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Die sieben Todsünden

Tanzabend von Pina Bausch

Teil I: Die sieben Todsünden

Ballett mit Gesang in sieben Bildern mit Prolog und Epilog
Text von Bertolt Brecht
Musik von Kurt Weill, Fassung für tiefe Frauenstimme, bearbeitet von Wilhelm Brückner-Rüggeberg

Teil II: Fürchtet Euch nicht

Songtexte von Bertolt Brecht
Musik von Kurt Weill
unter Verwendung von Songs aus der Dreigroschenoper, kleine Dreigroschenmusik, Happy End, Das Berliner Requiem und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Choreographie von Pina Bausch

Aufführungsdauer: ca. 2h 45' (eine Pause)

Premiere der Neueinstudierung im Opernhaus Wuppertal am 21. Januar 2018
(Uraufführung am 12. Mai 1979, Opernhaus Wuppertal)


Logo: Tanztheater Pina Bausch

Tanztheater Wuppertal
(Homepage)

Anna tanzt zum Fürchten schön

Von Stefan Schmöe / Fotos von Jochen Viehoff


Brecht'sche Dialektik ist ja eigentlich nicht die Sache von Pina Bausch gewesen. So hat sie, als sie 1976 Die sieben Todsünden der Kleinbürger (so der später von Brecht verwendete Titel) choreographierte, dem 1933 auf Anregung Kurt Weills entstandenen Gelegenheitswerk ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Brecht pervertiert in diesem Handlungsballett die sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit, in dem er etwa die Faulheit zur "Faulheit im Begehen von Unrecht" umdeutet - was im Kapitalismus, so die These, unweigerlich die Existenz gefährdet. Die "Heldin" Anna wird aufgespalten in eine Sängerin (Anna I, die kühl kalkulierende Managerin) und eine Tänzerin (Anna II, die naiv an ihr privates Glück glaubende Künstlerin, die durch ihr "unmoralisches" Handeln den Profit gefährdet). Bei Pina Bausch wird die angestaubte kapitalismuskritische Dimension ausgeblendet; vielmehr deutet die Choreographin die Rolle der Frau als eine Ware in der Männerwelt. Das legendäre Bühnenbild von Rolf Borzik zeigt den naturgetreuen Nachbau einer (Wuppertaler) Straße und verlagert das Geschehen ins unmittelbare Jetzt. Ausgeleuchtet mit großen Scheinwerfern, die auf der Bühne stehen, ist das gleich wieder verfremdet. So viel Brecht darf es dann schon sein.

Szenenfoto Die sieben Todsünden: Anna II (Stephanie Troyak)

Die aktuelle Wiederaufnahme steht ganz im Zeichen der phänomenalen jungen kanadischen Tänzerin Stephanie Troyak in der Partie der Anna II (sie tanzt die Partie alternierend mit Tsai-Chin Yu). Nicht nur die mitreißende Energie, mit der sie in jeder Bewegung die Rolle verkörpert, nimmt gefangen, da sitzt auch jede Geste und jeder Gesichtsausdruck - angefangen vom jungen, keineswegs uneitlen Backfisch, der zunächst nicht einmal ungern das knappe Röckchen beim Fotoshooting anhebt, bis zur durch vielfältige männliche Gewalt gebrochenen Frau. Sie zeigt aber auch die Ambivalenz, die den Arbeiten Pina Bauschs in der allgegenwärtigen Geschlechterproblematik innewohnt; trotz des gesellschaftskritischen Ansatzes ist Pina Bausch ja nie eine dezidiert feministische Choreographin gewesen und bleibt auch hier vielschichtig: Der Grat zwischen Liebe und sexueller Ausbeutung ist schmal, mitunter gar nicht als Trennlinie erkennbar. In dieser Ambivalenz bleiben Die sieben Todsünden ein großes, bewegendes Stück. Cora Frost als gestrenge Anna I mit hochgesteckten Haaren (wie auch die Damen des Ensembles, nur Anna II trägt das Haar offen) singt ordentlich mit kluger Textausdeutung, allerdings auch ein wenig eindimensional - allzu viel Variationsmöglichkeiten lässt die (mitunter angestrengt klingende) Stimme nicht zu. Die vom Herrenquartett (Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione, Sangmin Jeon und Simon Stricker, alle aus dem Ensemble der Wuppertaler Oper) mit stoischer Ernsthaftigkeit gesungene Familie und das unter der Leitung von Jan Michael Horstmann bravourös und durchaus "romantisch" aufspielende Sinfonieorchester Wuppertal (das auf der Hinterbühne platziert ist) liefern den passenden musikalischen Rahmen.

Szenenfoto

Die sieben Todsünden: Anna I (Cora Frost, oben) und Anna II (Stephanie Troyak)

Stärker noch als Die sieben Todsünden, die sich immerhin grob an der Vorlage orientieren und eine geschlossene Handlung nacherzählen (auch wenn Pina Bausch Brechts Anweisungen bestenfalls vage übernimmt), bricht der zweite Teil des Abends Fürchtet Euch nicht mit der Tanzkonvention, wie sie das Wuppertaler Publikum Anfang der 1970er-Jahre gewohnt war. Mit einer Folge von Songs von Kurt Weill setzt sich die musikalische Sprache des ersten Teils zwar bruchlos fort, allerdings in einer weitaus stärker collagierten, revuehaft offenen Form, der wie ein Kommentar zu den Todsünden wirkt - mit dem antibürgerlichen Tenor der Dreigroschenoper. Die Sehnsüchte gelten mehr dem verruchten Ganoven als dem braven Biedermann mit weißem Kragen. Auch die Herren tanzen dabei in Frauenkleidern, was zur Uraufführung vor 40 Jahren sicher anderes Provokationspotenzial hatte als heute, aber angesichts der aberwitzigen Frisuren immer noch ziemlich schräg wirkt. Es gibt einige umwerfende, abgründig komische Nummern, etwa das hier als Quartett vier pelzbemantelter Diven gestaltete Eifersuchtsduett (hier sind es die ganz wunderbaren dienstältesten Tänzerinnen des Abends) oder dem vom Ensemble ohne Begleitung gesungenen Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens aus eben der Dreigroschenoper, bei dem die Tänzerinnen und Tänzer sich fast bedrohlich herantasten an die Rampe und das Publikum.

