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Die Schatten an der Wand
Von Roberto Becker
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Fotos von Monika Rittershaus Die Oper Frankfurt und ihr Intendant Bernd Loebe haben Uraufführungsehrgeiz, der über das Maß der Pflichtübung eines gut aufgestellten Hauses hinausgeht. Meistens geht das auch gut. So wie jetzt im Falle von Arnulf Herrmanns (49) mit großem Erfolg uraufgeführter, knapp zweistündiger Novität Der Mieter. In diesem Falle gehören nicht nur der Komponist und der Librettist Händl Klaus ganz oben auf die Liste mit den Autoren, sondern auch das Produktionsteam mit Regisseur Johannes Erath an der Spitze. Wie im Programmheft nachzulesen ist, haben Komponist, Texter und Regisseur im Entstehungsprozess eng zusammengearbeitet. Wenn diesmal das Musterexemplar eines Gesamtkunstwerkes zu bestaunen ist, dann ist das also kein Zufallstreffer oder Glücksfall, sondern tatsächlich Resultat eines gemeinsamen Arbeitsprozesses.
Die Geschichte, die hier als kafkaesker Thriller in Opernform gebracht wurde, geht auf den Roman Le Locataire chimérique von Roland Topor aus dem Jahre 1964 zurück, den Roman Polanski 1976 verfilmt hat. Es geht um einen Mann (in der Oper heißt er Georg), der eine Wohnung findet, deren Vormieterin Johanna sich aus dem Fenster gestürzt hat. Deutet schon die Einweisung durch die Concierge Frau Bach (eine wunderbare Wiederbegegnung mit der legendären Hanna Schwarz) und den Hauseigentümer Herrn Zenk (Alfred Reiter) in die Regeln des Hauses voller Kleinbürger, die ihre Ruhe haben wollen, so beginnt der Alptraum so richtig im Café gegenüber. Dort verweigert nämlich der Kellner (Sebastian Geyer) Georg den bestellten Kaffee und zwingt ihm stattdessen penetrant (und mit Erfolg) die Vorlieben der toten Vormieterin (Kakao und Zigaretten) auf. Als er einen Einzugs-Besuch von Freunden erhält und es dabei etwas lauter zugeht, gibt es den ersten offenen Konflikt mit dem erbosten Nachbarn (Miki Stojanov). Eingeschüchtert schickt er seine Freunde weg und versucht, keine Geräusche mehr zu machen. Der Hausverwalter "rät" ihm am Morgen danach, doch so wie seine Vormieterin Filzpantoffeln zu tragen.
Diese erzwungene und dann auch selbstverordnete Ruhe wird durch das Tropfen eines Wasserhahns sozusagen dröhnend verstärkt. Die Einspielung solcher Geräusche ist gleichsam Teil der Komposition. Sie sind mit bestechender Perfektion durch Lautsprecher im Zuschauerraum verteilt und schwappen von da aus in die Musik. So wie das Klopfen der Nachbarn an der Wand. Oder das langsame Reißen und Zerspringen von Glas. Kein Wunder, dass Georg seine tote Vormieterin "erscheint". Wie ein Schatten an der Wand. Als Bild im Spiegel. Dieses langsame Abdriften wird schon am Anfang zum Raum, wenn eine Projektion des Zimmers mit der schäbigen Tapete, den schiefen Elektroinstallationen und dem matten Spiegel über dem Waschbecken ein geisterhaftes Eigenleben beginnt. Das ist so surreal wie die Anfangsszene, bei der hinter dieser Projektion alle Bewohner des Hauses bzw. Akteure auf der Drehbühne versammelt sind. Sie stehen wie bei einem Tratsch im Treppenhaus der anderen Art hinter mehreren im Raum verteilten Treppengeländern. Es verwundert nicht, dass die Bewohner in diesem "ehrenwerten Haus" versuchen, angeführt von Frau Dorn (Judita Nagyová) und Frau Bach, mit einer Unterschriftenaktion die Mieterin Greiner (Claudia Mahnke) mit ihrer behinderten Tochter aus dem Haus zu ekeln. Hier widersetzt sich Georg dem offen vorgetragenen Druck und unterschreibt nicht. Das macht ihn selbst zum Ziel dieser Hausgemeinschaft mit Mob-Potential. Sein Widerstand nach außen bleibt nicht ohne Folgen für seinen inneren Zustand. Denn nun erscheint ihm die Frau nicht nur, er trägt auf wundersame Weise auch ihre Kleider und ist geschminkt. Als er so von den Nachbarn und den Arbeitern (die das Glasdach, in das sie gestürzt war, reparieren) entdeckt wird, eskaliert das zu einer kollektiven Verhöhnungsattacke. Sozusagen zu einem Shitstorm der alten handfesten Art. Auch die Musik verlässt in solchen Momenten den knappen und lakonischen Parlandotonfall und eskaliert zu grandiosen Orchesterpassagen, die im Fortissimo einbrechende Angst handgreiflich machen.
