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Spring Awakening
(Frühlings Erwachen)

Musical in zwei Akten
Buch und Gesangstexte von Steven Sater, basierend auf dem Schauspiel von Frank Wedekind
Deutsch von Nina Schneider
Musik von Duncan Sheik

in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 20 (eine Pause)

Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück

Premiere im Theater Hagen am 15. Juni 2019
(rezensierte Aufführung: 05.07.2019)


Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Wedekinds Tragödie als Schulaufführung

Von Thomas Molke / Fotos von Klaus Lefebvre (Rechte Theater Hagen)

Seit einigen Jahren pflegt das Theater Hagen im Bereich des Musicals eine enge Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück, die seit 2009 im Institut für Musik einen vierjährigen Bachelor-Studiengang mit dem Schwerpunkt Musical anbietet. Dabei konzentriert man sich auf in Deutschland relativ unbekannte Werke, die ihre Premiere in den USA erst im 21. Jahrhundert feierten. In den vergangenen Spielzeiten konnte man mit dem Musical Avenue Q, das als eine Art "Sesamstraße für Erwachsene" bezeichnet werden kann (siehe auch unsere Rezension), und mit In den Heights von New York, das zu einem Ausflug in den von den Latein- und Afroamerikanern geprägten Stadtteil im Norden von New York City einlädt (siehe auch unsere Rezension), große Erfolge feiern. Nun widmet man sich einer Musical-Adaption von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen, das 2006, und damit 100 Jahre nach der Uraufführung von Wedekinds Kindertragödie, zur Uraufführung in der Atlantic Theatre Company gelangte und bereits im folgenden Jahr mit acht Tony Awards ausgezeichnet wurde. Die Thematik des Stückes, das Wedekind bereits 1891 verfasste und erst 15 Jahre später in einer stark zensierten Form von Max Reinhardt in den Berliner Kammerspielen erstmals auf die Bühne gebracht wurde, weil es von den Behörden als unmoralisch, ja sogar pornographisch, betrachtet wurde, hat auch heute nichts von seiner Brisanz eingebüßt. So wurde beispielsweise 2009 an einer Zürcher Kantonsschule in einem Prozess gegen einen Deutschlehrer als Anklagepunkt unter anderem angeführt, dass er im Unterricht Wedekinds Tragödie behandelt habe. Des Weiteren hat 2012 ein Schulleiter eines Gymnasiums in Neuenkirchen, das sich in katholischer Trägerschaft befindet, eine Schulaufführung der Musical-Adaption verboten.

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Zärtliche Annäherung zwischen Wendla (Isabell Fischer) und Melchior (Johann Zumbült)

Steven Sater hält sich in seinem Libretto relativ nah an Wedekinds Vorlage und siedelt die Handlung ebenfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert an, einer Zeit, in der die Aufklärung tabuisiert wurde und jugendliche Heranwachsende mit ihren pubertären Träumen, Ängsten und Nöten von den Lehrern und Eltern im Stich gelassen wurden. Für den jungen Moritz Stiefel endet diese Situation in einer Katastrophe. Hin- und hergerissen zwischen seinen erotischen Phantasien, die ihn nicht mehr schlafen lassen, und den Erwartungen, die man von Seiten der Eltern und der Schule an ihn stellt und die er nicht mehr erfüllen kann, nimmt er sich das Leben. Wendla Bergmann, der die Mutter standhaft eine Antwort auf die Frage verweigert, woher die Kinder kommen, lässt sich auf ein sexuelles Abenteuer mit dem aufrührerischen Melchior Gabor ein und stirbt bei einer von der Mutter organisierten Abtreibung. Als Melchior sich daraufhin ebenfalls umbringen will, erscheinen ihm Moritz und Wendla als Geister und geben ihm die Kraft weiterzuleben, während bei Wedekind im letzten Akt ein vermummter Mann erscheint, der verhindert, dass Moritz' Geist Melchior verführt, ihm in den Tod zu folgen. Die Liebesgeschichte zwischen Melchior und Wendla wird in dem Musical intensiver ausgebaut als in der Vorlage. Außerdem werden der Missbrauch, den die junge Martha durch ihren Vater erlebt, und die homoerotischen Gefühle zwischen den beiden Schülern Hänschen und Ernst eindeutiger formuliert, als es vor 100 Jahren in Wedekinds Stück denkbar gewesen wäre.

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Moritz Stiefel (Sebastian Jüllig) ist dem Druck nicht mehr gewachsen.

