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Musiktheater
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Neues Stück II

Kreation von Alan Lucien Øyen
Musik von John Adams, Bersarin Quartett, Joep Beving, Jon Brion, Casa Loma Orchestra, Nat King Cole, Nils Frahm, Carlos Gardel, Goldmund, Billie Holiday, John Hopkins, Gunnar Innvær, Alex Kozobolis, Abel Korzeniowski, Barbara Lewis, Lights & Motion, Henry Mancini, Cliff Martinez, Brian McBride, Slow Meadow, Agnes Obel, Jocely Pook, Trent Reznor, Terry Riley & Kronos Quartet, Dustin O'Halloran, Peter Sandberg, Otto Totland und Tom Waits

Aufführungsdauer: ca. 3h 30' (eine Pause)

Koproduktion mit dem Théâtre de la Ville Paris / Chaillot-Théâtre national de la Danse, Paris; Sadler's Well, London; Norwegian National Ballet, Oslo

Uraufführung im Opernhaus Wuppertal am 2. Juni 2018

 



Tanztheater Wuppertal
(Homepage)

Geschichten vom Verlust

Von Thomas Molke / Fotos: © Mats Bäcker und Uwe Schinkel

Nachdem das Tanztheater Pina Bausch fast neun Jahre lang nach dem Tod seiner Gründerin am 12. Juni 2009 in Gastspielen auf der ganzen Welt und im Stammhaus in der Wuppertaler Oper mit großem Erfolg Repertoirepflege betrieben und die alten Stück wieder neu einstudiert hat - ein einmaliger Versuch mit drei neuen Choreographien im Jahr 2015 sei hierbei unberücksichtigt (siehe auch unsere Rezension) -, schlägt Adolphe Binder, die mit Beginn dieser Spielzeit als Intendantin die künstlerische Leitung des Tanztheaters Wuppertal übernommen hat, in der mittlerweile 44. Saison eine neue Richtung ein, und stellt innerhalb von gut drei Wochen direkt zwei abendfüllende Uraufführungen transdisziplinär arbeitender internationaler Gastchoreographen auf den Spielplan, die das Repertoire, das natürlich weiterhin gepflegt werden soll, ergänzen. Den Anfang machte am 12. Mai der griechische Choreograph Dimitris Papaioannou mit einem Stück, das bei der Uraufführung sogar schon einen Titel hatte: Seit sie (siehe auch unsere Rezension). Nun folgt der norwegische Choreograph Alan Lucien Øyen mit einer Kreation, die wie zahlreiche Stücke von Pina Bausch bei der Uraufführung noch keinen Titel hat, sondern lediglich Neues Stück II genannt wird.

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Moment der Trauer: von links: Jonathan Fredrickson, Emma Barrowman, Rainer Behr, Julie Shanahan, Douglas Letheren, Pau Aran Gimeno, Regina Advento und Nazareth Panadero (© Mats Bäcker)

Øyen, der 2001 seine Tanzausbildung abschloss und einige Jahre als Tänzer bei der Norwegian National Company of Contemporary Dance, Carte Blanche, verbrachte, arbeitet seitdem nicht nur als Choreograph, sondern ist auch als Regisseur und Dramatiker tätig und erkundet in seiner Arbeit Grenzen und Zwischenräume im Zusammenspiel von Tanz, Theater, Text und Film. 2004 choreographierte Øyen sein erstes Stück Excerpts of citation without context, ein Solo, das auf Jean Baudrillards Essay Écran Total basiert und die Informationsüberflutung in unserer heutigen modernen Gesellschaft thematisiert. Zwei Jahre später gründete er seine eigene Tanzkompanie "Winter Guests", ein Ensemble aus Schauspielern und Tänzern, mit dem er seitdem auf der ganzen Welt Erfolge feiert und bereits mehrere Auszeichnungen erhalten hat. Mit 16 Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet er nun für das Tanztheater Wuppertal ein Stück, das von Begegnungen und Geschichten der Darstellerinnen und Darsteller ausgeht. Dabei spielt der Tanz eher eine untergeordnete Rolle, und der gesprochene Text - meist in Englisch, manchmal auch in Deutsch - steht im Zentrum. Die Tänzerinnen und Tänzer werden zwar mit Mikroports unterstützt, aber dennoch bleiben einige gesprochene Passagen sehr unverständlich, so dass es bisweilen schwierig ist, den einzelnen Geschichten zu folgen.

