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Onegin

Ballett in drei Akten von John Cranko nach Alexander Puschkin
Musik von Piotr Iljitsch Tschaikowski, arrangiert von Kurt-Heinz Stolze

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (zwei Pausen)

Premiere im Aalto-Theater Essen am 10. November 2018




Theater Essen
(Homepage)
"Lyrische Szenen" auf Spitze

Von Thomas Molke / Fotos von Bettina Stöß

Mit Piotr Iljitsch Tschaikowski verbindet man im Ballett vor allem die drei großen Klassiker Schwanensee, Der Nussknacker und Dornröschen. Doch John Cranko, der legendäre Choreograph und Direktor des Stuttgarter Balletts, der die Compagnie Ende der 1960er Jahre zu Weltruhm geführt hat, hat einen "Klassiker" geschaffen, der auf Tschaikowskis berühmteste Oper zurückgreift und als eine der wenigen "modernen Choreographien" einen festen Platz im Ballettrepertoire gefunden hat: Onegin. Schon als er für eine Londoner Neuinszenierung der Oper Eugen Onegin unter George Devine 1952 die Tanzszenen choreographierte, soll er über eine Ballettversion dieses Stoffes nachgedacht haben. Doch realisieren konnte er diesen Plan erst 1965, als er bereits seit vier Jahren Ballettdirektor in Stuttgart war und die Compagnie mit seiner Inszenierung von Prokofiews Romeo und Julia ins internationale Rampenlicht gerückt hatte. Dabei kam die Uraufführungspremiere lediglich beim Stuttgarter Publikum gut an, wurde von der Presse jedoch fast ausnahmslos verrissen. 1967 überarbeitete er seine Inszenierung, strich einige Szenen ganz und brachte das Stück in die Form, in der es nach einem erfolgreichen Gastspiel 1969 in New York Weltruhm erlangen sollte. Nun haben der langjährige Ballettintendant in Stuttgart, Reid Anderson, als Supervisor und die beiden ehemaligen Tänzer Agneta und Victor Valcu diesen Klassiker mit dem Aalto Ballett Essen neu einstudiert.

Obwohl das Ballett den "lyrischen Szenen" Tschaikowskis nach Alexander Puschkins gleichnamigem Versroman im Aufbau ziemlich exakt folgt, wird keine Musik aus Tschaikowski Oper Eugen Onegin verwendet. Stattdessen hat Kurt-Heinz Stolze die Musik aus mehreren wenig bekannten Werken Tschaikowskis zusammengestellt und teilweise auch neu instrumentiert, um die einzelnen musikalischen Nummern in einen Fluss zu bringen, der vom Prinzip des klassischen "Nummern-Balletts" abweicht. Einige Themen erscheinen dabei leitmotivisch als Charakter für die Hauptfiguren, werden bei ihrer Wiederholung aber je nach Entwicklung der Figur harmonisch und rhythmisch verändert. Etwa drei Viertel der Ballettmusik sind dabei Tschaikowskis Klavierkompositionen, vor allem dem Klavierzyklus Die Jahreszeiten op. 37, entnommen, um die russische Seele auf dem Land und in der Stadt einzufangen. Hinzu kommen einzelne Auszüge aus der Oper Oxanas Launen, die in Deutschland auch unter dem Titel Pantöffelchen bekannt ist und aus der Stolze zwei Arien, einen Chor und einige Instrumentalnummern bearbeitet hat. Für das große Pas de deux im ersten Akt zwischen Tatjana und Onegin verwendet er ein Duett aus der Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia und für das Pas de deux im dritten Akt den Mittelsatz der sinfonischen Dichtung Francesca da Rimini. Der größte Unterschied zu den klassischen Handlungsballetten von Tschaikowski besteht darin, dass es keinerlei Divertissements gibt und der Tanz in jedem Moment im Dienst der Handlung steht.

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Noch ist ihre Welt in Ordnung: Olga (Yanelis Rodriguez) und Lenski (Davit Jeyranyan) bei einem ausgelassenen Pas de deux.

