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So fern und doch so nahVon Joachim Lange / Fotos von Monika Rittershaus
Selten ist eine Lulu so fern allen Erwartungen geraten. Selten aber auch so nah am überlieferten Originalfragment geblieben, wie die Version, die Kent Nagano und Christoph Marthaler jetzt in Hamburg vorgestellt haben. Fern, weil der Schweizer die Klischees der Skandalgeschichte unterläuft. Nah, vor allem, weil es heute kaum eine Sängerdarstellerin gibt, die dieser Projektionsfläche für alle Frauenbilder, diese Bedrohung männlicher Machtfantasien oder was auch sonst, mit so akrobatischer Virtuosität nahe kommt wie Barbara Hannigan. Stimmliche Präzision in buchstäblich jeder denkbaren Körperlage, jungendlicher Habitus in einer faszinierenden Melange aus Fremdbestimmtheit und kühl kalkulierender Selbstbehauptung - das kriegt man derzeit nirgendwo so zu sehen und zu hören wie von der kanadischen Ausnahmesopranistin. Allein schon ihre Lulu lohnt den Abend. Und er ist lang - mit zwei Pausen. Im Backstage des Lebens: Das Spiel beginnt
Den Rahmen für diesen Aufstieg und Fall der buchstäblichen Femme fatale liefert aber nicht allein das für Marthaler und seine Haus- und Hofausstatterin Anna Vierbock typische, traumwandlerische Schweben ein paar Handbreit über der narrativen Logik einer Geschichte. Gemarthalert wird auch. Doch der Theaterkauz macht aus der Rahmenhandlung, also aus der Manege für die präsentierten Attraktionen aus dem Menschenzoo, eine Aufnahmesituation mit Mikrophon und einer Bühne im Hintergrund. Dazwischen lässt er einen Regisseur herum fuhrwerken. Während die Gesangsnummern auch schon mal sitzend unterm Aufnahmemikrophon absolviert werden und ansonsten gar nichts passiert. Außer, dass sich diese Lulu sichtbar in eine Rolle einfühlt, während sie die Männer in ihrer Lächerlichkeit wahrnimmt und nur (wie wir auch) in Unterhosen zum Jacket herumwuseln sieht. Für den gutbürgerlichen Salon von Dr. Schön wird die Tiefe des Bühnenraumes mit behaglichen Holzfurnierwänden und Fenstern Richtung Treppenhaus verkleinert. Die Ausnahme-Lulu: Barbara Hannigan Sonst dominiert die Nüchternheit eines unaufgeräumten Backstage-Bereichs. Dazu passt, dass nach dem am Ende des von Berg vollendeten zweiten Aktes die Begleitung der Gesangsstimmen auf eine Geige und zwei Klaviere reduziert ist. Als Alban Berg starb, lag seine zweite Oper ja nur als Fragment vor. Der dritte Akt blieb skizzierter Entwurf. Seit Friedrich Cerha diesen 1979 komplettierte, hat sich diese dreiaktige Fassung in der Praxis durchgesetzt. Ab und an versucht sich ein Komponist neu am so reizvollen wie undankbaren Ergänzungswerk. Wie etwa der experimentaffine Eberhard Kloke vor sieben Jahren in einer von Stefan Herheim inszenierten Fassung in Kopenhagen. Lulu schießt auf Dr. Schön (Barbara Hannigan, Ivan Ludlow, Jochen Schmeckenbecher, hinten: Matthias Klink)
In Hamburg haben Nagano und Marthaler zusammen mit Johannes Harneit, Malte Ubenauf und Jochen Neurath aus dem überlieferten Particell eine Fassung gemacht, die dichter an Bergs Original ist, als es jede Vollendung von fremder Hand sein kann. Wohl um insgesamt die Klangbalance zu wahren und sich nicht mit der kühlen Sprödigkeit der Skizze zu verabschieden, hat man sich für Bergs Violinkonzert mit dem Untertitel "Dem Andenken eines Engels" als Epilog dieses eigenartigen Abend entschieden. Dazu zucken und gestikulieren dann fünf Frauen so vor sich hin und überlassen es dem Zuschauer, in ihren vielsagenden Miniaturpantomimen den Sinn zu erkennen. Das Spiel ist zu Ende - als Epilog das Violinkonzert (Barbara Hannigan, Veronika Eberle)
Mag sein, dass diese Hamburger Version keine Chance hat, die Cerha-Fassung zu verdrängen. Eine interessante Befragung ist sie allemal. Und eine formidable Kunstanstrengung. Neben der Ausnahme-Lulu tragen dazu vor allem auch Anne Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz, Jochen Schmeckenbecher als Dr. Schön und Jack the Ripper und Matthias Klink als Alwa im hervorragenden Protagonistenensemble bei. Und natürlich die Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters unter dem auf Präzision und Transparenz setzenden Kent Nagano.
An der Hamburgischen Staatsoper näheren sich Christoph Marthaler und Kent Nagano auf ungewöhnliche Weise dem Original von Alban Bergs Lulu. Barbara Hannigan ist die Ausnahme-Lulu im Zentrum, wegen der allein schon der Besuch lohnt! Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Licht
Bühnenmusik
Dramaturgie
Solisten
Lulu
Gräfin Geschwitz
Der Medizinalrat Dr. Goll/Polizist/Professor
Der Maler, Der Neger
Dr. Schön/ Jack
Alwa
Schigolch
Tierbändiger/Athlet
Ein Theater-Garderobiere/Gymnasiast
Der Prinz/ Kammerdiener/ Marquis
Theaterdirektor
Auguste Artinelli
Madelaine de Marelle
Ludmilla Steinherz
Kadega di Santa Croce
Eine Violinistin
Ein Pianist
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