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Nazareth Panadero (Mitte) erzählt aus ihrer Kindheit (hinten von links: Tsai-Chin Yu und Aida Vainieri, vorne: Jonathan Fredrickson), (© Uwe Schinkel)

Auch die Musik tritt an diesem Abend eher in den Hintergrund und übernimmt nur die Funktion einer leisen melancholischen Untermalung der Geschichten, die allesamt um das Thema Tod und Verlust kreisen. Den Anfang machen Helena Pikon und Andrey Berezin. Berezin übernimmt die Rolle eines Beamten, der die Geschichte, die Pikon ihm erzählt, protokolliert. Pikon erzählt von ihrem Bruder Jean-Jacques, der in der Türkei gestorben ist. Dabei werden einzelne Sequenzen der Erzählung von anderen Tänzerinnen und Tänzern in einem Bühnenbild nachgespielt, das ständig in Bewegung ist. Bühnenbildner Alex Eales hat mehrere drehbare Bühnenelemente entworfen, die den Raum sehr schnell verändern und immer wieder neue Szenen schaffen. Es folgt eine Sequenz in einem Beerdigungsinstitut. Nayoung Kim will ihren verstorbenen Vater beisetzen lassen und wird dabei mit einer schon makabren Bürokratie konfrontiert, wenn ihr mitgeteilt wird, dass sie sich um die Grabstelle viel zu spät kümmere. Bitter ist auch der Vergleich mit dem Tisch im beliebten Restaurant, den man ja ebenfalls nicht erst kurz vor dem Essen bestelle. So geht eine Szene in die nächste über, wobei eine sehr bedrückte, melancholische Stimmung vorherrscht, die man in ähnlicher Form zwar auch aus Pina Bauschs früheren Stücken kennt, die aber nur selten durch skurril komische Momente unterbrochen wird. Dabei machen die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder deutlich, dass genau das die Sprache ist, die sie perfekt beherrschen. Wenn Nazareth Panadero vor der Vorstellung das Publikum darauf hinweist, dass Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung verboten sind, entfaltet sie dabei den ihr ganz eigenen Humor und erntet vom Publikum freudigen Applaus.

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Julie Shanahan (Mitte) wird auf ihre Szene vorbereitet (von links: Regina Advento, Jonathan Fredrickson, Rainer Behr, Stephanie Troyak, Emma Barrowman, Tsai-Chin Yu und Çağdaş Ermis). (© Mats Bäcker)

Die melancholischen Sequenzen werden bisweilen durch modernen Ausdruckstanz untermalt und spiegeln in gewisser Weise die von den Erzählenden empfundenen Emotionen. Selten stehen sie dabei jedoch für sich wie beispielsweise ein kurzes Pas de deux zwischen Stephanie Troyak und Çağdaş Ermis, in dem die beiden jedoch nicht zueinander finden, sondern von ihrer Umwelt voneinander getrennt werden. Eine weitere eindrucksvolle Sequenz gelingt Douglas Letheren und Jonathan Fredrickson in einer Art Pas de deux, das erst kämpferisch beginnt und dann in ein vertrautes Zusammenspiel übergeht. Vorher hat das Ensemble mit dem Publikum "Hangman" gespielt, und das Wort "Douglas" raten lassen. Fredrickson scheint nun im Anschluss Letheren "hängen" zu wollen. Er bedrängt ihn zunächst und spricht mit ihm über den Tod des Vaters. Erst allmählich wird aus diesem angedeuteten Kampf zur Musik ein harmonisch wirkendes Spiel. Eine vergleichbare Szene haben Rainer Behr und Andrey Berezin. Berezin legt eine Platte von Nat King Cole auf und geht zur Musik freundschaftlich auf Behr zu, um ihn dann recht unangenehm durchzukitzeln. Behr versucht ständig, diesen Annäherungen zu entkommen. Das sind die Momente, in denen Pina Bauschs Stil ebenso durchblitzt wie in der Szene, in der Julie Shanahan einen Koffer öffnet, aus dem ihr ein stürmischer Wind entgegenweht.

