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Brennpunkt Vorstadt
Von Roberto Becker / Fotos von Matthias Baus
Die Zeiten für die Grand opéra werden wieder freundlicher. Die Deutsche Oper in Berlin startete mit Vasco da Gama eine ganze Serie. Die Chemnitzer Version der als Afrikanerin bekannten Meyerbeer-Oper ist noch gut im Gedächtnis. Auch die Braunschweiger Variante von Meyerbeers Propheten, den Hans Neuenfels in Wien als Beitrag zu Ioan Holenders Grand-opéra-Serie beigesteuert hatte. Gerade hat Hamburg eine neue Intendanz mit den Trojanern von Berlioz eröffnet (die sich in den letzten Jahren auch sonst wachsender Beliebtheit erfreuten). Die Stuttgarter Produktion von Halevys Jüdin wurde auch in Dresden gezeigt. Der Nürnberger Intendant Klaus Theiler hat angekündigt, dass er der Grand opéra in Dresden sozusagen als polemische Erweiterung des Wagner-Schwerpunktes an diesem Haus Geltung verschaffen wird, wenn er dort die Intendanz übernimmt. Dass Tobias Kratzer vor kurzem bei ihm in Nürnberg die Hugenotten inszenierte, war für den Regisseur eine unmittelbare Vorbereitung für seine aktuelle Inszenierung von Meyerbeers Propheten jetzt in Karlsruhe.
Kratzer ist einer von den Regisseuren, die dieses per se großformatige Genre bedienen und zugleich hinterfragen können. So war klar, dass er den Propheten als eine Art Thriller inszenieren und die Story auf ihre Relevanz hin hinterfragen würde. In der Geschichte um die Wiedertäufer aus dem 16. Jahrhundert, die Eugène Scribe und Emile Deschamps vor dem Hintergrund der revolutionären Unruhen im Paris der 1848iger Revolution zu einem gut sitzenden Libretto verarbeitet haben, geht es darum, wie der unbescholtene Jean von fanatischen Ideologen gegen seinen Willen zum Propheten ihrer Bewegung gemacht und auf den Schild gehoben wird. Alles in einem sozialen Umfeld, in dem es ohnehin gegen die Obrigkeit brodelt. Als deren Vertreter Graf Oberthal seine notwendige Zustimmung zur Hochzeit von Jean und Berthe verweigert und Jeans Braut und Mutter stattdessen gefangen nimmt, sieht Jean nur als Prophet und Anführer der staatserschütternden Revolte eine Chance, sich am Grafen Oberthal zu rächen. Dafür akzeptiert er sogar die Bedingung der Wiedertäufer, seine Mutter zu verleugnen, weil deren Prophet gleichsam nur göttlichen Ursprungs sein kann. Berthe entkommt zwar dem Grafen und sucht bei Jean Schutz, doch der Graf erpresst die Herausgabe der jungen Frau im Austausch gegen die Mutter. Weil sich Jean darauf schweren Herzens einlässt, beginnt er seine Karriere als Prophet gleichsam traumatisiert. Der Sturm auf die Stadt Münster und die außer Kontrolle geratende Gewalt wird dem Propheten angelastet, seine Herrschaft wankt, soll mit einer Krönung zum Herrscher wieder befestigt werden. Schließlich mündet alles in einem dramatischen Showdown, nachdem Berthe den Propheten, an dem sie sich für ihr Lebensunglück rächen will, als ihren Verlobten erkennt und nicht verzeihen kann, seine Mutter hingegen mit ihm vereint in den gemeinsamen Selbstmord geht, der wie ein Fanal ausgleichender Ungerechtigkeit am Ende der Oper steht. Diese Geschichte ist spannend, ganz gleich wo sie spielt oder wohin sie verlegt wird. Der Prophet auf dem Schirm
Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier haben sich für ein französisches Banlieue-Ambiente von heute entschieden. Jean betreibt eine Bar im Schatten der (nicht zu sehenden) Hochhausfassaden, mit einem Zimmer für sich und die Mutter gleich nebenan und einem Garagenkeller für alles Mögliche unten drunter. Auf der Rückseite haben die Kids aus dem Viertel einen Basketball-Korb auf der Betonfreifläche oberhalb der Treppe. Wenn sie gut drauf sind, überbieten sie sich beim Breakedance. Es ist ein bejubelter Coup der Inszenierung, wenn die hochprofessionellen Jungs von "TruCru/Incredible