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Mit dem Schalk im Nacken choreographiert sich's besser
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Kapellmeister Wen-Pin Chien und die Duisburger Philharmoniker lassen es ordentlich krachen. Was in der knalligen Überrumpelungsakustik des Duisburger Stadttheaters bekanntlich kein Problem ist. Wirkungsvoll aber ist es schon, wie sie Rachmaninows erste Symphonie, im Konzertsaal eigentlich nie zu hören, mit angemessenem Pathos und tollen Effekten zu Gehör bringen. Remus Şucheană, Ballettchef und Choreograph dieses ersten Teils des Ballettabends b.38, hört in dieser Musik eine Kriegsgeschichte heraus, was sich an der Komposition selbst allerdings kaum plausibel festmachen lässt. Wie Şucheană die Musik mit vergleichsweise konventionellen Mitteln tänzerisch umsetzt, Auf- und Abtritte bewältigt, Impulse aufnimmt, das ist schon recht eindrucksvoll. Dazu gibt es ein fantastisches Bühnenbild (Ausstattung: Darko Petrovic), eine gewaltige Mauer, die raffiniert ausgeleuchtet wird und dabei geheimnisvoll zu leuchten scheint. Soweit eine spannende Choreographie, die hier unter dem Titel Sinfonie Nr. 1 uraufgeführt wird. Aber die Geschichte? Gegen gute Geschichten ist ja nichts einzuwenden. Aber ist das hier wirklich eine gute?
Zwei junge Männer in Zivil (wir befinden uns offenbar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts), später zwei junge Frauen - das ist ein passabler, wenn auch nicht sehr origineller Beginn einer Geschichte. Die Männer werden offenbar rekrutiert, und beim Militär handelt sich Şucheană doch manche Schwierigkeit ein: In Uniform tanzt es sich schlecht, weil man da eher den denkbar untänzerischen Stechschritt erwartet. Wenn weibliche Soldaten im Uniformkleid herumwirbeln, sieht das ein wenig komisch aus. Die Abgründigkeit, mit der Kurt Jooss in Der grüne Tisch (den das Ballett am Rhein ja auch im Repertoire hat) das Militär 1932 überzeichnet hat, erreicht Şucheană nicht annähernd. Dann gibt es eine schöne Szene, in der eine junge Frau (ungewöhnlich sanft: Marlúcia do Amaral) mit einem Soldaten (grandios: Chidozie Nzerem) anbändelt, was ziemlich erotisch endet, wobei ein anderer Soldat betroffen zuschaut. Irgendwann rauschen die Soldaten durch eine Gruppe Zivilisten, und die fallen um. Im Schlussbild steht die Compagnie vor der Mauer und wird ganz eindrucksvoll in den Unterboden gefahren. Alles ganz hübsch, aber warum soll diese Geschichte erzählt werden? Sicher, Krieg ist schlimm (andererseits: So elegant getanzt ist er ja auch wieder ganz schön). Der Rückzug ins Handlungsballett hat hier reichlich behäbige Züge. One Flat Thing, reproduced: Ensemble Man darf munter spekulieren, ob Remus Şucheană (offizieller Titel: Balletdirektor) oder Martin Schläpfer (offizieller Titel: Chefchoreograph & Künstlerischer Direktor) für die Programmplanung zuständig war, die Şucheanăs Choreographie binnen Sekunden ziemlich alt aussehen lässt: William Forsithes im Jahr 2000 in Frankfurt uraufgeführtes Werk mit dem unsinnigen Titel One flat thing, reproduced wirkt vom ersten Moment an ungleich frischer und vitaler als die brave Sinfonie Nr. 1. Die Compagnie schiebt lautstark 20 Tische an die Rampe, geometrisch streng geordnet, und das ist ein Energiepuls, der es in sich hat. Wo Tische stehen, lässt sich nicht tanzen - denkt man, aber auf, unter und zwischen diesen Tischen entwickelt sich eine ausgesprochen temporeiche Choreographie voller Witz im Detail (da merkt man, wie sehr eben dieser Witz Şucheană fehlt). Zu einer im Wesentlichen aus Geräuschen bestehenden Toncollage von Thom Willems spult das Ensemble sehr virtuos eine Bewegungsfolge ab, als handle es sich um eine komplexe Maschine, bei der ein Zahnrad in das andere greift. Keine Handlung, keine Musik im konventionellen Sinne, aber eine immer wieder verblüffende Vielfalt an Bewegungen, die sich zwangsläufig voneinander ergeben. 20 Minuten Staunen, bei dem die burschikose Cassie Martin heraussticht - vermutlich, weil sie als einzige im gestreiften Shirt der Blickfänger ist in einem Ensemble, das in bunter Freizeitkleidung durchweg bravourös tanzt.
