Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Tief in die Kiste gegriffenVon Bernd Stopka / Fotos von Bettina Stoess 23.
August 2003: Beim ersten Burgplatz Open Air des
Staatstheaters Braunschweig feiert Carmen von
Georges Bizet, (die spanischste aller Opern, von
einem Franzosen komponiert) in einer
leidenschaftlichen Produktion Premiere und
begründet eine Braunschweiger Festspieltradition.
Sand in der Arena, ein paar Stühle, nur die
nötigsten Requisiten aber üppige Kostüme und eine
hochemotionale fesselnde Personenregie begeistern
das Publikum in einer klassischen Inszenierung in
deutscher Sprache, in der sogar eine
Madonnenprozession zu sehen ist. Der
Braunschweiger Löwe beobachtet die ganze Sache von
seinem Sockel aus und nimmt vor manchem geistigen
Auge momentweise die Gestalt eines spanischen
Stieres an. Der Wettergott spielt mit, wie oft
auch in den Folgejahren bei Opern-Inszenierungen
von Tosca, Madama Butterfly, Der
fliegende Holländer, Cavalleria
rusticana, Turandot, Der
Freischütz, Ein Maskenball, den
Burgplatzkonzerten und Musical-Produktionen wie West
Side Story und im letzten Jahr Hairspray
- um nur einige zu nennen. Der Burgplatz bietet
eine herrliche Kulisse, die Arena ist nicht zu
groß, die Akustikanlage ausgesprochen gut, das
Publikum treu, die Aufführung fast immer
ausverkauft.
Carmen
(Jelena Kordić), Don José (Kwonsoo Jeon)
18. August 2018: Wieder Braunschweig, wieder Burgplatz, wieder Carmen. Zum 15jährigen Jubiläum steht Bizets Meisterwerk erneut auf dem Spielplan. Viel Wasser ist inzwischen die Oker hinuntergeflossen und hat Carmen in den sozialen Brennpunkt einer heutigen Stadt geschwemmt. Auf einer vertrockneten harten Rasenfläche, die man durch wenig Grüngebliebenes als solche nur ahnen kann (aktueller geht es kaum), liegen gammelige alte Möbel herum: Stühle, Sessel, Bettgestelle, Kühlschränke, Türen und Leuchtbuchstaben, aus denen Lillas Pastia später die Leuchtschrift seiner Taverne zusammenstellen wird. Dieser Lillas Pastia tritt zunächst in einem schwarzen Flamenco-Rock und mit Stierhörnern auf – an diesem Abend die einzige Reminiszenz an das Spanische dieser Oper – und bleibt dann nur mit einer schwarzen Torero-Hose bekleidet als morbides Leitmotiv ständig auf der Bühne. Wie der Tod, der allgegenwärtig ist, der töten und zum Leben erwecken kann. Letzteres muss er auch, weil der Oper sonst die Hauptpersonen ausgehen würden, denn Don José ist hier ein psychisch dekompensierter schießwütiger Soldat, der jede und jeden mit seinem Revolver bedroht und Carmen an jedem Aktschluss erschießt. Zuletzt auch sich. Niemals hätte ihm eine Dienstwaffe anvertraut werden dürfen. Ihn so zu charakterisieren, nimmt ihm so ziemlich alles, was die emotionale Dramatik der Figur ausmacht. José wird doch eigentlich durch Carmen von einem pflichtbewussten und ordentlichen Soldaten zu einem Spielball ihrer und seiner Gefühle (und das ist allemal spannender). Eigentlich – denn diese Braunschweiger Carmen wirkt eher wie eine genervte Bürozicke, der auch ihr goldenes Top keine Erotik oder Verführungskraft verleihen kann. Sie wirkt gelangweilt, überfüttert, uncharismatisch.
Frasquita (Jelena Banković), Don José (Kwonsoo
Jeon), Lillas Pastia/der Tod (Mattias
Schamberger), Carmen (Jelena Kordić),
Remendado (Matthias Stier)
Das
inszenierte
Vorspiel zeigt
das Ende der
Oper, die
quasi als
Rückblick
inszeniert
ist. Die
Blume, die
Carmen Don
José zuwirft
ist ein
schwarzer
Handschuh, von
dem sich
Escamillo
später
gewaltsam den
zweiten holt.
Carmens
Kolleginnen
sehen eher so
aus, als
arbeiteten sie
in einem
Bordell und
nicht in einer
Zigarettenfabrik.
Zuniga
missbraucht
das Mädchen,
das er vor
Carmens
Messerstecherei
gerettet hat.
Brutalität
hier, Fummelei
da, Tänze in
Zeitlupe.
Anstelle von
Kastagnetten
schlägt Carmen
zwei
Bierflaschen
aufeinander
und die
Karten, aus
denen Girlies
das Schicksal
lesen, sammeln
sie vom Boden
auf, denn
Lillas Pastia
hat sie wild
in die Luft
geworfen. Don
José singt
seine
Blumenarie am
Tisch sitzend
eher wie bei
einem Verhör
als in
höchster
Leidenschaft.
Die Habanera
singt Carmen
während sie
auf Brettern,
die auf Möbeln
liegen,
geschickt und
sicher über
die Bühne
balanciert.
