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Die Mathematik des Tanzes
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Es ist ein Tanzabend, der ganz dem amerikanischen modern dance gewidmet ist. Programmatisch versucht Ballettchef Martin Schläpfer damit einmal mehr den Spagat zwischen Uraufführungen und Werken des Repertoires, die Entwicklungen aufzeigen und im besten Fall deutlich machen, auf welchen Säulen Schläpfers Arbeiten basieren. Jetzt also die Amerikaner, zumal in diesem Jahr der 100. Geburtstag von Merce Cunningham, Ikone nicht nur des amerikanischen Tanzes, gefeiert wird. Dass der aktuelle Ballettabend b.40 mit vier Werken nur rund zwei Stunden kurz ist, darin enthalten zwei Pausen, ist gar nicht einmal ein Fehler. Schließlich wird dem Publikum einiges zugemutet - ein sommerlich leichter Saisonabschluss ist das jedenfalls nur im Schlussteil geworden.
Im Zentrum des Abends stehen zwei kurze Werke von Trisha Brown und eben Merce Cunningham. Beide verbindet nicht nur, dass sie sich lossagen von einem erzählenden und im konventionellen Sinn emotional besetzten Tanz, sondern auch, dass sie nicht einem musikalischen Impuls folgen. Cunninghams Night Wandering ist unterlegt von Klaviermusik des schwedischen Komponisten Bo Nilsson (1937 - 2018), ohne Metrum, mit wilden Intervallsprüngen und abrupten Lautstärkewechseln (aus heutiger Sicht klingt das ziemlich klischeemäßig nach "neuer Musik", die sich wunderbar parodieren lässt); aber Cunningham hat die Choreographie unabhängig von der Tonspur entwickelt, die autonom nebenher läuft. Trisha Brown hat in Locus Trio sogar gleich ganz auf Musik verzichtet. Beide Choreographen arbeiten zudem mit Zufallsprinzipien und quasimathematischen Strukturen - Cunningham in streng artifiziellem Gestus, Brown ist freien, fast alltäglichen Bewegungsfolgen, die schnell Schlagworte wie "Demokratisierung des Tanzes" provozieren, als könne plötzlich jeder so tanzen. Tatsächlich sind die einzelnen Elemente nicht mehr streng "akademisch"; aber die Komplexität der detailverliebten, in geometrischen Strukturen entwickelten Choreographie widerspricht der vermeintlichen Einfachheit prompt wieder. Den Zufall ersetzt hier ein kurzer Text mit biographischen Aussagen über Trisha Brown - die Buchstaben werden "übersetzt" in dreidimensionale Körperpositionen. In lässigen weißen Hosenanzügen wird das von Feline van Dijken, Majorlaine Laurendeau und Sonny Locsin bravourös getanzt. Locus Trio, uraufgeführt 1980, ist in seiner hochkonzentrierten Anlage eine faszinierende 10-Minuten-Miniatur über alles Wundersame, was in vermeintlicher Alltagsbewegung steckt. Alle Bewegung ist Kunst? Ja, wenn man sich ihrer Schönheit, oder vielleicht besser: Ihren Möglichkeiten an Schönheit, bewusst wird. Night Wandering © Merce Cunningham Trust: Michael Foster, Camille Andriot Nach der Stille des unbegleiteten Brown-Trios wirkt Bo Nilssons Musik zunächst wie ein leichter Schock - selbst geübte Ohren müssen sich erst einmal einhören, und wenn die Konzentration sich auf das Bühnengeschehen richtet, wird das nicht einfacher. Pianistin Alina Bercu schönt und romantisiert nichts, lädt die Musik auch nicht espressivo auf - eine nüchterne Sachwalterin. Das nach der Musik nächste Rätsel des Zwei-Personen-Stücks sind die Kostüme von Robert Rauschenberg, eine Art Pelzumhang für die Dame, ein rotes Oberteil mit Fellüberwurf für den Herrn - ästhetisch befindet sich die Kreation irgendwo zwischen dem neuesten Chick und Steinzeit-Look. Ein Mann, eine Frau: Natürlich steht die klassische Pas de deux-Situation im Raum, aber alle Konvention ist ausgeschaltet, läuft bestenfalls als Passepartout, als Assoziationsrahmen mit. Immer wieder stehen die beiden hintereinander, die Arme vorgeschoben - aber ohne den anderen wirklich zu halten. Die 1958 in Stockholm uraufgeführte Choreographie wirkt angestrengter, in der Auslotung von Raum und Bewegung mit nur zwei Personen konstruierter, weniger zugänglich als Trisha Browns spätes Gegenstück. Von allen Werken des Abends bleibt hier am stärksten der Eindruck, ein Zeitdokument des Tanzes zu sehen, das vor allem im historischen Kontext von Bedeutung ist. Gleichwohl: In den intensiven vielleicht 15 Minuten, von Wun Sze Chan und Bruno Narhammer hochkonzentriert realisiert, nähert man sich ein Stück weit dem Wesen des Tanzes wie auf einem Seziertisch.