Die Musik besteht aus 21 Rock-, Pop- und Folkrock-Songs, die als eine Art Überblendung der Geschichte ins Hier und Jetzt eine nicht handlungstragende neue Dimension erschließen und in denen aus der Sicht heutiger Jugendlicher die Gefühle und Verhaltensweisen der Protagonisten reflektiert werden. Während in den Dialogen Wedekinds Sprache verwendet wird, sind die Texte in den Songs folglich dem Sprachgebrauch der Jugend des 21. Jahrhunderts nachempfunden. Bemerkenswert ist, dass die Erwachsenen in diesem Musical keine Lieder bekommen. Sie bewegen sich lediglich in einer gesellschaftlich verkrusteten Zeit und unterdrücken die Jugendlichen in ihrem Drang nach Freiheit. Das Regie-Team um Sascha Wienhausen bettet die Inszenierung in eine Schulaufführung ein. Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums versammeln sich in einer Schulaula, um Wedekinds Tragödie unter der Leitung einer Lehrerin und eines Lehrers einzustudieren. Mit den Songs stellen sie folglich die Verbindung zu den Charakteren her, die sie bei der Einstudierung des Stückes übernehmen. Zu Beginn des Stückes haben sie noch eine große Distanz zu der Geschichte und machen alberne Bemerkungen, wenn Wendla von ihrer Mutter erfahren möchte, woher die Kinder kommen, und Wendlas Mutter verzweifelt nach Ausflüchten sucht. Im weiteren Verlauf verschmelzen sie immer mehr mit den von ihnen dargestellten Figuren, so dass man keinen Unterschied mehr zwischen Rolle und Darsteller machen kann.

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Lateinunterricht im 19. Jahrhundert: von links: Lehrer (Ralf Grobel), vordere Reihe: Melchior (Johann Zumbült), Moritz (Sebastian Jüllig), Hänschen (Bosse Vogt) und Ernst (Christian Rosprim), hintere Reihe: zwei Ballett-Tänzer des Theaters Hagen, Georg (Andreas Elias Post) und Otto (Stefan Merten)

Alfred Peter hat einen großen Raum mit einer erhöhten Bühne entworfen, die durch einen Vorhang abgetrennt werden kann. Das Orchester ist hinter der Bühne positioniert, so dass der emporgefahrene Orchestergraben mitbespielt wird. Vor dem Vorhang findet die "Realität" der Schülerinnen und Schüler statt, hinter dem Vorhang schlüpfen die Jugendlichen in die Rollen des Stückes, wobei die verschiedenen Orte der gespielten Tragödie mit einfachen Mitteln eindrucksvoll dargestellt werden. Da reichen beispielsweise zwei aus dem Schnürboden herabgelassene Bäume aus Pappmaché und die Projektion eines Waldes im Hintergrund, um eine eindrucksvolle Kulisse für die knisternden Gefühle zwischen Wendla und Melchior darzustellen. Die Kostüme, für die ebenfalls Peter verantwortlich zeichnet, stellen einen deutlichen Kontrast zwischen der damaligen und der heutigen Jugend dar. So tollen die Darstellerinnen und Darsteller bereits, wenn die Zuschauer den Saal betreten, auf der Bühne herum und bereiten sich mit einem großen Kleiderständer, an dem die Kostüme für die Aufführung hängen, auf das Spiel vor. Dabei geben sie sich ausgelassen und fröhlich, wie man es vor Beginn einer Unterrichtsstunde von jungen Leuten gewohnt ist. Mit einer Kamera werden Großaufnahmen von der Darstellerin der Wendla eingefangen, die auf den Vorhang projiziert werden.

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Der Direktor (Ralf Grobel, links) und die Lehrerin (Anne Schröder) machen Melchior (Johann Zumbült, rechts) für Moritz' Selbstmord verantwortlich.

Mit großer Wandlungsfähigkeit schlüpfen Anne Schröder und Ralf Grobel in die zahlreichen Rollen der Erwachsenen und geben den unterschiedlichen Charakteren mit intensivem Spiel eine sehr individuelle Note. Grobel überzeugt dabei als autoritärer Lateinlehrer, der selbst von dem begabten Schüler Melchior keinen Widerspruch duldet und es regelrecht genießt, Moritz fertig zu machen. Noch boshafter legt er den Direktor an, der einerseits mit Schröder als devoter Lehrerin einen perfiden Plan schmiedet, den leistungsschwachen Moritz am Bestehen der Prüfung zu hindern, andererseits keine Sekunde zögert, Melchior für Moritz' Freitod verantwortlich zu machen und dabei selbst bei Melchiors zitierten Schriften kaum seine eigenen sexuellen Gelüste für die Lehrerin unterdrücken kann. Schröder stellt ihre Vielseitigkeit unter Beweis, wenn sie einerseits als Wendlas Mutter verklemmt um den heißen Brei herumredet und ihre Tochter über die wahre Herkunft der Kinder im Unklaren lässt,und andererseits als scheinbar fortschrittliche Frau Gabor den Hilferuf des jungen Moritz absichtlich überhört. Mit herrlicher Mimik karikiert sie auch die unterwürfige Lehrerin und Georgs Klavierlehrerin, die ihm mit ihrer ausladenden Oberweite die Konzentration auf die Etüden raubt.

