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Starke Stücke
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Unter professionellen Bedingungen eine eigene Choreographie zu entwickeln - das ist die Idee der Young Moves, einer Plattform, die Tänzerinnen und Tänzern von Martin Schläpfers Compagnie die Chance gibt, mit eigenen Arbeiten an die Öffentlichkeit zu treten. 15 Minuten Dauer, mehr nicht - das war die einzige Vorgabe. In diesem knappen Zeitfenster soll dann nicht nur eigenes choreographisches Handwerkszeug und nach Möglichkeit ein eigener Stil gezeigt werden, sondern auch noch dem Publikum ein Stück geboten werden, das über die Talentprobe hinaus für sich sehenswert ist. Das ist, so viel sei vorab gesagt, ziemlich gut gelungen; jede der sechs Arbeiten vermittelt eine eigene Idee von Tanz.
No Destination heißt die erste der hier vorgestellten Arbeiten. Wäre der Begriff "Gesamtkunstwerk" nicht durch Richard Wagner ein- für allemal besetzt, er würde auf den Ansatz von Wun Sze Che passen, der verschiedene Künste vereinen will. Die Musik wurde eigens für dieses Stück von Michael Kamp, Julia Kent und Jaust komponiert und hat ihren Ausgangspunkt bei Atemgeräuschen, dem menschlichen Urlaut schlechthin, von wo aus sie quasi evolutionär mehr und mehr Konturen annimmt. Das nächste Motiv ist das des Wassers als Urzustand und Voraussetzung allen Lebens, und die Kostüme von Hélène Vergnes greifen das auf, spielen auf Lebewesen im Wasser an, stehen aber sofort vor dem Problem, dass das ja nicht niedlich aussehen darf, aber irgendwie schon erkannt werden soll - wirklich gelöst ist das nicht. Der Maler und Zeichner Walter Padao kreiert am Bühnenrand kalliographisch anmutende Zeichen, die direkt auf die Bühne projiziert werden. Die moderne Tanzsprache entwickelt sich von freien Bewegungen bis hin zu einem musicalhaft anmutenden Showdance - da mag man die Vorstellung von sozialer Evolution bis hin zum Gruppenzwang erahnen. Am Ende allerdings ist alles wieder wie am Anfang, das zehnköpfige Ensemble steht wieder als Gruppe zusammen. Die strenge, unterkühlte Ästhetik hat dabei ihren Reiz. Ein rätselhafter Auftakt von eigentümlicher Schönheit. Sonny Locsin: Fourmis – Norma Magalhães, Bruno Narnhammer, Camille Andriot (hinten) Fourmis ist das französische Wort für Ameise, und die Choreographie von Sonny Locsin nimmt für sich ein, weil der Tanz an sich viel mehr Präsenz bekommt als im Werk zuvor. Zur eingängigen Musik von Philipp Glass (drei Sätze aus einem Streichquartett) steht Camille Andriot einer Gruppe von drei Tänzern und zwei Tänzerinnen gegenüber. Die titelgebende Ameise steht stellvertretend für einen hochkomplexen und nicht durchschaubaren Sozialverbund, und das Gegenüber vom Einzelnen und der Gruppe ist auch das tänzerische Hauptproblem. Locsin hat auch die Bühne (mit einem in warmen Farben leuchtenden Hintergrund) und die streng symmetrischen Kostüme entworfen - schwarze Hose und entblößter Oberkörper bei den Herren, durchbrochenes schwarzes Oberteil und freies Bein bei den Damen. Dieser ästhetische Rahmen diszipliniert, fokussiert auf die sehr dichte und konzentrierte Tanzsprache, die vergleichsweise konventionell wirkt, aber von großer Präsenz ist.