Anderson und Agneta und Victor Valcu, die Crankos Ballett seit vielen Jahren mit zahlreichen Compagnien auf der ganzen Welt einstudieren, achten stets darauf, dass die Choreographie in ihrem Kern erhalten bleibt und nicht, wie es bisweilen bei Neuinszenierungen von Tschaikowskis Schwanensee zu erleben ist, umgedeutet und dabei leider auch häufig entstellt wird. Änderungen entstehen höchstens durch die unterschiedlichen Charaktere der Tänzerinnen und Tänzer, die die Figuren verkörpern. So hat man optisch den Eindruck, ein Ballett zu erleben, dass in dieser Inszenierung und mit diesem Bewegungsvokabular auch bereits vor 50 Jahren so getanzt worden ist. Das Bühnenbild und die Kostüme von Thomas Mika lassen das Publikum dabei in eine längst vergangene Zeit eintauchen und bezaubern so sehr, dass es im dritten Akt beim Öffnen des Vorhangs allein für den festlichen Prunk im Saal des Fürsten Gremin spontanen Publikumsapplaus in den musikalischen Fluss hinein gibt, bevor die Tänzerinnen und Tänzer überhaupt den ersten Schritt gemacht haben. Mika gelingt es, mit eindrucksvollen Bildern die drei Stationen der Geschichte wunderbar einzufangen. Während das Landgut der Larinas in seiner Einsamkeit im ersten Akt mit wenigen Bäumen im Hintergrund und blassen Farben eher eintönig gezeichnet wird und bei der Geburtstagsfeier auf dem Land dunkle Brauntöne überwiegen, ist Gremins Palast im dritten Akt in fürstliches Rot getaucht und verströmt mit hochragenden goldenen Säulen zaristischen Prunk. Die Duell-Szene im zweiten Akt findet dann auf einer nahezu leeren Bühne statt, in der aufsteigende Nebelschwaden und ein fahler Mond im Hintergrund die unheimliche Atmosphäre unterstreichen.

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Tatjana (Yurie Matsuura, links) und Olga (Yanelis Rodriguez, Mitte) versuchen, das Duell zwischen Lenski (Davit Jeyranyan, links) und Onegin (Liam Blair, rechts) zu verhindern.

Im ersten Akt erhalten die Tänzerinnen und Tänzer genügend Raum, die vier Hauptfiguren ausdrucksvoll zu entwickeln. Yurie Matsuura und Yanelis Rodriguez gelingt es als Schwestern Tatjana und Olga sehr gut, die unterschiedlichen Charaktere herauszuarbeiten. Rodriguez zeichnet Olga als lebensfrohes junges Mädchen mit viel Bewegung und kraftvollen Sprüngen, während Matsuura die Figur der Tatjana sehr verträumt und nachdenklich anlegt. Ständig ist sie in ihr Buch vertieft und lässt sich von Olga und deren Freundinnen, die in ausgelassenem Spitzentanz ihre Jugend feiern, kaum aus ihrer Fantasiewelt reißen. Der Auftritt von Liam Blair und Davit Jeyranyan als Onegin und Lenski verändert die ganze Situation. Jeyranyan gestaltet den Dichter Lenski als verliebten jungen Mann, der sein Glück in kraftvollen Sprüngen ausdrückt. Das Pas de deux mit Rodriguez wird von den beiden in einer Leichtigkeit gestaltet, die ihre innige Beziehung gut zum Ausdruck bringt. Blair legt den Onegin als leicht arroganten jungen Mann an, dem die Einfachheit der Gesellschaft auf dem Land zuwider ist. Zwar gibt er sich Tatjana gegenüber sehr höflich, erkennt aber in keiner Weise, welche Faszination er auf sie ausübt. In den Bewegungen zeichnet er sich durch eine fast katzenhafte Leichtigkeit aus, die zeigt, dass er sich nicht festlegen will. In Tatjanas Zimmer kommt es dann im Rahmen der großen Briefszene zu einem betörenden Pas de deux zwischen Tatjana und Onegin. Durch das Fenster sieht Tatjana den verehrten jungen Mann eintreten. Mit einer Leichtigkeit gleiten die beiden in zahlreichen Hebefiguren durch den Raum, bei denen deutlich wird, dass es sich hierbei nur um einen wunderschönen Traum handeln kann.

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Fürst Gremin (Yehor Hordiyenko, Mitte) präsentiert den Ballgästen stolz seine Frau Tatjana (Yurie Matsuura, Mitte) (hinten rechts: Onegin (Liam Blair)).

Im zweiten Akt wird dann Tatjanas Geburtstag gefeiert. Anders als in der Oper ist hier Fürst Gremin bereits anwesend und bringt seine Faszination für Tatjana zum Ausdruck. Diese nimmt sein Werben allerdings noch nicht wahr, da sich ihre Gefühle noch ganz auf Onegin konzentrieren. Bei den Tänzen zu Beginn der Feier setzt die Choreographie auf sehr komische Momente, wenn die älteren Gäste sich zum ausgelassenen Tanz zusammenfinden. Ein Onkel, der mit Tatjana ein bisschen zu heftig das Tanzbein schwingt, bekommt dabei auch einen Schwächeanfall. Großartig wird die Szene zwischen Blair und Matsuura gestaltet. Onegin muss bei dieser Feier erst den richtigen Moment abpassen, um Tatjanas Brief zu zerreißen und ihr klar zu machen, dass er ihre Gefühle nicht erwidert. Das macht er mit einer derart überheblichen Kälte, dass einem Matsuura in ihrem gebrochenen Spiel regelrecht leid tun kann. Doch Onegin hat auf dieser Feier noch nicht genug zerstört. Regelrecht grausam provoziert er seinen Freund Lenski, indem er immer wieder Olga zum Tanz auffordert und ihr scheinbar Avancen macht, so dass Lenski immer mehr verzweifelt und schließlich seinen Freund zum Duell herausfordert. Vor dem Duell treten Tatjana und Olga noch einmal auf, um Lenski zur Vernunft zu bringen, und auch Onegin versucht, sich bei seinem Freund zu entschuldigen. Doch Lenski bleibt hart und besteht auf den Schusswechsel, bei dem er tot zu Boden sinkt. Olga bricht verzweifelt zusammen, während Tatjana Onegin einen verachtenden Blick zuwirft. An dieser Stelle emanzipiert sich Matsuura von dem verträumten jungen Mädchen zu einer desillusionierten Frau.