Als
kontrastierende
Charakterisierung
der beiden
Frauen steigt
Micaëla
während ihrer
Arie im
dritten Akt
unsicher von
Stuhl zu
Stuhl, um
später blutig
unter dem
inzwischen zu
einem Haufen
zusammengelegten
Sperrmüll zu
liegen. Müll
wird von
Bühnenbildnern
ja immer
wieder gern
genommen,
diesmal nun
also
Sperrmüll. Mit
Wasser wird
herumgespritzt
und
zwischendurch
wird das
Publikum von
Taschenlampen
und
Scheinwerfern
geblendet,
Schüsse wecken
die
Schlafenden
auf, stoppen
aber nur
kurzzeitig das
Dauergequassel
um mich herum.
Wenn sich
Remendado und
Dancaïro
Frauenkleider
anziehen, ist
schließlich
der traurige
Höhepunkt der
Regie und des
Fremdschämens
erreicht. Das
Regieteam
(Regie:
Philipp M.
Krenn, Bühne:
Heike Vollmer,
Kostüme:
Regine
Standfuss),
das
erklärtermaßen
möglichst tief
in das Stück
hineinschauen
wollte, hat
tief in die
längst schon
verstaubte
Mottenkiste
des modernen
Regietheaters
gegriffen und
viele alte und
ungeliebte
Bekannte
herausgeholt,
es aber nicht
geschafft,
eine
überzeugende
oder gar
bewegende
Aktualisierung
zu
präsentieren.
Ein Problem des Aktualisierungszwangs unseres modernen Regietheaters ist immer das gleiche: Die Diskrepanz zwischen Musik und Aktualisierung schafft mehr emotionale Distanz als Nähe. Was nicht zusammenpasst, hat es schwer zu berühren und zu bewegen. Die Gegensätze zu vereinen ist möglich aber nicht einfach. Dabei ist das Publikum sehr wohl in der Lage die Transferarbeit in die heutige Zeit, in das eigene Gefühlsleben eigenständig zu leisten. Die Emotionen, die berühren, sind eh immer die gleichen, ob sie im Flamencokleid oder in Leggins gespielt werden, eine höchstmögliche Authentizität ist das Ausschlaggebende. Das kann durchaus auch bei einer Aktualisierung erreicht werden, doch dazu gehört viel Fingerspitzengefühl und Feinarbeit. Hier gelingt es, wie so oft, nicht. Und das macht die Inszenierung über weite Strecken gewollt bedeutsam und ganz einfach langweilig. Das Braunschweiger Burgplatz Open Air hat Eventcharakter, ob da eine sozialpolitische Inszenierung mit den Mitteln des modernen Regietheaters geeignet ist, Menschen, die sonst nicht in die Oper gehen, für die Oper zu begeistern, wäre zu hinterfragen – und ob es da dann auch wirklich die Originalsprache sein muss, oder ob sich in diesem Fall nicht doch eine deutsche Übersetzung anbietet ebenso. Chor, Extrachor, Kinderchor, Lillas Pastia (Mattias Schamberger), Don José (Kwonsoo Jeon) Die
exzellente
Beschallungsanlage
unterstützt
die Sänger
optimal, macht
eine
Einschätzung
der Stimmen
aber
naturgemäß nur
bedingt
möglich.
Jelena Kordić
und Kwonsoo
Jeon setzen
das
Regiekonzept
als Carmen und
Don José
schauspielerisch
und auch
gesanglich
adäquat um,
wobei Kwonsoo
Jeon eine
stärkere
Bühnenpräsenz
hat als Jelena
Kordić.
Ekaterina
Kudryavtseva
singt die
Micaëla mit
beeindruckender
Stimmtechnik
und eher
fraulichem als
unschuldig
kindlichem
Timbre, was
gut zu ihrem
gouvernantenhaften
Kostüm passt.
Eugene
Villanueva
singt den
Escamillo
souverän und
Matthias
Schamberger
spielt den
Lillas Pastia,
der den Tod
verkörpert,
sehr
überzeugend
als
überlegenen
Unsympathen.
Unter den
kleineren
Partien
beeindruckt
Dominic
Barberi als
Zuniga.
Srba Dinić leitet das Staatsorchester sängerfreundlich, aber unauffällig, das Vorspiel zum 3. Akt gelingt mit dem wundervoll gespielten Flötensolo berührend, aber nicht sentimental. Chor Extrachor und Kinderchor wurden von Georg Menskes bestens einstudiert und zeigen sich bei den Massenszenen gesanglich und schauspielerisch höchst agil. Und was sagt der Braunschweiger Löwe zu alldem? Nichts. Er wurde samt Sockel schamhaft (oder gnädig) mit schwarzem Tuch verhängt. FAZIT
Ein wenig gelungener Versuch einer Aktualisierung und Andersdeutung, der beim Open Air besonders fehl am Burgplatze erscheint. Musikalisch ordentlich, aber nicht begeisternd. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamMusikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Chor
Kinderchor Dramaturgie
Chor, Extrachor und Kinderchor Solisten
Carmen Don José Micaëla Escamillo Remendado Dancaïro Frasquita Mercédès Zuniga Moralès Lillas Pastia Weitere Informationen
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