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Liebe zwischen Rosen und Kuhglocken
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Ein Heimatstück? In gewisser Hinsicht natürlich schon. Choreograph Martin Schläpfer stammt aus dem Appenzell, und die sieben Bilder, die er choreographiert hat, sind im weiteren Sinne Genreszenen. Da mühen sich etwa drei Personen mit gewaltigen Heubündeln auf dem Rücken ab (Yuko Kato, Boris Randzio, Yoav Bosidan). Im Hintergrund sieht man die Silhouette einer Gebirgslandschaft angedeutet. Die Kostüme in dezenten Pastellfarben sind zwar weit weg von Volkstrachten, lassen sich aber dem alpenländischen Raum zuordnen (Ausstattung: Thomas Ziegler). Dazu kommt originale Musik aus dem Appenzell, Streichmusik und Jodler, eingebettet in eine Toncollage mit Kuhglocken oder dem Rauschen eines Bachs. Aber Schläpfer spielt ziemlich ironisch mit diesen Elementen, am deutlichsten im ersten Bild "Öberefahre (Almauftrieb)", bei dem Tänzerinnen und Tänzer mit Kuhglocken behängt über die Bühne getrieben. Wäre das nicht mit so unglaublich souveräner Hand choreographiert, es hätte schnell ins Lächerliche abgleiten können. Hier ruft es die entsprechenden Bilder im Kopf hervor, zeigt aber noch viel mehr: Mühe wie Würde dieser Menschen. Im Kontrast dazu gibt es ein junges Paar, miteinander flirtend. Da wird auf kleinem Raum ein großes Panorama ausgebreitet.
Vermutlich verstehen Betrachter außerhalb der Schweiz oder sogar schon außerhalb des Appenzell eine Reihe von Anspielungen gar nicht, aber das macht nichts; dass ein mitunter rätselhafter Rahmen um die Hauptaktionen bleibt, schafft eine Distanz zum Banalen. Der genaue Beobachter Schläpfer hebt das Allgemeinmenschliche hervor, wobei er souverän zwischen erzählendem Gestus und Abstraktion balanciert. In der düstersten Szene des Stücks "I de Stobe (In der Stube)" sitzt eine Frau (Aleksandra Liashenko) allein am Tisch; im Traum erscheint ihr ein Mann (Philip Handschin), der sie mit Stuhl durch den Raum trägt. Darin liegt eine Menge Poesie, aber eben auch Einsamkeit. Schläpfer, der die Appenzellertänze 2000 für das balletmainz entwickelt hat, schafft mit diesen hochkonzentrierten Szenen eine immer wieder irritierende, faszinierende Collage - kein Werk, das "groß" sein will, seinen Reiz im Gegenteil aus dem Geist der Miniatur bezieht. Getanzt wird, wie in allen Werken des Abends, ganz ausgezeichnet - die in einigen Positionen neu besetzte Compagnie präsentiert sich auf durchweg exzellentem Niveau. Appenzellertänze: Tomoaki Nakanome, Doris Becker, Eric White, So-Yeon Kim Vor allem davon lebt das zweite Stück des Abends, Le Spectre de la Rose ("Der Schatten der Rose") von Marco Goecke, uraufgeführt 2009 in Monte Carlo und auch schon vom Kanadischen Nationalballett, in Florenz und Stuttgart getanzt. Es greift das Stück gleichen Namens von Mikhael Fokine auf, zur Musik von Carl Maria von Webers Aufforderung zum Tanz 1911 für die Ballet Russes und Vaclav Nijinsky choreographiert: Darin träumt ein junges Mädchen nach einem Ball von dem Galan, der ihr eine Rose gab, und selbiger erscheint ihr prompt im Traum. Auch Schläpfer mag in der oben erwähnten Traumszene in den Appenzellertänzen davon inspiriert worden sein, jedenfalls gibt es hier eine Leitlinie zwischen beiden Choreographen. Marco Goecke, der die Personenkonstellation um sechs Tänzer erweitert, spielt in der (selbst entworfenen) mit Rosenblättern bedeckten Bühne mit der Vorlage, auch die Kostüme (Michaela Springer) - weißes Brustteil bei freien Armen und Schultern für das Mädchen, rosenrote Anzüge ohne Hemd für die Herren - mit dem Sujet, das ansonsten nur noch als assoziative Folie im Hintergrund zu erahnen ist. Mit den hypernervösen Flatterbewegungen der Hände, Goeckes Markenzeichen, agieren Tänzerin und Tänzer wie Maschinen, die selbst in der Umarmung distanziert bleiben, als berührten sich da Roboter.