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Aussichtsloser Kampf um eine verlorene Liebe: Onegin (Liam Blair) und Tatjana (Yurie Matsuura)

Im dritten Akt ist Tatjana auf dem Ball des Fürsten Gremin dann ganz die perfekte Dame, die die Gesellschaft entsprechend den Gepflogenheiten mit der gebührenden Ehre empfängt. Die Gruppentänze sind hier wesentlich gediegener gestaltet als in der ländlichen Atmosphäre auf dem Gut der Madame Larina. Onegin tritt als verzweifelt Umherirrender auf. Noch immer ist seine Bewegungssprache so unverbindlich wie zu Beginn des Abends. Doch als er dann erneut auf Tatjana trifft, erkennt er ihren Wandel und ist von ihr fasziniert. Verzweifelt versucht Tatjana ihren Gatten Gremin (sehr einfühlsam dargestellt von Yehor Hordiyenko) zu überreden, an diesem Abend bei ihr zu bleiben. Doch er lässt sie allein, so dass sie ohne ihn dem Treffen mit Onegin entgegentreten muss. Es entsteht ein Pas de deux, das in starkem Kontrast zu dem Traumtanz im ersten Akt steht. Immer wieder wird Matsuura bei den Hebefiguren nach unten gezogen, um anzudeuten, dass sie nicht mehr das verträumte Mädchen von damals ist. Zwar führt sie einen bewegenden inneren Kampf, weil sie ihre tiefen Gefühle für Onegin noch immer nicht leugnen kann, bleibt aber schlussendlich konsequent. Wie Onegin einst ihren Brief zerrissen hat, zerreißt sie nun auch sein Schreiben und lässt ihn verzweifelt in die Nacht hinausrennen.

Die Essener Philharmoniker begleiten unter der Leitung von Johannes Witt die Handlung mit bewegendem Spiel. Das Ballett-Ensemble begeistert in den Gruppentänzen durch bezaubernden Spitzentanz und kraftvolle Sprünge und Hebefiguren, so dass es am Ende für alle Beteiligten frenetischen Jubel und stehende Ovationen gibt.

FAZIT

Crankos Choreographie hat sich zu Recht einen festen Platz im Ballettrepertoire erworben und fasziniert auch in Essen das Publikum mit bewegendem Spitzentanz in einem eindrucksvollen Bühnenbild.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Johannes Witt

Choreographie und Inszenierung
John Cranko

Einstudierung
Victor Valcu
Agneta Valcu

Supervisor
Reid Anderson

Bühnenbild und Kostüme
Thomas Mika

Licht
Steen Bjarke

Dramaturgie
Svenja Gottsmann

 

Essener Philharmoniker


Tänzerinnen und Tänzer

*Premierenbesetzung

Onegin
*Liam Blair /
Artem Sorochan

Lenski, Onegins Freund
*Davit Jeyranyan /
Denis Untila

Madame Larina, eine Witwe
*Yulia Tsoi /
Julia Schalitz

Tatjana, Larinas Tochter
*Yurie Matsuura /
Maria Lucia Segalin

Olga, Larinas Tochter
*Yanelis Rodriguez /
Yusleimy Herrera León

Deren Amme
Annette El-Leisy

Fürst Gremin, ein Freund der Familie
*Yehor Hordiyenko /
Aidos Zakan

Verwandte, Landvolk,
Petersburger Gesellschaft
Paula Archangelo-Çakir
Vivian de Britto Schiller
Juliette Fehrenbach
Yusleimy Herrera León
Yuki Kishimoto
Larissa Machado
Ekaterina Mamrenko
Anna-Maria Papaiacovou
Amari Saotome
Julia Schalitz
Sena Shirae
Yulia Tikka
Mariya Tyurina
Marie Van Cauwenbergh
Mika Yoneyama
Benjamin Balasz
Ige Cornelis
Nwarin Gad
Armen Gevorgyan
Hendrik Hebben
Alexandre Konarev
Marius Ledwig
Moisés León Noriega
Qingbin Meng
Robin Perizonius
Wataru Shimizu
Harry Simmons
Marek Tuma
Denis Untila
Aidos Zakan




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