Merkwürdigerweise sind die Ulenspiegeltänze von Chefchoreograph Martin Schläpfer das am wenigsten genau getanzte Stück des Abends, allerdings auch das komplexeste. Die Figur des Till Eulenspiegel (die Schläpfer 1980 in einer Choreographie von Heinz Spoerli zur Musik von Richard Strauss mit großem Erfolg getanzt hat) stand Pate, tritt aber als Figur nicht auf - dem Titel zum Trotz ist dies kein Handlungsballett. Wie in Prokowjews leidlich neoklassizistischer 7. Symphonie, bei der man auch nie ganz genau weiß, woran man ist, interessiert sich Schläpfer für das Doppelbödige, den abrupten Wechsel. Leider halten die Duisburger Philharmoniker das hohe Niveau des ersten Teils nicht ganz, sondern verwackeln zu viele Einsätze, und ein wenig hintergründiger ließe sich die Symphonie wohl auch interpretieren. Schläpfer aber springt virtuos zwischen akademischem Tanz und absurden Bewegungsfolgen hin und her, dass es eine Freude ist. Till - seit Erscheinen des Romans von Daniel Kehlmann schreibt man vielleicht besser Tyll - tritt nie auf, ist aber allgegenwärtig. Ulenspiegeltänze: Yuko Kato
Angesichts dieser vor Einfällen nur so sprudelnden Choreographie, bei der Feline Van Dijken mit einem bravourös getanzten Solo die Hauptpartie übernimmt, hat Ausstatter Keso Dekker wohl doch etwas zu viel gewollt. Das Bühnenbild mit etlichen Schnüren, die vom Bühnenhimmel herabhängen und teilweise wie ein Vorhang zu den Seiten gerafft sind, ist ähnlich faszinierend wie die hautengen Kostüme in verschwimmenden graublauen Farben - nichts ist wirklich greifbar, alles verschwimmt. Die Videoprojektionen allerdings sind oft zu viel des Guten, weil sie unnötig ablenken. Eine Eule (Eulenspiegel!) ist ja noch ganz lustig, etliche Eulenaugen sind schon eher nervig, ein Kronleuchter als Verweis auf die Balletttradition mit den üblichen Divertissements im Ballsaal ebenso belehrend wie das plötzliche Auftauchen Stalins hinter einer Sonnenfinsternis, auch wenn das für die Biographie des Komponisten von Bedeutung ist. Aber das sind Schönheitsfehler. Als assoziationsreiches Abbild einer Welt, die nicht so genau weiß, wo sie steht, sind die Ulenspiegeltänze großes Tanztheater.
Eine hübsche und ziemlich brave, eine virtuos durchorganisierte und eine ungemein vielschichtige Choreographie, davon zwei als Uraufführung - b.38 ist ein bemerkenswerter Abend. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamSinfonie Nr. 1
Choreographie
Musikalische Leitung
Bühne und Kostüme
Licht Tänzerinnen und TänzerAnn-Kathrin AdamMarlúcia do Amaral Wun Sze Chan Sonia Dvořák Eleanor Freeman So-Yeon Kim Helen Clare Kinney Marjolaine Laurendeau Sinthia Liz Aleksandra Liashenko Brice Asnar Rubén Cabaleiro Campo Michael Foster Filipe Frederico Philip Handschin Tomoaki Nakanome Chidozie Nzerem Boris Randzio Arthur Stashak Eric White One Flat Thing, reproduced
Choreographie
Musik / Toncollage
Bühne und Licht
Kostüme
Einstudierung Uraufführung: 2.2.2000, Ballett Frankfurt Tänzerinnen und TänzerDoris BeckerWun Sze Chan Sonia Dvořák Aleksandra Liashenko Cassie Martín Marié Shimada Rashaen Arts Yoav Bosidan Orazio di Bella Philip Handschin Vincent Hoffman Pedro Maricato Bruno Narnhammer Alexandre Simões Daniel Vizcayo Ulenspiegeltänze
Choreographie
Musikalische Leitung
Bühne, Kostüme, Video
Videoschnitt
Licht Tänzerinnen und TänzerDoris BeckerFeline van Dijken Alexandra Inculet Yuko Kato So-Yeon Kim Cassie Martín Asuka Morgenstern Virginia Segarra Vidal Marié Shimada Brice Asnar Yoav Bosidan Rubén Cabaleiro Campo Orazio di Bella Vincent Hoffman Sonny Locsin Pedro Maricato Daniel Smith Daniel Vizcayo Eric White
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