugnet. Der zweite Teil schildert dann das Verhör
und die Verurteilung durch Pontius Pilatus, Jesus' anschließende Kreuzigung und
sein Begräbnis, wobei der Bericht des Evangelisten, der in Rezitativen erfolgt,
durch Choräle und Arien angereichert wird und für die Choräle meist bekannte
Kirchentexte verwendet worden sind, während die Arien von unterschiedlichen
Verfassern stammen, die wahrscheinlich den jeweiligen Erfordernissen der
damaligen Aufführungen angepasst wurden. Das Volk (Opernchor) setzt
Pilatus (Peter Paul, vorne Mitte) unter Druck. Philipp Harnoncourt entscheidet sich in seiner Inszenierung,
die Handlung in die Gegenwart zu verlegen. So lässt er Jesus als Figur nicht
auftreten, sondern verbindet stattdessen seinen Leidensweg mit den Erlebnissen
heutiger Asylanten. Deshalb hat er Flüchtlinge, Migranten und ihre Angehörige
als Statisten ins Spiel einbezogen, die ihre Erfahrungen eingebracht haben und
somit Parallelen zur damaligen Geschichte herstellen. Wenn im Text
beispielsweise davon die Rede ist, dass Jesus unter Folter zu einem Bekenntnis
gezwungen werden soll, werden vier Männer zunächst mit Stöcken geschlagen,
während auf einer weißen Plane im Hintergrund rote Farbe das vergossene Blut
versinnbildlicht. Wenn die Männer dann noch mit einer Schweinsnase und Schildern
ausgestattet werden, die sie als "Scheinasylanten", "Drogendealer" oder
"Integrationsverweigerer" abstempeln, erinnert diese Szene in schrecklichen
Bildern an aktuell aufgedeckte Verhörmethoden. Teilweise werden dabei auch
einzelne Sätze, die im Oratorium Jesus zugeordnet sind, von diesen Statisten
gesprochen. Der Chor schlüpft dabei in verschiedene Rollen. Zum einen übernehmen
einzelne Choristen kleine Solo-Partien, zum anderen stellen sie in modernen
Kostümen von Wilfried Buchholz eine bedrohliche Masse dar, die den Flüchtlingen
gegenüber auch aufgrund eigener Existenzängste eine feindliche Haltung
einnehmen. Das Volk (Opernchor) fordert
die Verurteilung (vorne links: Peter Paul als Pilatus, vorne Mitte: Statisten). Auf der Bühne, für die ebenfalls Buchholz verantwortlich
zeichnet, steht ein riesiger dreckiger Sandkasten, den der Chor als eigenen
Lebensraum behalten will. Darin befindet sich ein von Planen umgebener Raum, der
vor der Videoprojektion einer zerbombten Stadt gewissermaßen ein Refugium
darstellt, das dann aber von einer herabgelassenen Wand zerstört wird. Wenn dann
nach der Kreuzigung auf diese Wand in großen schwarzen Lettern "GOTT IST TODT.
WIR HABEN IHN GETÖDTET" geschrieben wird, lässt sich dies in zweifacher Hinsicht
deuten. Zum einen mag hier auf das berühmte Nietzsche-Zitat aus Also sprach
Zarathustra angespielt werden, zum anderen irritiert aber auch die
Rechtschreibung. Ist hier neben dem Adjektiv "tot" auch das Substantiv "Tod"
gemeint, das die göttliche Existenz nicht in Frage stellt, sondern die
Glaubenskriege anspricht, die in Gottes Namen geführt werden und für viele
Menschen den Tod bedeuten? Die hochgefahrene Bühne, auf der Pilatus sein Verhör
durchführt, passt jedenfalls als "Folterkammer" genau in dieses Bild. Unklar
hingegen bleibt das Ende, wenn der Chor und die Solisten gemeinsam mit den
Statisten Tische auf die Bühne stellen und sich in Kleingruppen zum gemeinsamen
Mahl versammeln. Soll damit ein Hoffnungsschimmer am Ende des Abends gegeben
werden? Als Ausweg wird jedenfalls nach dem ersten Teil, wenn in der Kirche
normalerweise die Predigt folgt, eine Rede eingefügt, in der Roland Stolte als
Referent das in Berlin auf dem Petriplatz geplante "House of One" als Vorbild
für ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen anpreist.
Dort errichten nämlich Christen, Juden und Muslime ein gemeinsames Welthaus als
Symbol des friedlichen Dialogs. Ob dieser "Werbeblock" allerdings vor der Pause
richtig positioniert ist oder ob man ihn doch eher hätte ans Ende stellen
sollen, ist diskutabel. Bei allem Informationsgehalt, den Stoltes Rede enthält,
stellt sie doch in der Musik einen Bruch dar, an den sich das anschließende
Verhör und die Kreuzigung nicht logisch anschließt. Leichenschmaus (vorne links:
Laura Demjan, hinten rechts: Johannes Grau und Jan Szurgot, am Tisch: Mitglieder
des Opernchors und Statisten) Musikalisch kommt dem von Jens Bingert einstudierten
Wuppertaler Opernchor in dieser Produktion neben dem Sinfonieorchester Wuppertal
die bedeutendste Funktion zu. Wirkt der Chor beim Auftrittschoral "Herr, unser
Herrscher, dessen Ruhm" noch etwas leise, steigert er sich im Laufe des Abends
und überzeugt vor allem im zweiten Teil als bedrohliche Masse und aufgeregter
Mob, der Pilatus dazu bringt, gegen seine eigenen Überzeugungen zu handeln. Jörg
Halubek lotet mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die vielschichtige Partitur
differenziert aus und sorgt für musikalischen Hochgenuss. Die Solisten können da
teilweise leider nicht ganz mithalten. Laura Demjans Sopran gelingt es nicht
immer, sich gegen das Orchester durchzusetzen, und wirkt bei aller
Jugendlichkeit noch ein wenig zu klein für die Partie. Emilio Pons verfügt als
Evangelist über eine weiche Mittellage, stößt in den Rezitativen in den Höhen
allerdings manchmal an seine Grenzen. Gleiches gilt für Johannes Grau, der unter
anderem in die Rolle des Petrus schlüpft. Überzeugen kann hingegen Peter Paul
als Pilatus mit kräftigem Bass. Auch Falko Hönisch und Jan Szurgot gefallen mit
dunklem Bass. Lucie Ceralová verfügt über einen warmen Mezzo, der im Volumen
noch ausbaufähig ist. Dennoch werden alle mit frenetischem Applaus gefeiert.
Vielleicht will das Wuppertaler Publikum seine Dankbarkeit darüber zum Ausdruck
bringen, dass auch einmal etwas Ungewöhnliches auf dem Spielplan steht.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie und Licht Bühne und Kostüme Chor
Sinfonieorchester Wuppertal Opernchor der Statisterie SolistenSopran Alt
Tenor / Evangelist
Tenor
Bass
Bass / Pilatus
Bass
Referent
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- Fine -