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Der Himmel von Oz kann warten
Von Stefan Schmöe
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Fotos © Oliver Berg, Theater Münster Joe Pitt, ein junger, im Übrigen verheirateter Mann, ruft mitten in der Nacht seine Mutter an, um mit ihr darüber zu sprechen, was ihn innerlich zerreißt: Das Bewusstsein der eigenen Homosexualität. Und deren Reaktion? "Wir vergessen dieses Telefonat." Schwul sein war im Amerika der 1980er-Jahre keine Sache, über die man in konservativen Kreisen redete. Der schwule Anwalt Roy Cohn verleugnet daher seine Homosexualität bis zum AIDS-Tod, ist gleichzeitig fanatischer Schwulenhasser - eine historische Figur, in den 1950ern als rechte Hand McCarthys und ehrgeiziger Staatsanwalt im Spionageprozess gegen Ethel und Julius Rosenberg beteiligt (der mit einem höchst umstrittenen Todesurteil endete), später Freund und Berater des aufstrebenden Immobilienmoguls (und heutigen Präsidenten) Donald Trump. Die Bedrohung durch die plötzlich auftretende AIDS-Epidemie ist der andere Pol: Der daran erkrankte Prior Walter wird von seinem Freund Louis deswegen verlassen. In seinem Anfang der 1990er-Jahre entstandenen und seinerzeit heiß diskutierten zweiteiligen Drama Angels in America hat Tony Kushner diese Schicksale kunstvoll miteinander verknüpft, teilweise in drastischer Sprache und mit bizarren Bildern. So fügt er Engel hinzu, die das Geschehen überhöhen, hart an der Grenze zur Absurdität. Am Rande einer Beerdigung (rechts im Bild) eröffnet Prior seinem Freund Louis, dass er an AIDS erkrankt ist
Natürlich gibt es Parallelen zur Gegenwart mit der antiliberalen Einstellung Donald Trumps und des konservativen Republikaner-Flügels oder hierzulande mit dem Erstarken rechter Parteien und dem Ruf nach Rückbesinnung auf den konservativen Kern in CDU und CSU. Die Situation der Schwulen - die man im Stück durchaus stellvertretend für Minderheiten überhaupt sehen kann - ist, der Ehe für alle zum Trotz, so einfach nicht. Ein Indiz dafür liefert selbst diese aktuelle Inszenierung der Opernversion durch Regisseur Carlos Wagner, der die Liebesszenen zwischen Männern äußerst dezent realisiert. Sex auf der Bühne zwischen Frau und Eisbär geht (kein Witz; Joes valiumsüchtige Frau Hannah hat ein solches Erlebnis), Sex zwischen Männern offenbar nicht - von der Liebesnacht zwischen Joe und Louis, die zum Paar werden, sieht man nur, wie sie nacheinander unbekleidet aus dem Bett steigen. Nicht einmal ein Kuss ist ihnen vergönnt in dieser ansonsten sehr genauen Inszenierung, die das provokative Potential abschwächt, als wolle es dem Publikum nicht allzu viel zumuten. Man kann das kritisieren, vielleicht ist es aber nicht falsch, um der auch in den hier gezeigten Bildern eindrucksvollen Oper einen Weg zum Stadttheater-Publikum zu bahnen. Im Krankenbett: Prior
Komponist Peter Eötvös hat ohnehin weniger die Situation der Homosexuellen oder die politische Dimension im Sinn gehabt als vielmehr das musikdramatische Potential des Stoffes insbesondere in den skurrilen Auftritten der Engel. Die Musik bindet Geräuschcollagen ein, und die durchgehende elektronische Verstärkung der Sänger schafft eine Nähe zu Musical und Show. Die Komposition selbst, die ein Orchester aus 16 Soloinstrumenten verwendet, besteht oft aus kleinen Partikeln wie Tonleiterfragmenten oder Terzrepetitionen, die zu Klangflächen montiert sind, oft dissonant und gleichzeitig mit einem archaischen Moment. Die Sänger wechseln oft zwischen Gesang und Sprache. Im Gegensatz zu vielen anderen Literaturopern gibt die Musik dem Stoff eine neue, bedeutsame Dimension, die weit über einen bloßen "Soundtrack" hinaus geht, überhöht die Thematik vom Zeitgeschichtlichen zum Universellen. Angels in America gehört sicher zum Besten, was in den vergangenen Jahren für das Musiktheater komponiert ist (uraufgeführt worden ist das Auftragswerk der Pariser Oper im Jahr 2004). Prior erscheint der Engel
