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Beim Kindesmissbrauch schaut die Regie wegVon Stefan Schmöe / Fotos von Bernd Uhlig
Ohren auf: So messerscharf zugespitzt hat man Peter Grimes lange nicht gehört. Das Gürzenich-Orchester präsentiert sich in Hochform, mit glasklaren Streichern und überaus präsenten Bläsern, ein unglaublich differenziertes Spektrum an Lautstärken, und immer wieder treten die Mittelstimmen hervor. Jede noch so kleine Note bekommt Bedeutung in dieser wunderbaren Partitur. Überragend auch Chor und Extrachor, sehr genau in der Intonation (was für die Klangflächen, die Britten einkomponiert hat, ausgesprochen wichtig ist) und der Artikulation, und mit vollem Klang auch im Pianissimo - das Fortissimo lässt die Mauern des altehrwürdigen Staatenhauses erzittern. Die musikalische Leitung hat ein 35-jähriger Brite, Nicholas Collon, hierzulande noch ziemlich unbekannt. In Köln trägt er seit der vergangenen Spielzeit en Titel "Erster Gastdirigent", hat an der Oper auch eine Wiederaufnahme von Don Giovanni geleitet und jetzt mit Peter Grimes die erste "eigene" Produktion - und was für einen Auftritt legt er hin! Er denkt die Musik durch und durch modern, kostet jede Dissonanz aus, lässt die Wirtshausmusik im dritten Akt sehr schräg im Geiste von Bergs Wozzeck von einer separat postierten Mini-Kapelle spielen. Gleichwohl entwickeln die elegischen Passagen, auch wenn Collon nicht "romantisch" dirigiert, ihren Zauber. Unter ihrem Chefdirigenten François-Xavier Roth hat die Kölner Oper einen hörbaren Aufschwung genommen, mit Zimmermanns Soldaten in der vorigen Spielzeit als einem Höhepunkt; aber auch wie Collon hier furios Britten zum Ereignis macht, und das mit einem ausgezeichneten Sängerensemble (dazu unten mehr), das ist ganz großes Musiktheater. Grimes und Balstrode
Für die Szene ist einer zuständig, dem Britten-Affinität quasi in die Wiege gelegt ist: Frederic Wake-Walker ist geboren in der Nähe von Aldeburgh, wo Britten lebte und das immer noch lebendige Aldeburgh Festival begründete; er hat selbst dort als Knabensopran beim Festival in Brittens Opern auf der Bühne gestanden und noch Brittens Lebensgefährten und künstlerischen Begleiter Peter Pears erlebt. Man sollte sicher nicht zwangsläufig auf eine entsprechende Prägung schließen, aber eines fällt doch auf: Eine besonders kritische Befragung der Oper findet nicht statt. Wake-Walker erzählt sehr sorgfältig die Geschichte nach, wobei er einen allzu konkreten Realismus vermeidet. Vielmehr bleibt der Rahmen abstrakt, im wirkungsvollen Bühnenbild von Anna Jones kann man gleichermaßen einen verfallenen Kirchenraum, einen Gerichtssaal, ein Revuetheater oder (dazu braucht es mehr Phantasie) eine Kneipe sehen, und die durchbrochenen Holzwände lassen an ein leck geschlagenes Schiff denken - was aber auch schon beinahe die einzigen Andeutungen auf eine irgendwie geartete Seefahrerromantik sind, und auch die vorsichtig auf die Entstehungszeit der 1945 uraufgeführten Oper verweisenden Kostüme vermeiden jeden Hinweis auf das in der Musik wie der Handlung ständig präsente Meer. Folkloristisch will die Regie überhaupt nicht sein und sich auch nicht verorten lassen, weder räumlich noch zeitlich. Allein die Jacke des Lehrjungen (der wie sein Vorgänger tragisch sterben wird) ist aus unserer Zeit - ein Hinweis auf die fortdauernde Gültigkeit? Allerdings auch ein bisschen wenig an Aktualisierung. Ellen Orford schützt den Lehrjungen vor Grimes