Syndicate" faszinierend präzise die Ballettmusiken vertanzen. Das wirkt genauso treffsicher wie die Bildschirmwände, über die die PR-Kampagne des neuen Propheten samt seiner aufrührerischen Predigten flimmern. Erst liest man da in Französisch unter einem Bild des Planeten "Le monde est vous", was sich zu einem trotzigen "Le monde est nous" wandelt. Wenn die Umfragewerte des Propheten im Keller sind, dann haben alle eine "Charlie Hebdo" in der Hand, die eine Karikatur zeigt, auf der der Prophet wie eine Marionette an den Strippen von Hintermännern hängt. Was sowohl die ursprüngliche Geschichte als auch die erzählt Story ziemlich genau trifft. Und als Verweis auf die Gefahren der Islamisierung genügt, ohne sie direkt in Bilder zu übersetzen. Der unterschwellige Querverweis ist heutigen Medienkonsumenten so präsent wie den Zeitgenossen Meyerbeers die zu den Unruhen der Entstehungszeit. Die Strippenzieher bei der Arbeit im Studio
Die Wiedertäufer sind die Drahtzieher, sie haben die Technik für die youtube-Inszenierung und den Internet- und Medienauftritt des Propheten. Sie lassen ihn, wenn nötig in der weißen Stech-Limousine vorfahren, in der dann auch gleich noch ein Knabe aus dem Jubelchor missbraucht wird. Und sie sind fleißig damit beschäftigt, immer neue gerade passende Botschaften zu basteln, die dann über die Medien verbreitet werden. Kratzer macht aus dem Propheten auch eine beklemmend aktuelle Studie über das Manipulationspotenzial der (a)sozialen Netzwerke und die Verführbarkeit der Massen. Zum Ende hin gewinnt dann wieder die Dramaturgie der Oper die Oberhand, wenn die Wiederannäherung von Mutter und Sohn das Geschehen bestimmt. Es bleibt trotz aller Differenziertheit mit der die Verstrickung Jeans gezeigt wird fraglich, ob nun der Sprengstoffgürtel der Selbstmordattentäter das richtige Bild ist, um ganz am Ende mit der Sympathie der Massen dem Spuk der Ideologenherrschaft ein Ende zu machen. Spannend und packend bleibt es allemal. Wenn ein Anführer aussteigt …
Außerdem hat Karlsruhe ein Ensemble beisammen, dass sich nun wirklich hören lassen kann und sich im Verein mit der ziemlich schnell in Fahrt kommenden Badischen Staatskapelle unter Leitung von Johannes Willig zu einem überzeugenden musikalischen und vokalen Plädoyer für diese Grand opéra und damit für Meyerbeer und das Genre insgesamt aufschwingt! Von wegen "Wirkung ohne Ursache" - da war Wagners Blick wohl doch etwas getrübt. Allen voran begeistert Ewa Wolak als Jeans Mutter Fidès mit ihrer so voluminösen wie in den Koloraturen beweglich gestaltenden Alt-Stimme. Sie ist bei jedem Auftritt ein Ereignis. Ina Schlingensiepen ist mit ihrem lyrischen Sopran die dazu passende, junge Berthe. Als einiger Gast komplettiert der so geschmeidig wie kraftvolle und konditionsstarke Tenor Marc Heller als Jean de Leyde das auch in den kleineren Rollen überzeugende Ensemble. Von den drei Wiedertäufern hinterlässt Avtandil Kaspeli als Zacharias den größten Eindruck, während Armin Kolarczyk den Bösewicht Oberthal mit kultivierter Eloquenz ausstattet.
Tobias Kratzer liefert in Karlsruhe eine packend aktualisierte, professionell in der Personenführung durchinszenierte Deutung, und das Badischen Staatstheater hat die Kraft, daraus auch ein musikalisches Plädoyer für das Genre der Grand opéra zu machen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Video
Licht
Chor
Kinderchor
Live-Kamera
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Jean van Leyden
Fidès, seine Mutter
Berthe, seine Verlobte
Zacharias
Jonas
Mathisen
Graf Oberthal
Wiedertäufer
Erste Bäuerin
Zweite Bäuerin
Erster Bauer
Zweiter Bauer
Erster Wiedertäufer
Zweiter Wiedertäufer
Erster Bürger
Zweiter Bürger
Dritter Bürger
Vierter Bürger
Schola
Erster Offizier
Zweiter Offizier
Dritter Offizier
Policier
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