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Homoerotische Gefühle im Schwimmbad: Ernst (Christian Rosprim, links) und Hänschen (Bosse Vogt, rechts)

Auch die Darstellerinnen und Darsteller der Jugendlichen überzeugen auf ganzer Linie und stellen die Probleme der Heranwachsenden glaubhaft und nachvollziehbar dar. Da ist zunächst Simone Schuster als Martha zu nennen, die geduldig die häusliche Gewalt ihres Vaters über sich ergehen lässt und sich mit ihrem schrecklichen Schicksal zu arrangieren scheint. Ihre Ballade "Was sich nicht erzählen lässt" gehört zu den ruhigen Songs des Abends und geht in Schusters Interpretation unter die Haut. Vera Lorenz präsentiert als aufmüpfige Ilse eine Art Gegenentwurf zu Martha, da es ihr gelungen ist, der häuslichen Gewalt zu entfliehen und nun ein "freies" Leben auf der Straße zu führen. Trotzdem gelingt es ihr nicht, Moritz von seinem Selbstmord abzuhalten. Bosse Vogt und Christian Rosprim gelingt als Hänschen und Ernst eine sehr realistische Umsetzung der homoerotischen Gefühle der beiden jungen Männer im Schwimmbad. Auch die Masturbationsszene auf der Toilette wird in leicht diffusem Licht hinter einem Gaze-Vorhang von Vogt glaubhaft umgesetzt, ohne anstößig zu wirken. Sebastian Jüllig zeichnet ein eindringliches Portrait des Moritz Stiefel, das in der Intensität unter die Haut geht. Während man bei seinem Song "So'n verficktes Leben" noch das Gefühl hat, dass Jüllig als Darsteller des Moritz noch eine gewisse Distanz zu der Figur hat, scheint er im weiteren Verlauf des Stückes immer mehr mit der Rolle zu verschmelzen, so dass man beim Selbstmord schließlich nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann. Als Geist hört man ihn am Ende auch zunächst nur aus dem Off. Isabell Fischer und Johann Zumbült präsentieren mit jugendlicher Frische die langsam aufkeimende Liebe zwischen Wendla und Melchior, die ein tragisches Ende nimmt. Dass die Songs übertitelt werden, obwohl die Solisten durch Mikroports verstärkt sind und auf Deutsch singen, ist eigentlich überflüssig, da sich der Text sehr gut verstehen lässt. Besonders eindrucksvoll gerät der Schluss, wenn der eiserne Vorhang herabgelassen wird und die Solisten zur Gitarrenbegleitung ohne Verstärkung die letzte Strophe des Schlussliedes vortragen. Da gewinnt die ganze Produktion noch einmal eine berührende Intimität. Das Publikum spendet verdienten Beifall. Schade ist nur, dass bei diesen sonnigen Temperaturen so viele Plätze im Theater frei geblieben sind.

FAZIT

Sascha Wienhausen stellt mit einem jungen Ensemble in einer packenden Inszenierung unter Beweis, welche bedrückende Aktualität immer noch in Wedekinds mittlerweile über 100 Jahre altem Text steckt.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Steffen Müller-Gabriel

Inszenierung
Sascha Wienhausen

Schauspiel-Regie
Anja Schöne

Choreographie
Michael Schmieder

Bühne und Kostüme
Alfred Peter

Licht
Hans-Joachim Köster

Dramaturgie
Rebecca Graitl

 

Ballett des Theaters Hagen

Philharmonisches Orchester Hagen
und Gäste


Solisten

*rezensierte Aufführung

Wendla Bergmann
*Isabell Fischer /
Jessica Denzer

Melchior Gabor
*Johann Zumbült /
Bosse Vogt

Moritz Stiefel
*Sebastian Jüllig /
Christian Rosprim

Hänschen / Albrecht
Bosse Vogt

Ernst / Dieter
Christian Rosprim

Otto / Rupert
Stefan Merten

Georg / Reinhold
Andreas Elias Post

Martha
*Simone Schuster /
Marlene Walker

Ilse
Vera Lorenz

Thea
Marlene Walker

Anna
Jessica Denzer

Erwachsene Frau
Anne Schröder

Erwachsener Mann
Ralf Grobel


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen
(Homepage)




Da capo al Fine

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