Szenenfoto Fürchtet Euch nicht: Ensemble, angeführt von Josephine Ann Endicott

Im Kontrast dazu steht das aufreizend sentimentale "Fürchte Dich nicht!" aus dem Musical Happy End: "Fürchte dich nicht! /Sitzest du auch im Sündenpfuhl / Gottes Arm verlässt dich nicht / Er setzt dich auf den goldenen Stuhl! / Fürchte dich nicht!" Mehr angedeutet als gesungen (Jürgen Hartmann übertreibt es in Richtung des bloßen Andeutens), sind sie dem einzigen "echten" Mann (soll heißen: in Männerkleidung, nämlich Anzug) in den Mund gelegt, der sich unentwegt um eine Tänzerin bemüht - was mangels Erfolg schließlich in einer Vergewaltigung endet. Ob Ditta Miranda Jasjfi die passende Besetzung für diese Partie ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Die aus Indonesien stammende, sehr kleine und an sich ja ganz großartige Tänzerin wirkt in diesen Szenen sehr kindlich, was sicher intendiert ist, aber im heutigen Kontext derart eindeutig die Assoziationen in Richtung Kinderpornographie und Pädophilie lenkt, dass den Szenen alle Ambivalenz, siehe oben, genommen wird.

Szenenfoto

Fürchtet Euch nicht: Josephine Ann Endicott und Nazareth Panadero

Einstudiert haben diese Wiederaufnahme Josephine Ann Endicott, bis Mitte der 1980er-Jahre der Star des Wuppertaler Tanztheaters (bei der Uraufführung 1976 tanzte sie die Anna I), und Julie Shanahan, ihre Nachfolgerin in der Rolle der ungekrönten Primadonna. Josephine Ann Endicott, Jahrgang 1950 (in anderen Berufen ist man in diesem Alter längst in Pension), steht an diesem Premierenabend auch selbst auf der Bühne und führt mit unverwechselbarem Charisma wie bestechender Agilität in Fürchtet Euch nicht das verjüngte Ensemble an, das sich in tänzerisch exzellenter Verfassung präsentiert - und es wird viel und hinreißend getanzt in diesem frühen Bausch-Tanzabend. Neben der schon erwähnten Cora Frost singen Therese Dörr und die Wuppertaler Schauspielerin Ingeborg Wolff, nicht schlecht, aber das unverwechselbare Charisma einer Mechthild Grossmann fehlt doch ein wenig. Neben dem Sinfonieorchester spielt Maki Hayashida am Klavier souverän auf; Gitarrist Jan Kazda begleitet die rätselhafte "Ballade vom ertrunkenen Mädchen" aus dem Berliner Requiem ("… als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war, geschah es, sehr langsam, dass Gott sie allmählich vergaß") - ein böser, pessimistischer Akzent, der in die allgegenwärtige Dreigroschenmusik hinein nachhallt. Einst bedeutete das am Tanztheater Wuppertal Skandal. Heute, 41 Jahre nach der Uraufführung der Choreographie, sorgt es für stehende Ovationen.


FAZIT

Ein berührender, tänzerisch großartiger Abend sind Die sieben Todsünden auch heute. Und mit Stephanie Troyak präsentiert das Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch eine junge Tänzerin, der man nach diesem grandiosen Auftritt glatt zutraut, es mit der "alten Garde" aufzunehmen.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Jan Michael Horstmann

Inszenierung und Choreographie
Pina Bausch

Bühne und Kostüme
Rolf Borzik

Mitarbeit
Hans Pop

Probenleitung der Neueinstudierung
Josephine Ann Endicott
Julie Shanahan

Intendanz und
künstlerische Leitung
Adolphe Binder

Assistenz Probenleitung
Bénédicte Billiet

Assistenz Kostüme
Nayoung Kim


Herren des Opernchors der Wuppertaler Bühnen

Sinfonieorchester Wuppertal


Solisten

* Besetzung der rezensierten Vorstellung

Anna I
Cora Frost

Anna II
* Stephanie Troyak /
Tsai-Chin Yu

Die Familie
Mark Bowman-Hester
Sangmin Jeon
Sebastian Campione
Simon Stricker

Schauspielerinnen und Schauspieler
Therese Dörr
Cora Frost
Jürgen Hartmann
Ingeborg Wolff

Tänzerinnen und Tänzer
Emma Barrowman
Andrey Berezin
Michael Carter
Çağdaş Ermis
Jonathan Fredrickson
Ditta Miranda Jasjfi
Milan Kampfer
Daphnis Kokkinos
Douglas Letheren
Eddie Martinez
Blanca Noguerol Ramírez
Breanna O'Mara
Nazareth Panadero
Helena Pikon
Franko Schmidt
Azusa Seyama
Ekaterina Shushakova
Julie Anne Stanzak
Oleg Stepanov
Julian Stierle
Michael Strecker
Fernando Suels Mendoza
Tsai-Wei Tien
Ophelia Young
Stephanie Troyak
Tsai-Chin Yu



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal Pina Bausch
(Homepage)




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