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Musiktheater
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Einstein on the Beach

Oper in vier Akten und fünf knee plays
Konzeption von Philip Glass und Robert Wilson
Texte von Christopher Knowles, Lucinda Childs und Samuel M. Johnson
Musik von Philip Glass


in englischer, teilweise in deutscher Sprache, teilweise mit Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 30' (keine Pause, der Saal kann nach Belieben verlassen und wieder betreten werden)

Premiere im Opernhaus Dortmund am 23. April 2017




Theater Dortmund
(Homepage)

Es tanzt das Hirn, doch Sinn ergibt es nicht

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thomas M. Jauk

Man ist gewarnt: "Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben". So ist's von der Übertitelungsanlage zu lesen. Nun haben Philip Glass und Robert Wilson bei Einstein on the Beach nicht nur auf jegliches narrative Gerüst verzichtet, sondern auch gleich auf irgendwelche sinnstiftenden Kontexte überhaupt. Es gibt keine handelnden Personen, und die ziemlich willkürlich ausgewählten Textfragmente stehen in keinem Sinnzusammenhang. Oft singt der Chor ohnehin einfach Zahlen oder die italienischen Namen der gerade erklingenden Tonstufe ("do, re, mi, …"). Auf der anderen Seite verleihen fast fünf Stunden Musik (in dieser Dortmunder Aufführung auf dreieinhalb Stunden reduziert) dem Werk natürlich per se erhebliches Gewicht. Bei allen Deutungsversuchen, die an den Titel anknüpfen, erscheint die Aufhebung des traditionellen Zeitbegriffs noch der plausibelste - bei Einstein durch die Relativität der Zeit, die eben nicht mehr absolut und für alle gleich dahin fließt; bei Glass durch die Aufhebung eines klaren Zeitempfindens, das ins Trudeln gerät angesichts der Länge der Oper bei gleichzeitiger dauerhafter Wiederholung von kleinen patterns bei minimaler Variation, eben dem Grundprinzip der minimal music.

Szenenfoto

Solisten vor Stadtlandschaft

In Dortmund wird die Oper ohne Pause gespielt, wobei explizit frei gestellt wird, den Zuschauerraum nach Belieben zu verlassen und wieder zu betreten. Das ist zweischneidig, denn zwar soll so der musikalische Fluss aufrecht erhalten werden, aber die Oper ist ohnehin in vier Akte und fünf rahmende knee plays unterteilt, also keineswegs ein Kontinuum, und in einem konventionellen Opernhaus wie hier stört es eben auch alle anderen, wenn jemand seinem individuellen Pausenbedürfnis nachkommt - was aber vergleichsweise selten passiert; ein Großteil verfolgt die (wie gesagt dreieinhalb Stunden lange, aber bei aller Aktionsarmut nicht langweilige) Aufführung ohne Unterbrechung. Die Bestuhlung ist immerhin bequem. Inhaltlich verpassen würde man tatsächlich kaum etwas, wobei es einige Schleifen gibt, in denen Vergangenes wieder aufgegriffen wird. Vielleicht wäre ein anderes, offeneres Raumkonzept, wie es die Kölner Oper für Stockhausens Sonntag aus Licht teilweise verfolgt hatte, hier passender.

Szenenfoto

Da ist es, das tanzende Hirn, und vorne der Mann im Affenkostüm.

Musikalischer Träger der Aufführung sind die zwölf ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger des ChorWerk Ruhr, die durch perfekte Intonation und einen glasklaren, durch kein Vibrato getrübten, sehr intensiven Klang bestechen. Verblüffend auch, mit welcher Sicherheit sie die Partitur mit ihren endlosen Wiederholungen und darin eingebetteten kleinen Verschiebungen ohne Ermüdungserscheinungen bewältigen. Florian Helgath, künstlerischer Leiter des ChorWerk Ruhr, ist auch Dirigent dieser Aufführung, und er hält den komplexen Apparat souverän zusammen. Als Gesangssolisten kommen Sopranistin Hasti Molavian (klangschön, aber mit kleinen Wacklern in der Intonation), Altistin Ileana Matescu (souverän, dabei eher unauffällig) und Tenor Hannes Brock (auch unauffällig), dazu die Schauspielerinnen Bettina Lieder und Eva Verena Müller, die in ihren (englischen) Texten den sprachmelodischen Aspekt sehr schön herausstellen, und Andreas Beck, dem das in den (deutschen) Texten weniger überzeugend gelingt.

Einstein gibt es auch, aber der singt nicht, sondern geigt. Önder Baloglu spielt mit Einstein-Perücke und, was wichtiger ist, mit dem richtigen Maß zwischen Gleichförmigkeit und individuellem Esspressivo. Akzente setzen die Saxophonisten Matthias Grimmiger und Kristof Dömötör sowie Ralf Ludwig an der Bassklarinette; hinzu kommen drei Flöten und zwei Orgeln - allen Musikern verdienen Bewunderung für die hochkonzentrierte Aufführung. Die von Glass einkomponierte elektronische Verstärkung gerät allerdings mitunter arg laut.