Wake-Walker erzählt die Geschichte eines Dorfes, das jemanden zum Außenseiter abstempelt und in den Selbstmord treibt. Um die eigentliche Problematik aber drückt er sich herum: Was ist mit den beiden Lehrjungen geschehen, die unter zweifelhaften Umständen ums Leben kamen? Grimes wird ziemlich eindimensional als Opfer gezeichnet, mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf, nicht als Täter, und der Tod des zweiten Lehrjungen am Ende des zweiten Akts (der andere ist vor Beginn der Opernhandlung auf Grimes' Schiff gestorben) findet nicht statt, jedenfalls nicht sichtbar, und es bleibt unklar, ob dem Jungen überhaupt etwas passiert. Dabei lebt nicht nur die unmittelbare Geschichte von der (nicht eindeutig geklärten) Frage, ob Grimes seine Lehrjungen misshandelt hat. Die in Brittens Opernschaffen fast allgegenwärtigen Knaben sind seit je als Andeutung auf (Brittens) Homosexualität gesehen worden, die 1945 freilich ein Tabuthema war. Das alles blendet Wake-Walker aus. In einem Interview vorab äußerte er, dieses Thema dränge sich bei Peter Grimes nicht auf. Wirklich nicht? Wohl eher geht die Regie in Deckung, wo die Oper schwierig wird. Das Dorf in kollektiver Aggression: Chor und Extrachor
Die Stärken der Inszenierung liegen in der sorgfältigen Personenzeichnung und dem genauen Hinhören auf die Musik. Die Chorszenen sind oft streng durchchoreographiert, etwa indem alle Personen synchrone Bewegungen machen. Viele Gesten sind exakt auf die Musik abgestimmt, und das macht manches musikalische Detail hörbar, das üblicherweise untergeht. In vielen Szenen baut sich erhebliche Spannung auf. Wenn in der schon erwähnten Wirtshausszene die Dorfbewohner die Geschlechter tauschen, Frauen plötzlich mit angeschnallten Penissen herumlaufen, deutet das auf verborgene sexuelle Obsessionen hin - nur fehlt der Regie mehr und mehr das Zentrum, um das sie sich bewegt. So bleibt es szenisch im Detail immer wieder mitreißend, in der Summe aber letztendlich kraftlos. Dieser Peter Grimes ist ein Hördrama. Das Ende: Grimes ertränkt sich, assistiert von Balstrode und Ellen Orford
Denn auch gesungen wird großartig. Tenor Marko Jentzsch ist ein nicht zu schwerer, auch nicht zu leichter Grimes, mit lyrischer Emphase wie dramatischer Kraft, sicherer Höhe und nuancierter Gestaltung. Kein Trotzkopf, sondern eher ein hypersensibler Einzelgänger mit autistischen Zügen. Ivana Rusko gibt der Lehrerin Ellen Orford eine strahlende, im Timbre fast gläserne Stimme und singt mit großer Emphase, neben dem Captain Balstrode die letzte Unterstützerin Grimes'. Diesen Balstrode gestaltet Robert Bork mit Riesenstimme. Gut bis sehr gut besetzt sind die vielen kleineren Partien, genannt seinen da Wolfgang Stefan Schwaiger als elegant-halbseidener Apotheker Ned Keene, Rebecca de Pont Davies als vielschichtige Mrs. Sedley, Malgorzata Walewska als resolute Wirtin und Monica Dewey und Kathrin Zukowski als betörend schön singende "Nichten" (was euphemistisch deren Betätigung als Prostituierte umschreibt).
Musikalisch ein Ereignis, bei dem die Regie notengenau mitspielt, sich aber einer eigenen Deutung des brisanten Stoffes übervorsichtig enthält. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Co-Kostümbild
Licht
Chor
Dramaturgie
SolistenPeter GrimesMarco Jentzsch
Ellen Orford
Captain Balstrode
Auntie
Erste Nichte
Zweite Nichte
Bob Boles
Swallow
Mrs. Sedley
Pastor Adams
Ned Keene
Hobson
John, Grimes' Lehrjunge
Dr. Crabbe
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