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Pau Aran Gimeno filmt Helena Pikon (hinten) (vorne rechts: Julie Shanahan). (© Mats Bäcker)

Eindrucksvoll gelingt auch eine Sequenz zwischen Aida Vainieri und Stephanie Troyak. Vainieri liegt als sterbende Frau im Bett und nimmt mit bewegenden Worten von ihrer Tochter oder Enkeltochter Abschied. Dabei gibt sie sich betont entspannt, um der jungen Frau die Angst vor dem Tod zu nehmen. Diese gespielte Leichtigkeit wird von Vainieri großartig umgesetzt. Im Vorzimmer wartet das Ensemble als Rest der Familie, um von Troyak die Information zu bekommen, dass die Mutter / Großmutter jetzt gestorben sei. Julie Shanahan inszeniert einen Selbstmord, indem die anderen Tänzerinnen und Tänzer wie ein Filmteam ein Set um sie aufbauen. Dann setzt sie den Revolver an die Schläfe. Rainer Behr haut mit einem Schuh auf den Tisch, was den Knall des Revolvers simulieren soll. Auch in weiteren Sequenzen werden immer wieder cineastische Momente mit Kamera einbezogen. So sind die einzelnen Szenen vor der Pause für sich gesehen relativ eindrucksvoll gestaltet, in der Masse aber einfach zu viel, so dass Längen entstehen. Auch nach der Pause ändert sich nicht allzu viel am Stil. Hervorzuheben sind einige Ensembles, in denen sich die in einem engen Pulk aufgestellten Tänzerinnen und Tänzer einen Weg durch die Menge von vorne nach hinten bahnen. Auch die Szene, in der Regina Advento im roten Abendkleid mit schöner Stimme zu einem Jazz-Song ansetzt und das Ensemble in schicker Abendgarderobe dazu tanzt, gehört zu den abwechslungsreichen Momenten nach der Pause. Aber ansonsten bleibt das Stück einfach zu lang. Da mag eine Szene zwischen Rainer Behr und Tsai-Chin Yu einem Großteil des Publikums aus der Seele sprechen, wenn sie in einer Endlosschleife mit zahlreichen Variationen kundtun, dass sie müde seien und nicht mehr können.

Das Publikum zeigt sich trotz der Längen begeistert und spendet nach gut dreieinhalb Stunden frenetischen Applaus für alle Beteiligten.

FAZIT

Øyen entwickelt in seiner Kreation zahlreiche gute Ideen, die in dem ständig beweglichen Bühnenbild von Alex Eales melancholisch bewegende Geschichten erzählen. Insgesamt hat der Abend allerdings Längen.

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Produktionsteam

Regie und Choreographie
Alan Lucien Øyen

Bühne
Alex Eales

Kostüme
Stine Sjøgren

Künstlerische Zusammenarbeit
Daniel Proietto
Andrew Wale

Licht Design
Martin Flack

Sound Design
Gunnar Invær


Solisten

Regina Advento
Pau Aran Gimeno
Emma Barrowman
Rainer Behr
Andrey Berezin
Çağdaş Ermis
Jonathan Fredrickson
Nayoung Kim
Douglas Letheren
Eddie Martinez
Nazareth Panadero
Helena Pikon
Julie Shanahan
Stephanie Troyak
Aida Vainieri
Tsai-Chin Yu


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal
(Homepage)




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