Szenenfoto

Eine Hommage an Kubricks Dr. Seltsam?

Als Glass Einstein on the Beach 1976 für das Festival d'Avignon konzipierte, war das eine Attacke nach zwei Seiten. Zum einen wandten sich die eingängigen, tonal fest verwurzelten minimalistischen Formeln aus Dreiklangsbrechungen und Tonleiterfolgen gegen die musikalische Avantgarde - das hat sich sicher inzwischen relativiert und bietet kaum Streitpotential. Irritierender ist aus heutiger Sicht dann doch der konsequente Verzicht auf Handlung und erkennbaren Sinn. Zugleich stellt es den Regisseur vor die Frage, wie damit umzugehen ist. Bei Dortmunds Schauspielintendant Kay Voges brauchte man keine Sorge um technische Zurückhaltung haben, hat er doch vor ein paar Jahren eine Materialschlacht um oder gegen den Tannhäuser geführt. Auch hier arbeitet er mit großformatigen Videoprojektionen, die aber kaum konkrete Bilder zeigen - abstrakte Stadtlandschaften, verzerrte Aufnahmen der Akteure auf der Bühne, Zahlenkolonnen, aber nichts, was einen eigenen Deutungshorizont geben könnte - da bleibt er Glass' Bedeutungslosigkeit treu. Vielmehr inszeniert er eine Mischung aus schräger Revue und Science-Fiction-B-Movie. Die Akteure wirken wie künstliche Wesen, auf deren weißen Gewändern immer wieder Zeichencodes aufleuchten (oft entsprechend dem gesungenen Ton). Einmal tanzt ein ziemlich großes Hirn mit sehr schlanken beinen (Raafat Daboul). Schauspieler Andreas Beck agiert im Affenkostüm. Am Ende stürmen pockige, zottelige Wesen singend in den Zuschauerraum. Das drückt weder Zukunfstgläubigkeit noch Zukunftsangst aus, sondern eher eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem Wissenschaftszeitalter. Einstein ist hier nur noch Klischee.

Szenenfoto

So etwas wie das Finale: Unbekannte zottige Wesen zielen auf uns.

Den Balanceakt zwischen Sinn und Nicht-Sinn führt Voges also in den Unsinn. Ein paar scheinbar bedeutungsschwere Momente (etwa der Einsatz der Farben schwarz, rot und goldgelb nebeneinander) sind wohl eher Finten, die ins Leere führen. Das Problem an dieser sicher nicht ganz falschen Spielart mit Bedeutung(slosigkeit) ist die zwangsläufig daraus resultierende Beliebigkeit, zumal Voges auch kein klares ästhetisches Konzept verfolgt. Während die Musik ihre Sogwirkung entfaltet, stellt das verspielte Regiekonzept eher die Frage: Wozu der ganze Aufwand? Am Ende bejubelt das Premierenpublikum sicher auch sich selbst für den Durchhaltewillen.

FAZIT

Die Umsetzung dieser faszinierenden Partitur ist eine musikalische Großtat, keine Frage. Eine wirklich zwingende Lösung der szenischen Probleme hat Regisseur Kay Voges allerdings nicht gefunden.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Florian Helgath

Inszenierung
Kay Voges

Bühne
Pia Maria Mackert

Kostüme
Mona Ulrich

Licht
Stefan Schmidt

Visual Concepts and Art
Lars Ulrich
Mario Simon

Video Art
Dominik Bay
Bjarne Gedrath
Frank Génot
Tobias Hoeft
Lucas Pleß

Dramaturgie
Georg Holzer
Alexander Kerlin
Matthias Seier


Mitglieder der Dortmunder Philharmoniker:

Sujin Jung, Orgel
Petra Riesenweber, Orgel
Önder Baloglu, Violine
Felix Reimann, Flöte
Britta Schott, Flöte
Anna Pajak-Miklashevich, Flöte
Matthias Grimminger, Sopransaxophon
Kristof Dömötör, Tenorsaxophon
Ralf Ludwig, Bassklarinette

ChorWerk Ruhr:

Dominique A. Bilitza
Katharina Eberl
Ulrike Hellermann
Johanna Krödel
Luisa Kruppa
Anna Miklashevich
Patrick Brandt
Jörg Deutschewitz
Michael Hofmeister
Julian Popken
Fabian Strotmann
Christian Walter


Solisten



Sopran
Hasti Molavian

Alt
Ileana Mateescu

Tenor
Hannes Brock

Schauspieler
Bettina Lieder
Eva Verena Müller
Andreas Beck

Hirn
Raafat Daboul


Weitere
Informationen

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Theater Dortmund
(Homepage)



Da capo al Fine

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