Andante Sostenuto. Drei Tänzerinnen und drei Tänzer liegen auf dem Boden, schlafend, dazu erklingt der Song Daydreaming von Radiohead - "Dreamers /They never learn / Beyond the point / Of no return" heißt es da, und allmählich erwachen die Akteure. Anders als bei den meisten "normalen" Erwachenden ist sofort die Körpersprache da, die Bewegung will offenbar hin zum Tanz auf Spitze. Drei Paare finden sich zusammen, zum rätselhaften Mittelsatz Andante Sostenuto aus Franz Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur D960. Getanzt wird in durchaus klassischen Figuren, sehr vorsichtig und behutsam, alles sehr delikat arrangiert, und auch die blassblauen Kostüme, vergleichsweise konventionelle Kleidchen für die Damen, hemdartige Gewänder, die knapp unter dem Slip enden, für die Herren. Aus der zurückhaltenden, ungeheuer vorsichtigen Tanzsprache bricht Randzio erst im Mittelteil des Sonatensatzes kurz aus, mit einem Solo mit weit ausholenden Bewegungen (Rashaen Arts) und als Antwort einem Solo für Marlúcia do Amaral in extrem gespannter, dabei immer wieder beinahe in die Hocke gehender Haltung. Wenn Schuberts Musik den Anfangsteil wieder aufgreift, wendet sich auch die Choreographie wieder dem entsprechenden Zustand zu: Drei Paare, beinahe synchron. Es ist eine Arbeit zum sehr genauen Hinschauen, sehr diszipliniert und konzentriert, vergleichsweise unspektakulär und doch von ganz eigener Faszination. Chidozie Nzerem: Edge of Reason – Marlúcia do Amaral, Marcos Menha
Edge of Reason - Rand der Vernunft? Man müsste sich einmal den Spaß machen, die wie immer lesenswerten Erläuterungen im Programmheft von den Werken zu trennen, sie zu mischen und die Zuschauer enträtseln zu lassen, welcher Text zu welchem Stück gehört. Würde man darauf kommen, dass Choreograph Chidozie Nzerem "ein einfühlsames Portrait der Ballettwelt" schaffen wollte? Wobei man hier einräumen muss, dass der Textbeitrag an dieser Stelle unglücklich ist. Nzerem gibt als sein eigener Ausstatter keinerlei Anhaltspunkt auf einen Bezug zur Ballettwelt. Zwei Herren in dunkler Hose und schlichtem dunklen Oberteil, vier Damen in einer Art kupferfarbenem Badeanzug - die etwas merkwürdigen Kostüme sind der am wenigsten überzeugende Teil der ungemein kraftvollen Choreographie zu rein perkussiver Schlagzeugmusik. Es beginnt mit einem archaischen Rundtanz, und um instinkthaftes Handeln geht es auch danach. Es gibt kleine Positionskämpfe, Rangeleien zwischen den Herren (wobei Freundschaftlichkeit und Aggression sich die Waage halten); Sexualität spielt eine Rolle - eben das, was eine Gruppe auf engem Raum ausmacht. Sicher lässt sich das auf die Ballettwelt übertragen (und womöglich sind manche Anspielungen darin enthalten), aber das Thema ist sehr viel allgemeingültiger. Edge of Reason ist das Kraftzentrum des Abends, sträubt sich dabei ein wenig gegen das 15-Minuten-Format - nicht nur des etwas unvermittelten Endes wegen bleibt der Eindruck, Nzerem hätte noch einiges mehr zu erzählen.
49 - der Titel bezieht sich auf die 49tägige Trauerzeit nach dem Tod eines Menschen in der koreanischen Heimat der Choreographin So-Yeon Kim. Sie hat ein kleines Handlungsballett kreiert: Man sieht einen Mann sterben in den Armen einer von Verzweiflung zerrissenen Frau; man sieht Rituale der Trauer, und schließlich kehrt der Tote zurück wie ein Engel, die Arme verlängert und mit einem wehenden weißen Tuch bedeckt. Die Choreographin scheut nicht die großen Gesten, und Arvo Pärts filmmusikhaft pathetische Komposition Lamentate zielt massiv auf das Gefühl. Daneben gibt es noch einen zweiten Handlungsstrang: Neben den Trauernden, alle asiatischer Abstammung, ist die Französin Camille Andriot isoliert, sucht Anschluss, aber es bleibt ein trennendes Element. So-Yeon Kim hat betont, dass hier auch ein autobiographisches Moment vorliegt: Die früh nach Europa migrierte Tänzerin ist in ihrer Heimat die "Ausländerin". Diese Geschichte ist subtiler erzählt und im Grunde die interessantere weil vielschichtigere. Die Tanzsprache zeigt ihre klassischen Wurzeln, ist aber vielschichtig und eben auch "erzählerisch". Die aparten Kostüme hat Irene Vaquiero entworfen, selbst Tänzerin der Compagnie (und hier zum ersten Mal als Kostümbildnerin tätig). Michael Foster: East Coasting - Ensemble
East Coasting von Michael Foster mit der gleichnamigen Musik von Jazz-Ikone Charles Mingus bildet den Abschluss des Abends. Die Kostüme von Hélène Vergnes spielen auf Gemälde Edward Hoppers an - bunte, im Schnitt schlichte Kleider für die Damen, Anzug, zum Teil mit lässigem Schlips für die Männer. Man könnte in irgendeinem mittelprächtigen Club einer Großstadt sein, und zunächst tanzt die Gruppe streng diszipliniert. Die wie automatisierte Ordnung bricht auf; es gibt ein großes Solo von Claudine Schoch wie ein Befreiungsversuch, dann kleine Geschichten: Eine Frau macht einem Mann Avancen, der reißt sich die Kleider vom Leib - und wird von ihr nur ausgelacht. Foster hat viele Ideen, die in der Kurzform noch unausgereift wirken; man ahnt eine Rondo-Struktur, wobei die Stimmung immer depressiver wird. East Coasting mit Mingus' wunderbarer Musik wirkt wie die Keimzelle eines noch auszuarbeitenden größeren Balletts.
Sechs Arbeiten, jede auf ihre Weise spannend und inspirierend - ein sehenswerter Abend. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamNo Destination
Choreographie
Live-Painting & Bühne
Kostüme
Licht
Ballettmeisterin Tänzerinnen und TänzerChristine JaroszewskiYuko Kato Helen Claire Kinney Cassie Martin Virginia Segarra Vidal Irene Vaqueiro Yoav Bosidan Rubén Cabaleiro Campo Fourmis
Choreographie,
Licht
Ballettmeisterin
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Kostüme
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Ballettmeisterin
Choreographie, Bühne
Kostüme
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Ballettmeister
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