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Peter Grimes

Oper in einem Prolog und drei Akten (1945)
Libretto von Montagu Slater nach der Verserzählung The Borough (1810) von George Crabbe
Musik von Benjamin Britten


in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Dortmund am 9 April 2016
(rezensierte Aufführung: 24. April 2016)




Theater Dortmund
(Homepage)

Tragödie ohne Meeresblick

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thomas Jauk / Stages Pictures GmbH

Die Indizienlage ist eindeutig. Mag gemäß dem Libretto auch offen bleiben, wie die Schuld von Peter Grimes am Tod seines Lehrjungen ist – auch dessen Vorgänger starb unter ungeklärten Umständen – Regisseur Tilman Knabe schafft Fakten: Man sieht Grimes mit dem Messer vor dem erstochenen Jungen stehen, man sieht ihn den Leichnam einwickeln und auf dem Müllhaufen entsorgen. 1945 konnte Benjamin Britten beim tabuisierten Thema Kindesmissbrauch nur vage andeuten, was die Regie heute offen aussprechen darf und soll. „Pädo“ hat Peter Grimes blutrot auf der Brust stehen, „kill him“ auf dem Rücken. Schön ist das natürlich auch heute nicht auf der Opernbühne, aber zu den „Unfällen“ im Stück muss ein Regisseur eindeutig Stellung beziehen, ein bisschen Mitgefühl für den psychopathischen Täter eingeschlossen.

Szenenfoto

Noch gibt es die Hoffnung auf ein bisschen gemeinsames bürgerliches Glück: Ellen Orford und Peter Grimes

Soweit die oberflächliche Lesart dieser tatsächlich sehr viel raffinierteren Inszenierung. Die verklausulierte, eben nicht eindeutige Erzählweise setzt Tilman Knabe auf anderer Ebene fort. Sein Peter Grimes tritt immer wieder aus der Geschichte heraus, und es ist nicht der Sänger selbst, der besagte Schriftzüge auf dem Körper trägt, sondern ein Double. Vielleicht passiert die ganze Geschichte nur in der Phantasie dieses Peter Grimes, vielleicht sind das nur Wahnbilder, die der unterdrückten und unbedingt zu unterdrückenden Sexualität entspringen. Die Blutspuren, die Grimes nach dem – eingebildeten? - Mord auf der Stirn trägt, könnte man auch auf eine unsichtbare Dornenkrone zurückführen. Was für ein Mensch das überhaupt ist, der von einer bürgerlichen Existenz mit der Lehrerin Ellen Orford träumt und vom sozialen Aufstieg an ihrer Seite - und sie (was im Libretto so nicht steht, aber durch die exzellente Personenregie sofort plausibel wird) brutal zusammenschlägt, als er ihre Zweifel an dieser Zukunft nicht mehr aushält – ob er mehr Opfer oder mehr Täter ist, das bleibt offen. Aber auch darum geht es: Um die Widersprüchlichkeit dieses Menschen - und aller anderen, die Leidende und Bestien zugleich sind und gefangen in einem System, das irgendwie selbsterhaltend funktioniert, obwohl es alle ruiniert.

Szenenfoto

Straßenszene im Fischerdorf: Bürgermeister Swallow und Apotheker Keene begutachten einer der "Nichten"

Knabe hat die Gesellschaft des kleinen Fischerdorfs zwar in ihren Grundstrukturen erhalten, sie aber an den untersten sozialen Rand verschoben. In einem trostlosen Hafenbereich, ein Alptraum von Betonmauern und Zäunen, sind sie allesamt Gestrandete, eine Gruppe Unbeheimateter mit ihren eigenen sozialen Regeln. Sie stieren auf ihre Smartphones und kaufen billigen Alkohol, da ist die Regie ganz am Puls unserer Zeit. Jemand wie die idealistische Lehrerin Ellen muss schon ein Helfersyndrom haben, um einen Rest an Güte unter die Menschen zu bringen. Kapitän Balstrode, in fast allen Inszenierungen als einzig verbliebener Freund Grimes' gezeichnet, ist hier ein wilder Rocker, der offenbar das Sagen hat – eine zunächst ziemlich unsympathische, nach und nach im machtbewussten Pragmatismus vielschichtige Gestalt. Die Regie macht es sich und dem Zuschauer nicht leicht mit Gut und Böse.