Im geheimnisvoll harten Licht erscheint der Körper von Mariana Dias geradezu furchteinflößend muskulös, und auch das trägt zum Eindruck bei, dass hier eher Kraftzentren als Menschen auf der Bühne agieren. Ihr Gegenüber ist Bruno Narhammer (die anderen Tänzer assistieren, gewinnen aber kein Eigenleben), und Goecke wie bei Fokine bekommt er ein großes Solo - warum die Frau nicht immer auf der Bühne ist, erschließt sich nicht, wie überhaupt der Bezug auf Fokine (von dem Goecke im Programmheft sagt, der reize ihn gar nicht, das sei eben ein Auftragswerk gewesen) sehr vage und ziemlich beliebig bleibt. Dass Goecke die Musik (an diesem Abend vom Band) um Webers Ouvertüre Der Beherrscher der Geister erweitert, ist mehr auf dem Papier als auf der Bühne eine ironische Replik auf die Spectre, wobei die Choreographie die so entstandene Spieldauer von rund 25 Minuten gut verträgt. Vielleicht sollte man den Bezug auf Fokine auch nicht überdehnen, sondern als Auslöser, als Initialzündung einer eigenständigen Choreographie betrachten. Es ist letztendlich die Energie der Tänzer und der Tänzerin, die nicht loslässt, in Verbindung mit der strengen Ästhetik des Werks, das wie eine düstere Endzeitversion von Liebe aufleuchtet. Der Grüne Tisch © The Jooss Estate: Chidozie Nzerem (Der Tod)
Ein Endzeitstück ist auch Der grüne Tisch von Kurt Jooss aus dem Jahr 1932, aber diese Verbindung muss man geradezu herbeizwingen. Keine Frage, es ist ein großes, sehenswertes Stück - allerdings erst vor weniger als zwei Jahren bereits im Rahmen des Ballettabends b.27 hier gespielt (unsere Rezension). So mitreißend Chidozie Nzerem als Tod wütet, so agil und schmierig Eric White als Schieber selbst dem Tod ausweicht, so hinreißend mit absurder Komik die Soldaten marschieren und das Militärpathos dabei clownesk unterlaufen, und so aberwitzig die Diplomaten unkenntlich hinter Masken am grünen Tisch die Welt in den Krieg stürzen - man sieht es gerne wieder, aber unter dem Aspekt der Programmplanung kommt das Wiedersehen zu früh und sieht nach einer Notlösung bei einer ansonsten ziemlich ambitionierten zweiten Saisonhälfte des Ballett am Rhein aus. Die Pianisten Christian Grifa und Wolfgang Wiechert bringen Fritz A. Cohens Musik mit der erforderlichen Abgründigkeit zum Klingen.
Die Appenzellertänze und Le Spectre de la Rose sind interessante und sehenswerte Ergänzungen des Spielplans, der Grüne Tisch ein tolles Stück aus dem Repertoire. Die Zusammenstellung ließe sich optimieren. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamAppenzellertänze
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Einstudierung
Uraufführung: 2000, Tänzerinnen und Tänzer* Besetzung der rezensierten Aufführung
Öberefahre (Almauftrieb)
I de Stobe (In der Stube)
Sappermoscht (unübersetzbar)
Burdene (Heubündel)
Log a (Schau an)
Loobe (Kuh)
S'chalted dosse (Draußen wird's kälter) Le spectre de la rose
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Einstudierung
Dramaturgie
Choreographie und Buch
Kostüme
Lichtentwurf und Masken
Licht
Einstudierung und
Choreographische Einstudierung
Klavier
Der Tod
Der Fahnenträger
Der junge Soldat
Das junge Mädchen
Die Frau
Der alte Soldat
Die alte Mutter
Der Schieber
Soldaten
Frauen
Die schwarzen Herren
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