Stachel im Fleisch
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
5 Jahre sind vergangen, seit Sidney Corbetts beeindruckendes
Lehrstück wider das Vergessen „Das große Heft“ nach dem Roman
von Agota Kristof im Theater Osnabrück erstmalig gezeigt
wurde. Jetzt bringt das umtriebige Theater mit „San Paolo“ ein
weiteres Werk Sidney Corbetts zur Uraufführung. Erinnert wird
in Osnabrück nicht nur an den biblischen, heiligen Paulus,
sondern - mit einem umfangreichen Rahmenprogramm - auch an den
1922 geborenen, italienischen Schriftsteller, Dichter,
Publizist und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, dessen
unverfilmtes Drehbuch „San Paolo“ die Grundlage des Librettos
von Ralf Waldschmidt ist.
Auf Paulus, ein dem Leben zugewandten orthodoxen Juden und
römischen Bürger geht die Redewendung „vom Saulus zum Paulus“
zurück. Gemeint ist eine 180°-Wandlung des späteren Apostels.
Zunächst hällt er die aufkommenden Christen für eine spalterische
Sekte, verfolgt sie und ist 36 n.Chr. an der Steinigung des hl.
Stefanus beteiligt. Auf dem Wege nach Damaskus soll ihm in der
Wüste der auferstandene Christus begegnet sein. Paulus erblindet,
wird von Anania gesund gepflegt und - von Stund an - vom Verfolger
zum charismatischen Missionar des frühen Christentums.
Timoteo und Paolo (Daniel Wagner, Jan Friedrich Eggers)
In Pasolinis, 1968 entstandenem Drehbuch, erscheint Paulus als
gespaltene, in vielerlei Hinsicht zerrissene Persönlichkeit des
20. Jahrhunderts, dem zentrale Zitate des späteren Heiligen in den
Mund gelegt werden. Ablehnung, Inspiration, mystisch wirkende
Entrücktheit, Erkenntnis, Erleuchtung gehen einher mit
krankheitsähnlichen Leiden und Vereinsamung. Revolutionäre
Äußerungen wie „zur Freiheit hat uns Christus befreit“ stehen
neben anderen Briefzitaten, die einen kühl wirkenden, die
Öffentlichkeit suchenden, doktrinär predigenden Apostel bzw.
Politiker zeigen. Zugleich thematisiert Pasolini das Leiden an der
eigenen unterdrückten Homosexualität, transferiert entscheidende
Begebenheiten des Paulus-Lebens in die Kriegs- und Nachkriegszeit
des 20. Jahrhunderts.
So findet z.B. die Steinigung des Stefanus 1941 im Paris unter
deutscher Besetzung statt. Auf seinen Missionsreisen 49 n.Chr.
gerät der Apostel im Nachkriegsdeutschland ins Gefängnis, wo sich
wundertätig die Mauern öffnen, die Gefangenen fliehen und der
Wärter bekehrt werden kann, anstatt sich das Leben zu nehmen. In
den 1960er Jahren doziert Paolo schließlich unter Hippies,
Künstlern, Schwarzen und Homosexuellen in Greenwich Village, New
York über Besonnenheit, Unbestechlichkeit und Anstand,
Bescheidenheit und Zurückhaltung.
Am Ende folgt im Libretto der Oper das abschließende Bekenntnis an
seinen Freund Timote: „Vivo, pero non piu io, ma vive in me
Christo, quanto a me ho terminato la corsa, ho mantenuto la fede.
Per il Resto“. Was man übersetzend zusammenfassen könnte mit: Ich
lebe, aber nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Nach dem
Wettlauf habe ich am Glauben festgehalten. Für immer.
Christuserscheinung (Lina Liu, Jan Friedrich Eggers, Kinderchor
des Theaters Osnabrück)
Während dieses Bekenntnisses an seinen alten Freund Timoteo, der
mittlerweile zum Bischof avanciert ist, überschneiden sich in der
Inszenierung von Alexander May die letzten Worte Paolos mit
Dokumentaraufnahmen, die Johannes XXIII. als kirchlichen
Würdenträger mit Mitra und Umhang zeigen, während er zur
Eröffnungsmesse des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 in den
Petersdom getragen wird. Hier endet die Oper ein wenig zu abrupt.
Einsam, a cappella klingt die Oper zu den Worten „per il Resto“
aus, während der Protagonist in Pasolinis Drehbuch wie Martin
Luther King 1968 in einem kleinen Hotel in Memphis ermordet wird.
Solistenensemble, Opern- und Kinderchor des Theater Osnabrück
führen unter der Leitung Daniel Inbals anschaulich das leidvolle
Schicksal Paolos vor Augen. Jan Friedrich Eggers überzeugt als
klangvoller, auch lyrische Farben findender Paolo. An seiner Seite
stellt Daniel Wagner anschaulich den angeklagten Stefano und
später Freund Timoteo dar. Grendijus Bergorulko gibt den Retter
Anania und Barnaba, Susann Vent-Wunderlich ist Giovanni, detto
Marco, der Apostel Markus. Lina Liu verkörpert die in wallende,
weiße Gewänder getauchte Christuserscheinung mit Dornenkrone.
Gefängnisszene (José Gallisa, Jan Friedrich Eggers, Daniel Wagner)
Neben einem traditionellen Orchesterinstrumentarium bestimmen
Perkussionsinstrumente wie Peitschen, also kurze,
pistolenschussähnliche Geräusche, Almglocken oder auch - an
Stockhausen-Crotales erinnernde -, kleine, antike Zymbeln das
Klanggeschehen. Unermüdlich wird Paolo von Schmerzen heimgesucht.
Harte, von Pausen durchsetzte, rhythmische Schläge vermischt mit
zarten und doch durchdringend dissonant zugespitzten, hohen
Streicherklängen rufen die Ausgangsszene der Oper, das grausame
Todesurteil des Stefanus in Erinnerung. Dabei wechseln die Farben.
Bei der Begegnung mit Freund Timoteo bspw. locken Duett, gezupfte
Harfe und kleine Melismen im Gesang, aber das bewegte, treibende
musikalische Spannungsverhältnis von Linie und Rhythmus bleibt.
Dazu zeigt Alexander May, der für die Inszenierung der
Uraufführung verantwortlich zeichnet, starre Bilder, die sich
thematisch und historisch nicht festlegen wollen und in groben
Andeutungen stecken bleiben. Zu Beginn erscheint ein alter Mann,
der sich als Hebräer aus Tarsus vorstellt und später - in
dokumentarischen Filmausschnitten - als Vater entpuppt. Die
Kostüme von Katharina Weissenborn verweisen dagegen eher ins 20.
Jahrhundert. Das Bühnenbild zeigt eine unfertige, sich im Rohbau
befindende Hauskonstruktion. Sie ist der einzige Schauplatz der
Reise. Hier findet die Anklage des Stefanus statt. Hier träumt,
halluziniert und belehrt er sein Publikum, begeistert oder stößt
auf Widerstand, begegnet seinem Freund Timoteo. Alexander May
reiht starre Bilder aneinander. Statt historischer Zuordnung dreht
sich die Bühne. Filmbilder werden eingeschoben, überblenden,
erinnern an eine ungetrübte Kindheit oder deuten Bedrohung an wie
während einer ins Kitschige gleitenden Christuserscheinung.
FAZIT
In der Verknüpfung von Religion, Gesellschaft und
Homosexualität stellen Sidney Corbett und Ralf Waldschmidt
wichtige Themen zur Diskussion.