Johannes Erath und sein Bühnenbildner Kaspar Glarner haben für die dann folgende, sozusagen immer mehr nach innen gerichtete Verwandlung von Georg in jene Vormieterin Johanna eine faszinierende surreale Bildlösung gefunden. Georgs Zimmer ist einerseits eine Video-Projektion. Hinter der Gaze aber schwebt tatsächlich eine selbstleuchtende Zimmer-Grundfläche mit dem Waschbecken und Spiegel in einem unbestimmt dunklen Raum. Diese Fläche bewegt sich dann in die Senkrechte, so dass man Georg in der Draufsicht dabei zusieht, wie er auf den Spiegel zugeht, aus dem ihm Johanna lockend zuwinkt. In diesem Kontext muss man unwillkürlich an jenen Spiegel in Jean Cocteaus berühmtem Orpheus-Film denken, durch den er von der einen in die andere Welt wechselt. Der fabelhafte Georg Björn Bürger muss hier neben seiner stimmlichen Überzeugungskraft auch noch ein erhebliches Maß an artistischem Geschick aufbringen, damit sein (angeseilter) Ausstieg aus den Gesetzen der Schwerkraft so natürlich wirkt, als wäre es eine Filmeinspielung. Ist es an dieser zentralen Stelle aber nicht. Am Ende steht ein (in der Oper ziemlich hinausgezögerter) Sprung. Den wagt Georg als Johanna. Oder befürchtet er ihn doch nur als Traum? Wahrscheinlich ist er tatsächlich gesprungen. Auf jeden Fall ist er vorher seiner Identität beraubt und in den Wahnsinn oder zumindest in eine existenzielle Verzweiflung getrieben worden. Der Österreicher Händl Klaus hat mit seiner beachtlichen Erfahrung als Librettist (u.a. für Beat Furrers Wüstenbuch, Klaus Langs Der Einfluss des Menschen auf den Mond sowie zu Georg Friedrich Haas' Bluthaus, Thomas und Koma) aus der Romanvorlage ein Libretto gemacht, das sich mit eigenständiger poetischer Qualität auf eine exemplarische Erforschung von Grenzbereichen der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, am Ende sogar jener zwischen Leben und Tod begibt. Das ist faszinierend verwoben mit der Musik aus dem Graben und deren Übergang ins eingespielte Geräusch. Samt dessen Okkupation des Zuschauerraumes. Kongenial ist die szenische Umsetzung, einschließlich der Videoprojektionen und der subtil opulenten Kostüme, mit denen Katharina Tasch aus dem gesellschaftlichen Mikrokosmos des Hauses und seiner Mieter, den Laborversuch über die Mechanismen der Gesellschaft imaginiert. Durch all diese Elemente entsteht ein suggestiver Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Zu lang ist das nur, wenn man die Ebene der realen Banalitäten des Anfangs zum Maßstab nimmt, nicht aber, wenn man sich auf die Eigendynamik der Innenwelt einlässt.
Kazushi Ono, der von 2008 bis 2017 Generalmusikdirektor der Opéra de Lyon war, hat am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters die Komplexität der Klangwelt Herrmanns souverän im Griff und hält immer die Balance zum Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh) und dem fabelhaften Solistenensemble. Hier ragen vor allem der Bariton Björn Bürger als Georg und Anja Petersen als atemberaubend höhensichere Johanna heraus. Vor allem ihre drei "Gesänge" (die schon 2014 bei der musica viva in München uraufgeführt wurden) sind ein Kabinettstück. Neben Alfred Reiters bassfinsterem Vermieter Zenk, den beiden Tenöre Michael Porter und Theo Lebow als Georgs Freunde Körner und Krell ist natürlich die Begegnung mit Hanna Schwarz als Concierge ein besonderes Schmankerl.
Der Oper Frankfurt ist mit dieser Uraufführung ein in jeder Hinsicht überzeugender Wurf gelungen. Die Inszenierung setzt hohe Maßstäbe und sollte zugleich für andere Opernhäuser eine Aufforderung zu eigenen Anstrengungen sein, diesem Mieter ein Angebot zu machen… Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Licht
Video
Sounddesign
Einstudierung Chor
Dramaturgie
Solisten
Georg
Johanna
Herr Zenk
Frau Bach
Frau Greiner
Frau Dorn
Körner
Krell
Ingo / Kellner
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E-Mail: oper@omm.de