Szenenfoto

Peter Grimes und Double

Peter Grimes ist ein Seestück. Nicht nur ist ständig vom Meer die Rede, es klingt auch in der Musik, die Zwischenspiele sind geradezu programmatische Meeresbilder. Im Bühnenbild von Annika Haller bleibt das Meer unsichtbar, könnte irgendwo hinter der Betonmauer sein, und dass der heruntergekommene Kiosk „Ocean View“ heißt, ist auch so ein zynischer Einfall dieser Regie des „nichts ist, wie es scheint“. Selten ist der Oper die Fischerromantik so radikal ausgetrieben worden wie hier, und doch ist die unheimliche symbolische Präsenz des Meeres erhalten. Wenn im Schlussbild der Oper die Dorfleute auf das Meer schauen, wo sich Grimes selbst versenkt, dann lässt Knabe den Chor vom Rang aus singen, also aus der Zuschauerperspektive, und der Vorhang ist geschlossen: Alles Imagination. Und dann öffnet sich der Vorhang ein letztes Mal und die Nebel wabern (da darf man ein letztes Mal an das Meer denken), aber sie geben den Blick frei auf Grimes' Leichnam vor der immer gleichen Betonmauer.

Szenenfoto

Der Pullover deutet Schreckliches an: Ellen Orford und Balstrode

Die ungeheuer packende, im letzten Akt durch ein paar Übertreibungen unnötig und an den falschen Stellen provozierende Regie wird durch ein sängerisch wie schauspielerisch hervorragendes Ensemble umgesetzt. Peter Marsh als brutaler und verletzlicher Grimes wird der Vielschichtigkeit seiner Partie bestens gerecht, von zart lyrischen, an einigen wenigen Stellen vielleicht zu sehr ins Weinerliche abrutschenden Passagen bis zu kraftvollen Forte-Ausbrüchen, die durchweg bei aller Expressivität und auch in hoher Lage mit großer Tonschönheit gesungen sind. Emily Newton ist mit lyrischer, aber keineswegs kleiner Stimme und überragender Gestaltung musikalisch wie szenisch eine großartige Ellen Orford, und Sangmin Lee singt einen großformatigen, gefährlichen Balstrode. Aber auch die kleineren Partien sind hervorragend besetzt, etwa Morgan Moody als Apotheker Keene (hier eher ein Dealer), Judith Christ als Wirtin Auntie und Tamara Weinrich und Ashley Thouret als ihre sich prostituierenden „Nichten“, um nur einige zu nennen. Bei Bedarf wuchtig und immer klangschön singen der vielbeschäftigte Extra- und Opernchor. Dirigent Gabriel Feltz und die guten Dortmunder Philharmoniker bleiben den den dramatischen Höhepunkten der Partitur nichts an Kraft schuldig, zeichnen aber vor allem die leisen Passagen sehr plastisch – ein unheimlicher Untergrund, der sich da spannungsvoll ausbreitet. Auch dieser Musik ist nicht zu trauen: Hinter der gleißenden Schönheit verbergen sich Abgründe.

FAZIT

Für diesen Peter Grimes und für uns Zuschauer haben Regisseur Tilman Knabe und ein hervorragendes Ensemble keine einfachen Lösungen parat: Ein unbehaglicher, großartiger Opernabend.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Gabriel Feltz

Inszenierung
Tilman Knabe

Bühne
Annika Haller

Kostüme
Eva-Mareike Uhlig

Choreinstudierung
Manuel Pujol

Dramaturgie
Georg Holzer


Statisterie des Theater Dortmund

Opernchor des Theater Dortmund

Die Dortmunder Philharmoniker


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Peter Grimes
Peter Marsh

John, sein Lehrling
Erik Albrecht
Simon Daiber

Ellen Orford, Witwe und Lehrerin
Emily Newton

Balstrode, früherer Kapitän
Sangmin Lee

Auntie, Wirtin im "Eber"
Judith Christ

Erste Nichte
Tamara Weimerich

Zweite Nichte
Ashley Thouret

Boles, ein Fischer und Methodist
Fritz Steinbacher

Reverend Horace Adams, Pfarrer
Hannes Brock

Swallow, Rechtsanwalt und Bürgermeister
Karl-Heinz Lehner

Mrs. Sedley, Rentnerin
Martina Dike

Ned Keene, Apotheker
Morgan Moody

Hobson, Fuhrmann
Thomas Günzler

Dr. Crabbe, Arzt
Hans-Peter Frings


Weitere
Informationen

erhalten Sie vom
Theater Dortmund
(Homepage)



Da capo al Fine

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