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Ein Neuanfang? Von Thomas Molke / Fotos von Detlef Erler
Sechs Jahre und ein paar Monate ist es nun her, dass Pina Bausch kurz nach der Uraufführung ihres letzten Stückes verstarb und eine riesige Lücke in der Tanzlandschaft hinterließ. Seitdem hat das Tanztheater Wuppertal Bauschs Choreographien im In- und Ausland immer wieder vor ausverkauften Häusern zur Aufführung gebracht, wobei man sich schon seit einiger Zeit die Frage stellte, wann die Compagnie sich an etwas Neues heranwagen würde. Die Herausforderung schien allerdings vielen zu groß. Wer wollte in die Fußstapfen dieser legendären Choreographin treten, die aus einer relativ unbedeutenden Tanzsparte in Wuppertal nach einigem Widerstand eine Compagnie geformt hat, die mittlerweile international einen großen Bekanntheitsgrad genießt? Nun haben sich vier Choreographen gefunden, die in drei Stücken versuchen, mit dem Tanztheater Wuppertal neue Wege zu gehen. Ob dies einen Neuanfang für die Compagnie markiert, bleibt abzuwarten. Zu unterschiedlich sind die drei Handschriften, als dass man bereits jetzt eine neue Richtung erkennen könnte, in die das Tanztheater Wuppertal aufbrechen will. somewhat still when seen from above: Ensemble (von links: Julie Anne Stanzak, Damiano Ottavio Bigi, Ale Čuček, Çağdaş Ermis, Michael Strecker, Anna Wehsarg, Pablo Aran Gimeno, Aida Vainieri, Barbara Kaufmann)Den Anfang macht Theo Clinkard mit somewhat still when seen from above direkt in doppelter Hinsicht. Nach mehreren Auftragswerken für Universitäten und Ausbildungsstätten ist diese Choreographie seine erste Arbeit für eine professionelle Compagnie. Dabei entwickelt er die Bewegungen gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern. So wirkt die Bühne, auf der mehrere Leitern stehen auch wie eine Art Probenraum, in dem die Tänzerinnen und Tänzer ihre Grenzen austesten. Hierbei findet jeder zu seiner eigenen Bewegungssprache, so dass das Stück recht zusammenhanglos bleibt. Die Musik ist größtenteils recht abstrakt gehalten und wirkt in der Zusammensetzung willkürlich. An einer Stelle brechen die Tänzerinnen und Tänzer aus ihrer abstrakten Bewegungssprache aus und formieren sich bei einem traditionell anmutenden Musikstück zu einer harmonischen Einheit, die aber schnell wieder aufgebrochen wird. Wieso einige Bühnenarbeiter mit einer Nebelmaschine die Leitern emporklettern und Nebel auf der Bühne erzeugen, erschließt sich nicht, so dass dieser erste Teil das Publikum recht ratlos zurücklässt. Dass der Applaus nach diesem Teil trotzdem von einigem Jubeln durchdrungen ist, mag vielleicht ein Versuch sein, den Mut zu belohnen, sich nach sechs Jahren auch einmal an etwas Neues heranzuwagen. Schließlich weiß man ja auch noch nicht, was nach diesem Teil kommt. The Lighters - Dancehall Polyphony: Ensemble Und der Abend wird mit dem nächsten Stück bereits besser. Cecilia Bengolea und François Chaignaud, die 2008 die Tanzkompanie Vlovajob Pru gegründet haben, mit der sie seitdem weltweit große Erfolge feiern, lassen die Tänzerinnen und Tänzer in The Lighters - Dancehall Polyphony nicht nur in ekstatischen Bewegungen zu Jamaikanischer Dancehallmusik tanzen, sondern auch noch singen. So wechselt der Abend nach einer lebhaften Dancehallnummer zu einer ruhigen, beinahe sakral anmutenden Musik, zu der die Sängerinnen und Sänger mit Kerzen die dunkle Bühne betreten und wie ein Kirchenchor zu einem harmonischen friedlichen Gesamtklang zusammenfinden. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch Breanna O'Mara, die ein beeindruckendes "You Don't Own Me" a cappella erklingen lässt und dabei in eleganten Bewegungen über die Bühne tanzt. Ein weiterer musikalischer Höhepunkt ist die Darbietung von John Wilbyes "Away Thou Shalt Not Love Me", das die Tänzerinnen und Tänzer in kleinen Gruppen zu einer witzigen Choreographie zum Besten geben. Die Kostüme bilden dabei einen Mischmasch aus unterschiedlichen Epochen. Scott Jennings wirkt mit seinem roten Umhang bei dem rezitierten Monolog wie ein König aus Shakespeares Dramen. Dieser Teil spricht mit seiner Lebendigkeit und seinem großen Abwechslungsreichtum das Publikum mehr an als Clinkards Choreographie, was sich auch im anschließenden Applaus äußert. In Terms Of Time: Ensemble beim "Luftballon-Spiel" (von links: Jonathan Fredrickson, Michael Carter, Regina Advento, Nazareth Panadero, Ophelia Young, Franko Schmidt, Julie Shanahan und Fernando Suels Mendoza) Nach der Pause kommt man dann dem von Pina Bausch gewohnten Stil am nächsten. Tim Etchells findet in seiner Choreographie In Terms Of Time einen Tonfall, der den zahlreichen Bausch-Anhängern sehr bekannt vorkommen dürfte. Wenn Fernando Suels Mendoza zu Beginn mit einem blauen Müllsack versucht, die Luft einzufangen oder Nazareth Panadero Wasser aus einem Glas auf den Boden tropfen lässt und dabei das Tropfgeräusch mit den Lippen imitiert, sind das genau die Momente, die Bauschs Stücke so einzigartig gemacht haben. Mit hoch aufgestapelten durchsichtigen Plastikbechern laufen die Tänzerinnen und Tänzer wie kleine Kinder über die Bühne, bis die Türme aus Plastikbechern zusammenbrechen und die ganze Bühne mit Plastikbechern übersät ist. Hier bemüht sich nun Jonathan Fredrickson auf Spitze zwischen den Plastikbechern zu tanzen, während sich Regina Advento Puderzucker auf Arme und Beine streut und diesen wieder ableckt. Fernando Suels Mendoza rückt auf einem Stuhl immer näher an Emma Barrowman heran, die versucht, sich mit ihrem Stuhl hinter einer Pflanze zu verstecken, und dabei das Publikum immer wieder fragt, ob sie denn noch gesehen werde. Währenddessen vergnügen sich die anderen mit Luftballons, die sie aufpusten und dann davonfliegen lassen, wobei gemessen wird, welcher Ballon am weitesten geflogen ist. Zu Frank Sinatras "Autumn Leaves" wird dann die Bühne gefegt, und alle nehmen an einem großen Tisch Platz, wo sie sich gegenseitig mit der Höflichkeitsfloskel "Thank you" zunächst nur beschimpfen und dann sogar über die Bühne jagen. Zum Schluss bedanken sich die Tänzerinnen und Tänzer auch beim Publikum, wobei sie eine durchsichtige Knackfolie knistern lassen. So möchte man bei Ophelia Youngs Frage an die Zuschauer, ob man sich "verbunden" fühle, am liebsten antworten: Ja, zu Pina. Vielleicht ist aber auch gerade das der Grund dafür, dass der Applaus nach dem letzten Stück beinahe etwas verhaltener klingt als nach der zweiten Choreographie. Will das Publikum keine Kopie, sondern etwas Neues sehen? Diese Frage wird sich wahrscheinlich erst nach einiger Zeit beantworten lassen. Auch wird mit diesen drei Teilen noch nicht ganz klar, wohin sich das Tanztheater Wuppertal nun weiterentwickeln wird. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht, und der wird vom Publikum im Großen und Ganzen bejubelt. FAZIT Von den neuen Stücken überzeugen vor allem die zweite und dritte Choreographie. Ob diese wegweisend für die weitere Entwicklung des Wuppertaler Tanztheaters sein werden, bleibt abzuwarten.
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Produktionsteamsomewhat still when seen from above
Choreographie, Set Design und Kostüme
Choreographische Mitarbeit Kostüme Originalkomposition und Sound Violine SolistenPablo Aran Gimeno Çağdaş Ermis Barbara Kaufmann Julie Anne Stanzak Michael Strecker Aida Vainieri Anna Wehsarg
The Lighters - Dancehall Polyphony Konzeption, Choreographie und Kostüme Kostüme Solisten Andrey Berezin
In Terms Of Time Regie und Set Design Regieassistenz Kostüme Solisten Regina Advento
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