Den ersten Teil erzählen Regisseur Carlos Wagner und Ausstatter Christophe Ouvrard vordergründig realistisch, wobei das dreiteilige Bühnenbild die Figuren in symbolische Räume setzt wie Fremdkörper - rechts ein menschenleeres Schnellrestaurant wie von Edward Hopper gemalt; in der Mitte ein Durchgang mit Pissoirs, über dem in teilweise defekten Leuchtbuchstaben das Wort "HEAVEN" prangt; links ein Waschsalon (das darf man wohl als Anspielung auf Stephen Friars Spielfilm Mein wunderbarer Waschsalon von 1985 verstehen, der von einer homosexuellen Liebesbeziehung erzählt). Auf Bildschirmen laufen Filme, meist über Eisbären auf Nahrungssuche. Im zweiten Teil sind die Interieurs verschwunden, in den leeren Räumen stehen Krankenbetten für die sterbenden Roy und Prior (der, so viel Happy End darf sein, letztendlich noch eine Zeit weiterleben kann), auch eines für das Liebespaar Joe und Louis. Einer der Engel, die vielleicht nur Halluzinationen sind, erscheint vor dem Fenster als Astronaut (als solcher hat man ja direkten Kontakt zum Himmel), ein anderer als Geist in einer Waschmaschine. So liegt eine skurrile Komik über der an sich tragischen Erzählung. Der wichtigste der Engel aber, koloratur- und klangprächtig gesungen von Kathrin Filip, zitiert die gute Hexe aus dem Zauberer von Oz, verspielt und ein wenig trottelig, und überhaupt ist das himmlische Personal eben diesem Musical-Film von 1939 entnommen, Vogelscheuche und Blechmann und feiger Löwe. Der Himmel ist die schöne Glitzerwelt des Showbusiness, die noch einen Propheten sucht: Den AIDS-Kranken Prior zieht es da allerdings doch zurück in die triste Realität. Der Musicalhimmel kann warten. Diskussion im Himmel - aber Prior will nicht Prophet werden.
Wie gesagt: Man kann dem vorwerfen, das alles eine Spur zu brav und zu niedlich geraten ist. Freiräume für Assoziationen bleiben gleichwohl genug, und sehr gut gerät die musikalische Seite. Die meisten Sänger bedienen gleich mehrere Rollen, wodurch Figuren auf der Bühne quasi ineinander übergehen, nicht immer ganz einfach nachvollziehbar (zumal aus urheberrechtlichen Gründen nur mit dem originalen englischen Text übertitelt werden darf). Filippo Bettoschi (u.a.) als Joe, Christian Miedl als leidender Prior, Christoph Stegemann als Roy und David Zimmer als Louis zeichnen die Rollen der vier homosexuellen Hauptfiguren darstellerisch wie sängerisch äußert nuanciert und sind durchweg gut bei Stimme. Hinzu kommen Kristi Anna Isene als Joes liebesbedürftige Frau Harper und Suzanne McLeod mit schrägen Charakterzeichnungen als Rabbi und als Joes Mutter, außerdem der klangschöne Countertenor Yosemeh Adjei in Nebenrollen. Ein sehr sauber singendes und klanglich gut austariertes Vokaltrio aus dem Off (Melanie Spitau, Barbara Bräckelmann, Frederick Schauhoff) rundet das sehr gute Ensemble ab. Das Premierenpublikum honorierte die ausgezeichnete Aufführung mit starkem Applaus.
Zwar geht Regisseur Carlos Wagner arg behutsam mit dem Stück respektive Publikum um, aber auch ohne den ursprünglichen Schockeffekt sind die Angels in America in dieser musikalisch durchweg überzeugenden Produktion ein ganz starkes Stück Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne und Kostüme
Chor
Dramaturgie
Solisten
The Angel
Harper Pitt /Ethel Rosenberg /
Hannah Pitt / Rabbi Chemelwitz /
Joseph Pitt / Ghost 2 /
Prior Walter
Louis Ironson / Angel Oceania
Belize / Mr. Lies /
Roy Cohn / Ghost 1 / Angel Australia
Sopran
Alt
Bariton
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- Fine -