Sehr viel einfacher hat man es mit den beiden Choreographien, die um dieses Zentrum herum angeordnet sind. Pacific von Mark Morris, 1995 am San Francisco Ballett uraufgeführt, wird zu Musik von Lou Harrison (1917 - 2003) getanzt, die bei maßvoller Modernität und neoklassizistischer rhythmischer Anlage angenehm zu hören ist und von der Choreographie unmittelbar aufgegriffen wird. Morris entwickelt extrem klare Strukturen, erst eine Gruppe von drei Männern, dann ein Paar, schließlich eine weitere Gruppe von vier Frauen, jeweils farblich klar gekennzeichnet. Die Bewegungsfolgen sind ritualhaft, beinahe wie für mechanische Spieluhren, und jede Geste erscheint groß und gewichtig. Aus dem Stillstand skulpturaler Körperhaltungen erwachsen fast explosionsartig fließende Abläufe, oft synchron getanzt, sodass das Individuum hinter der bewusst artifiziellen, aber immer harmonischen Struktur zurücktritt. Pacific ist ein unmittelbar die Sinne ansprechendes, abstraktes Gesamtkunstwerk. Offenbach Overtures: Pedro Maricato, Vincent Hoffman
Den Abschluss bilden, passend zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach, die Offenbach Overtures von Paul Taylor, uraufgeführt 1995. Dirigent Patrick Francis Chestnut führt die Duisburger Philharmoniker schwungvoll durch die Overtüren zur Großherzogin von Gerolstein Blaubart und Die Rheinnixen sowie den American Eagle Waltz (mit Johannes Mielke an der Solotrompete). Taylor greift die satirisch-parodistische Haltung Offenbachs auf, indem er das hehre Pathos des klassischen Balletts ironisch unterläuft. Die Herren tragen lange Schnurrbärte und erinnern an Soldaten, die Damen an Varieté-Tänzerinnen der Offenbachzeit. Der heilige Ernst des großen Balletts wird immer wieder unterlaufen. Den Witz von Jerome Robbins' Ballettsatire The Concert (aufgeführt im Ballettabend b.29) erreicht Taylor aber nicht, weil er bei manchem lustigen Detail vor dem echten Slapstick zurückschreckt und eine Spur zu brav bleibt. Amüsant ist's trotzdem, und den Geist Offenbachs trifft das Werk allemal. Zudem spiegelt dieses Finale auch zurück auf die Choreographien zuvor: Wo Mark Morris, Trisha Brown und Merce Cunningham durch extreme Reduktion und Autonomie der Mittel dem tradierten Ballettbegriff entkommen, führt Taylor ihn mit Humor ad absurdum.
Ein nicht ganz einfacher, aber erhellender und aufregender Ballettabend. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamPacific
Choreographie
Kostüme
Licht
Einstudierung
Violine
Violoncello
Klavier Tänzerinnen und Tänzer*Besetzung der rezensierten Aufführung Ann-Kathrin AdamDoris Becker Rubén Cabaleiro Campo Sinthia Liz Cassie Martín Marcos Menha Chidozie Nzerem / *Tomoaki Nakanome Marié Shimada / *So-Yeon Kim Eric White Locus Trio
Choreographie, Visual Design, Kostüme
Licht
Einstudierung *Besetzung der rezensierten Aufführung
Choreographie & Design
Kostüme
Lichtdesign
Einstudierung
Klavier *Besetzung der rezensierten Aufführung
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Dirigent
Trompete *Besetzung der rezensierten Aufführung |
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