Im Spiegel verschiedener Wirklichkeiten
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Puccinis Oper Manon Lescaut wurde 1893 in Turin
uraufgeführt. Sieben Librettisten und Puccini selbst haben
daran gearbeitet, Abbé Prévosts 1731 erschienenen Liebesroman
in mal empfindsame, mal expressive Kernszenen einzufangen.
Ähnlich wie Manets letztes großes Werk Un bar aux Folies
Bergère erzählt Puccini hier ein Sittengemälde, ein
musikalisches.
Manon (Lina Liu) auf der
Kinoleinwand
Anstatt ins Kloster zu gehen, verdreht die junge, melancholische
Manon den Männern den Kopf. Geronte de Ravoir, ein reicher,
älterer Steuerpächter aus Paris möchte sie heiraten. Der junge
Chevalier Des Grieux kommt ihm zuvor und nimmt sie mit nach Paris.
Im zweiten Akt langweilt sie sich bei dem reichen Geronte de
Ravoir, der sie mit Luxus verwöhnt. Sie sehnt sich nach der Liebe
Des Grieux’. Als sie ihn – auf Vermittlung ihres Bruders –
wiedersieht, werden sie von Geronte de Ravoir erwischt. Manon will
fliehen, nimmt den Schmuck, den Geronte ihr geschenkt hat, mit und
wird festgenommen. Im dritten Akt wartet Manon im Gefängnis von Le
Havre darauf, mit anderen Frauen in eine amerikanische
Strafkolonie verschifft zu werden. Nach vergeblichen
Rettungsversuchen heuert De Grieux auf dem Schiff an und begleitet
sie. Aber auch in Amerika ist ihnen kein Glück beschieden. Krank
und ausgezehrt schleppen sie sich dahin. Schließlich ringt Manon
einsam, verletzt und ihrer Wurzeln beraubt mit dem Tod.
Vom Luxus verwöhnt und von Männern umschwärmt: Manon Lescaut (Lina
Liu)
Im Theater Osnabrück singt und spielt Lina Liu Puccinis
Titelheldin. Mit anrührendem, lyrischen Schmelz, die Töne leicht
anschleifend und immer wieder von Ahnungen und Erinnerungen
überwältigt, führt die Sopranistin Leid und Empfindsamkeit vor
Augen. Immer in der Gewissheit, dass ihre Schuld vergessen, Liebe
aber ewig bleibe. Hell timbriert, weich und gerundet im Klang
verkörpert Jeffrey Hartman den Studenten Renato des Grieux. Er
weicht ihr zunächst nicht von der Seite, scheint sich aber nach
ihrem Tod mit anderen Manons zu trösten.
Ganz anders der 1. Akt. Hier scheinen die Stimmen eher im
Hintergrund, eine musikalische Farbe unter anderen zu sein.
Expressiv und hart prallen die kontrastiven Szenen aufeinander.
Und Andreas Hotz, das Osnabrücker Sinfonieorchester und ein
ausgezeichneter Opernchor zeichnen ein eher sinfonisch angelegtes,
komplexes, schnell aufeinanderfolgendes Drama mit
rhythmisch-dynamisch detailliert ausgeleuchteten Szenen und
scharfen Blechbläsereinwürfen.
Walter Sutcliffes exzellente, mit kleinen humorvollen Kommentaren
ausgestattete Inszenierung folgt diesem expressionistisch
modernen, filmästhetisch ausgerichteten Ansatz. Er verlegt die
Oper in eine Art Kinosalon mit zwei, im Laufe der Zeit immer
stärker sich verwebenden Wirklichkeitsebenen. Oben erzählen
laufende Bilder - stummfilmartig aufbereitete Szenen und
musikdramatische Begegnungen - über das Schicksal der Manon aus
weiblicher Perspektive. Unten starren Männer in grauen Anzügen und
einheitlich gelockter Haarpracht mit dem Rücken zum Publikum aufs
Bild und gieren nach Vergnügen, Schminke und käuflicher Liebe. Vor
allem die Einbindung der Stummfilmbilder ist gelungen. In
kontrastivem Licht und ausdrucksstarker Gestik die
Stummfilmästhetik aufgreifend wirken die Opernszenen wie
vergrößerte, in die Länge gezogene Filmausschnitte. Ein
grandioses, eindrucksvolles Gefühlserlebnis.
FAZIT
Osnabrücker Musiktheater ist immer für Überraschungen gut.
Allen an der Produktion Beteiligten ist ein stimmiger,
ausdrucksstarker, humorvoller und zugleich nachdenklich
stimmender Abend gelungen. Was will man mehr?